Inga Anderson: Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik
Rezensiert von Peter Schröder, 14.07.2022
Inga Anderson: Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik. Reflexionen einer Kultur des Therapeutischen.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
273 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2883-9.
D: 49,90 EUR,
A: 51,30 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Thema
Die HerausgeberInnen beginnen den Band mit dem Stichwort „Dazwischen“ und schließen damit an den Titel einer Veranstaltung an, die den ursprünglichen Impuls gab. Im Oktober 2017 fand die Tagung „Die Psyche zwischen Natur und Gesellschaft. Theorie und Praxis der Psychotherapie im Verhältnis zur Kritischen Theorie und Philosophischen Anthropologie“ an der Humboldt-Universität in Berlin statt. Das ist das eine „Dazwischen“. Das andere ist: „Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik“. Die Herausgeberin und der Herausgeber schreiben: „Wer nämlich feststellt, dass etwas zwischen zwei Dingen zu verorten sei, der erkennt es als ein zweifach bezogenes Phänomen – zweifach bezogen womöglich sogar in der Art, dass die Beziehung zum einen Pol immer in Richtung des anderen überschritten oder von diesem konfiguriert wird“ (S. 7). Es ist wie eine Pendelbewegung: Mal wird in der Beschäftigung mit Psychotherapie eher der natürliche, mal eher der gesellschaftliche Aspekt in den Vordergrund gestellt – und dementsprechend Psychotherapie eher als Naturwissenschaft oder eher als Gesellschaftskritik konzipiert. Ein „Entweder-Oder“ hätte da keinen Bestand, es braucht eine Form von „Und“. Eben dieses pendelnde „Und“ beschreiben die Beiträge dieses Buches.
Die Herausgeber
Inga Anderson ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des DLR-Projektträgers in Bonn im Bereich Bildung und Gender. Sebastian Edinger ist Mitarbeiter am Lehrstuhl Politische Philosophie/Philosophische Anthropologie der Universität Potsdam.
Aufbau und Inhalt
Den einführenden Artikel überschreiben Andersen und Edinger mit „Zwischen Klinik und Kulturkritik“. Sie beschreiben das oben benannte „Dazwischen“ verorten die einzelnen Beiträge im beschriebenen Feld. Christine Kirchhoff ist Professorin für Theoretische Psychoanalyse, Subjekt- und Kulturtheorie in Berlin. Ihr Beitrag „Psychoanalyse in Gesellschaft: als Theorie und in der Praxis“ knüpft an Adornos Einschätzung der Psychoanalyse als kritischem Konzept einerseits und therapeutischer Praxis andererseits an und fragt nach einer angemessenen psychoanalytischen Haltung zwischen Gesellschaftskritik und therapeutischer Praxis.
Christine Zunke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Forschungsstelle Kritische Naturphilosophie an der Car von Ossietzky Universität in Oldenburg. In ihrem Artikel „Die Materialisierung der Psyche“ thematisiert die „Neurophysiologie als Spiegel entfremdeter Gesellschaft“. Die beinahe inflationäre Verwendung der Vorsilbe „Neuro“ zeigt einen Trend: Viele Wissenschaften folgen einem neurowissenschaftlichen Verständnis ihres Gegenstandes, auch in der Psychotherapie gibt es eine Tendenz, den Fokus mehr auf das Gehirn statt auf die Psyche zu legen. Psychischen Zuständen werden so quasi objektive, weil neurophysiologisch determinierte Qualitäten zugeschrieben, die letztlich die Frage nach Freiheit und Verantwortlichkeit stellen.
Frank Schumann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie in Berlin. Sein Beitrag trägt die Überschrift „Sozialutopie und Therapie. Zur Vernachlässigung des therapeutischen Erfahrungsfeldes für die Kulturkritik“. Reflektiert wird die schon von Freud gesehene Verbindung von individuellem Leid und gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Je mehr der gesellschaftliche Aspekt im Vordergrund steht, desto größer ist die Gefahr, dass die klinische Perspektive geringgeschätzt wird. Schumann zeigt das am Beispiel von Konzepten der Kritischen Theorie auf.
Siegfried Zepf ist emeritierter Professor und ehemaliger Direktor des Instituts für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Unikliniken des Saarlandes.
In seinem Beitrag „Psychoanalyse, Warenanalyse und Verdinglichung“ thematisiert er den „Warencharakter“ der psychoanalytischen Praxis. Der ökonomische Aspekt des therapeutischen Handelns wird, jedenfalls in seiner Bedeutung für Psychoanalyse, von den Therapeuten selbst weithin übersehen oder verdrängt. Die scharfe Conclusio lautet: „Solange Psychoanalytiker ihre Indifferenz gegenüber dem Gebrauchswert der Psychoanalyse nicht als Konsequenz ihrer ökonomischen Situation begreifen, bleiben die Patienten … für Psychoanalytiker bloßes Material, das sie für die Realisierung des Tauschwerts ihrer Dienstleistung benötigen“ (S. 99).
Andreas Heinz ist Professor und leitet als Neurologe und Psychiater die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Sein Beitrag „Normativität und Normalisierung in der Diskussion um einen Begriff psychischer Krankheit“ fragt danach, was der Begründungszusammenhang normativer Konzepte von „Gesundheit“ ist: Steht eher die gesellschaftliche Definition von „normal“ im Vordergrund oder der Aspekt der Aufhebung individuellen Leidens?
Patricia Gwozdz arbeitet zu Themen an der Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und ist Dozentin am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Sie erarbeitet unter der Überschrift „Das Klinische Tagebuch“ „Ansätze zu einer Philosophischen Anthropologie der Genesungsprosa“. Sie führt psychologische, philosophische und literaturwissenschaftliche Perspektiven zusammen und reflektiert anhand zweier klinischer Tagebücher die Bedeutung der anthropologischen Arbeiten Plessners für eine „Narrative Medicine“.
Martin Heinze ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg und Leiter der Hochschulklinik in Rüdersdorf. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Philosophie der Psyche. Unter Bezug auf Konzept von Baader und Merleau-Ponty kritisiert er ein reduktionistisches Verständnis der Psyche, das die Dimension der Sozialität nicht hinreichend im Blick hat.
Dieser Impuls wird im Beitrag von Sebastian Eidinger unter der Überschrift „Kritik des Individualismus und Anthropologie der Libidotheorie. Zur Stellung von Adornos Kritik der revisionistischen Psychoanalyse Karen Horneys innerhalb seiner Kulturkritik“ aufgenommen und weitergeführt. Während Horney ein eher individualistisches Konzept der Psychotherapie entwickelte, weist Adorno auf die Konvergenz eines solchen Konzepts mit einem von der Kulturindustrie propagierten Individualismus hin, der letztlich gesellschaftliche Entfremdungsphänomene stabilisiert.
Inga Andersons abschließender Artikel ist überschrieben mit „Behagliche Kultur. Der Triumph des Wohlbefindens“. Sie beschäftigt sich darin mit Philip Rieffs Arbeit „The Triumph oft he Therapeutic“ aus dem Jahr 1966. Er beschreibt darin den Kulturwandel, den die Wirkungen und Nachwirkungen der Psychoanalyse Freuds angestoßen haben und der zu einem neuen Typus Mensch führt: dem „psychological man“.
Diskussion
Dass der Band mit der Reflexion auf die über 50 Jahre zurückliegende Arbeit von Philip Rieff schließt, nährt meine während der Lektüre immer wieder aufgetauchte Assoziation, ich sei in die Diskussionen meiner eigenen Studienzeit zurückversetzt worden. Dafür sorgt in manchen Beiträgen auch der Sprachduktus. Nach einer solchen (unreflektierten) Assoziation meldet sich aber schnell auch der Gedanke: „…und es waren ja auch keine unsinnigen Diskussionen, die wir damals geführt haben!“ Sie waren getragen von der Idee, dass das Ziel der Vergesellschaftung von Individuen ein Gewinn an Freiheit ist. Dann aber sind alle Strukturen und Dynamiken zu kritisieren, die antiemanzipatorisch wirken. Was bleibt, ist das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das in seiner Spannung evolutionäre Prozesse befördern als auch gesellschaftlich und individuell destruktiv wirken kann. Diese Spannung bildet sich nicht zuletzt in der Psychotherapie ab – Autor/-innen dieses Bandes werden vermutlich sagen: da vor allem!
Therapiekritik ist, wenn sie ein individualistisch enggeführtes Therapieverständnis kritisiert, zugleich Gesellschaftskritik, indem sie auf die hinter den Konzepten psychischer Gesundheit liegenden Herrschaftsinteressen und -ideologien fokussiert. In der therapeutischen Arbeit wird das eine nicht ohne das andere gehen: nicht ohne ein Konzept individueller psychischer Krankheit bzw. Gesundheit und nicht ohne ein Konzept systemischer Interdependenzen zwischen individuellen und gesellschaftlichen Störungen. Anderson und Edinger betonen in ihrem einführenden Beitrag „Zwischen Klinik und Kulturkritik“ besonders, wie eingangs gesagt, das „Zwischen“. Damit ist der thematische Rahmen beschrieben, der die einzelnen Aufsätze verbindet: psychotherapeutischen Konzepten liegen Grundannahmen über die menschliche Natur zugrunde, und sie werden konzipiert in einem Kontext sozialer Normen und gesellschaftlich geprägter Zielsetzungen. Besonders deutlich verbindet die Kritische Theorie beide Perspektiven miteinander: von Marcuse, Mitscherlich, Horkheimer, Adorno über Habermas bis zu Rosa findet eine Auseinandersetzung mit psychotherapeutischen, vor allem psychoanalytischen, Konzepten auf dem Hintergrund eines umfassenderen, nämlich gesellschafts- und kulturkritischen Ansatzes statt. Das individuelle Unglück muss auch als Reflex des allgemeinen Unglücks verstanden werden, das durch „Reparaturarbeiten“ allein am Individuum letztlich stabilisiert wird.
Das Buch fächert durch seine interdisziplinären Beiträge das Thema weit auf. Dadurch gelingt es, nicht nur wertvolle Fäden früherer, aber nie abgeschlossener Diskurse, wieder aufzunehmen, sondern die kritischen Fragen auch auf gegenwärtige Diskussionen zu beziehen wie zum Beispiel auf das Verhältnis von Hirnphysiologie, Anthropologie und Psychotherapie, dem sich Christine Zunke in ihrem Artikel „Die Materialisierung der Psyche“ widmet. Sie schreibt dazu: „Hierin steht die Hirnforschung der Sache nach (die sich nicht mit der Intention der einzelnen Forscherinnen und Forscher decken muss) in der reaktionären Tradition, der Natur das anzulasten, was den Menschen von Politik und Ökonomie angetan wird. Und entsprechend wird als Lösung die Natur korrigiert, nicht die Gesellschaft verändert.“ (S. 57) Schon vor dem Hype der Hirnphysiologie war eben dies einer der wesentlichen Kritikpunkte auch gegenüber dem Heils- und Heilungsversprechen der Psychopharmaka. So bleibt das „Dazwischen“ weiter produktiv für hilfreiche Therapiekonzepte und konstruktive Gesellschafts- und Kulturkritik.
Fazit
Das Buch bekam seinen Startimpuls von einer Tagung in der Humboldt-Universität. Diesen akademischen Kontext merkt man ihm deutlich an: manches ist sprachlich mühsamer als es sein müsste. Andererseits: Wenn nicht in akademischen Diskursen theoretische Reflexionen möglich sind, die das spontane Alltagsverständnis übersteigen, wo denn dann? Und: Es lohnt sich, sich auf diese Diskurse einzulassen, zu lernen und diese Diskurse, wo möglich, weiterzuführen in der eigenen professionellen Umgebung. Kritik kann nicht zur Ruhe kommen – und darf es auch nicht!
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Zitiervorschlag
Peter Schröder. Rezension vom 14.07.2022 zu:
Inga Anderson: Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik. Reflexionen einer Kultur des Therapeutischen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
ISBN 978-3-8379-2883-9.
Reihe: Forum Psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28119.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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