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Frank Schulte-Derne, Rita Hansjürgens (Hrsg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe

Rezensiert von Prof. Dr. Gundula Barsch, 29.03.2022

Cover Frank Schulte-Derne, Rita Hansjürgens (Hrsg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe ISBN 978-3-525-63404-2

Frank Schulte-Derne, Rita Hansjürgens (Hrsg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2020. 137 Seiten. ISBN 978-3-525-63404-2. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Das Thema Diagnose als professionelles Verfahren in der Sozialen Arbeit löst bis heute widerstreitende Debatten. Auf der einen Seiten finden sich Verfechtern, die dabei auf ein unverzichtbares Verfahren professionellen Handelns auch in der Sozialen Arbeit bestehen und auf der anderen Seite diejenigen, die den Rückgriff darauf gerade durch diese Profession strikt ablehnen. Die Einwände gegen eine Diagnosestellung durch Soziale Arbeit begründen sich zum einen darin, dass die Fachkräfte mit einer Diagnosestellung, gedacht nach Art medizinsicher Klassifikation, ihre Kompetenzbereiche deutlich überschreiten würden und zum anderen damit, dass durch Diagnosestellungen Stigmatisierung und vorurteilsgeladenes, auch professionelles Handeln gefördert würden. Bei genauerem Betrachten stellt sich allerdings heraus, dass sich diese Vorbehalte durch die Art und Weise auflösen lassen, wie soziale Diagnosen verstanden und gestellt werden. Insofern geben Methodologie, Methode, Instrument und Qualitätskriterien wichtige Einblicke in eine oft längst gehandhabte Praxis und ermöglichen differenzierte Urteile.

Das vorliegende Buch ist ein Reader, das mehrere Autorinnen und Autoren aus der sozialen Praxis vereint, die sich diesem widersprüchlichen Thema nähern. Ihm liegt ein klares Votum für soziale Diagnosestellungen durch Soziale Arbeit zugrunde, das nicht zufällig entlang der Suchtkrankenhilfe illustriert wird. Immerhin werden in der westlichen Kultur problematische Konstellationen in Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen als biopsychosoziale Krankheit verstanden, die auf besondere Weise durch soziale Faktoren und Dimensionen beeinflusst wird.

Inhalt

Das vorliegende Sammelwerk kann als Inspiration verstanden werden für alle, die in den unterschiedlichsten Bereichen der Drogen- und Suchtkrankenhilfe, aber auch im Bereich von Prävention und Frühintervention beschäftigt sind. Die Zusammenstellung der Beiträge startet mit der geschichtlichen Verortung erster Ideen zur Notwendigkeit einer sozialen Diagnosestellung speziell auch in der Suchtkrankenhilfe. Durch die Dominanz der Medizin und klinischen Psychologie hat es die Soziale Arbeit allerdings in diesem Bereich besonders schwer, zu ihrem originären Selbstverständnis zu finden und sich aus der Rolle einer Erfüllungsgehilfin anderer Professionen zu befreien. Insofern müssen Definition und Verständnis einer sozialen Diagnose klar abgrenzend zu Sichtweisen anderer Professionen und auf diese Weise überzeugend sein.

Als Leitidee wird formuliert, dass Soziale Diagnostik als Versuch zu verstehen ist, „zur Erfassung jener Einflussvariablen auf Gesundheit/Krankheit, die sie im Sinne eines sozio-psycho-somato-kulturellen Behandlungsverhältnisses und ihrer daraus resultierenden Behandlungskompetenz im Bereich der Störungen des Passungsverhältnisses zwischen Subjekt und Umwelt für eine erfolgreiche Intervention benötigt“ (Röh:18). Diese weite, damit allerdings auch weniger eineindeutige Definition sozialer Diagnostik wird nochmals mit Blick auf die Einordnung in die Phasen des Handelns und des Methodenarsenals untersetzt: „Beobachtung und Erfassung einer Situation … Einordnung in (disziplin-)spezifische Wissensbestände, Ableitung handlungsleitender Hypothesen“, die den professionellen Handlungen vorausgehen müssen (Hansjürgens: 21). Wichtig scheint zudem die Feststellung, dass das Thema Soziale Diagnostik sich danach unterscheidet, ob damit konzeptionelle Leitideen, Verfahrensweisen oder sozialadministrative Funktionen beschrieben werden sollen (ebd.: 30). Ein weiterer Beitrag fügt diesen Ideen noch das Kriterium der Ziele einer Diagnostik hinzu, die sich in Orientierungs-, Zuweisungs- Gestaltungs- und Risikodiagnostik unterscheiden lassen (Hansjürgens: S. 98). An diese Hinweise für die Weiterarbeit an diesem Thema sollten nächste Arbeiten anschließen.

In den nachfolgenden Beiträgen werden sodann verschiedene Methoden und Instrumente vorgestellt, mit denen sich den „Einflussfaktoren auf Gesundheit/Krankheit“ genähert werden kann. So werden die Black-Box-Diagnostik (Lüdtke, Lüdtke) und biographische Timelines (Pantucek-Eisenbacher) mit sehr verschiedenen Instrumenten und Verfahren so konkret vorgestellt, dass sie einladen, diese Methoden zukünftig in die eigene sozialarbeiterische Praxis zu übernehmen. Allerdings werden dabei auch methodische Ähnlichkeiten deutlich, die aus dem Bereich klinischer Psychologie (u. a. Selbstmanagementtherapie) bekannt sind. Eine originäre Zuordnung zur Sozialen Arbeit lässt sich damit nicht begründen.

Mit dem ICF und dem derweil vorliegenden Core-Set-Sucht wird eine Ausweitung der Dimensionen vorlegt, die eine Soziale Diagnostik prüfen sollte. Diese leitet an, nach welchen Mustern intensiver zu prüfen ist, ob und wie ein Leben durch Substanzkonsum beschädigt wurde und wird, um daraus entsprechende Hilfepläne für die „Reparatur“ entwickeln zu können. Inhalte und Anwendung dieser diagnostischen Methode, die wegen ihrer Komplexität durchaus herausfordernd ist, werden theoretisch und praktisch nachvollziehbar vorgestellt (Buchholz). Eher ratlos lassen die Vorstellung von impact-Techniken (Lüdtke, Lüdtke) und die Darstellung des Frühinterventionsprogrammes FreD (Schulte-Derne) als Methode einer sozialen Diagnosestellung den Leser zurück: Ideen für eine Werkzeugkiste für Professionelle der Sozialen Arbeit in dem einen Beitrag und die Ausdeutung aller im FreD-Interventionsprojekt zur Anwendung kommenden Methoden als Diagnose im anderen Artikel verdeutlichen die Risiken, alles, was zu einem Erkenntnisgewinn zu oder über die Klientel beitragen kann, als Diagnose auszugeben. Dies ist angesichts eingangs formulierter, sehr weiter konzeptioneller Ideen zwar gestattet, verdeutlicht aber die Gefahr, das Soziale Arbeit es nicht schaffen wird, es schlussendlich mit den präzisen Begriffen der Diagnose anderer Professionen aufzunehmen. Auch das Erstellen eines Sozialberichts unter das Dach einer Diagnose zu hieven (Hansjürgens) überzeugt nicht, fehlen doch zumindest die eingangs herausgehobenen Zwischenschritte „…Einordnung in (disziplin-)spezifische Wissensbestände, Ableitung handlungsleitender Hypothesen“, die den professionellen Handlungen vorausgehen müssen.

Das Buch endet mit einem Blick auf das Real-Time-Monitoring, entwickelt von und angewendet in der Schweiz (Calzaferri) und einem Überblick über die Situation der Drogen- und Suchtkrankenhilfe in Nordirland und dem Vereinten Königreich Großbritannien und den hier verwendeten Inventaren, mit denen eine Diagnostik von Betroffenen erfolgt (Klein). Mit dem Real-Time-Monitoring wird das Prozedere der sozialen Diagnose durch den Fokus auf ein Monitoring-Verfahren ergänzt, das sich auf regelmäßige Tagebucheintragungen in einem professionellen Prozessbogen stützt und in seiner kontinuierlichen Auswertung der Lage ist, Informationen zur Falldynamik zu erheben, die eine gezielte Begleitung der Klienten vor allem in (Lebens-)Übergängen ermöglichen. Auch dies ein interessantes Instrument, das jedoch für sich allein noch nicht den im Reader vorangestellten Kriterien einer Sozialen Diagnose entspricht.

Diskussion

Das vorliegende Sammelwerk kann als Inspiration verstanden werden für alle, die in den unterschiedlichsten Bereichen der Drogen- und Suchtkrankenhilfe, aber auch im Bereich von Prävention und Frühintervention beschäftigt sind. Die in dem Reader entwickelten Leitideen zu Sozialer Diagnostik sind sehr allgemein und damit weit ausgelegt, weshalb auch die anschließend vorgestellten Instrumente und Methoden zwar anregend sind, aber Zweifel aufkommen lassen, ob sie tatsächlich unter dem Leitgedanken einer sozialen Diagnose zugeordnet werden sollten. Vieles mutet eher wie Herangehensweisen an, die sich u. a. in der klinischen Psychologie als problembezogene Informationssammlung und damit als unverzichtbare Vorarbeiten einer Diagnosestellung verstehen. Offensichtlich ist, dass es die Soziale Arbeit durch die Dominanz der Medizin und klinischen Psychologie in diesem Bereich besonders schwer hat, zu ihrem originären Selbstverständnis zu finden und sich aus der Rolle einer Erfüllungsgehilfin anderer Professionen zu befreien. Insofern müssen Definition und Verständnis einer sozialen Diagnose klar abgrenzend zu Sichtweisen anderer Professionen und auf diese Weise überzeugend sein. Mit dieser Messlatte sind viele eingeladen, die vorgelegten interessanten Ideen weiterzuentwickeln.

Fazit

Die Herausgeber haben ein Buch vorgelegt, das zwar nicht, wie im Titel angekündigt, Leitlinien einer sozialen Diagnostik vorstellt und für die Praxis der Sozialen Arbeit entsprechende Instrumente erklärt. Die Zusammenschau unterstreicht aber eindrucksvoll, vor welchen Herausforderungen die Entwicklung von Leitlinien für die Soziale Diagnostik, speziell im Bereich der Suchtkrankenhilfe, steht und auf welche wesentlichen Vorarbeiten sich dabei gestützt werden kann. Deshalb ist das Buch auch ein interessanter Denkanstoß für diejenigen, die schon länger in der Praxis arbeiten.

Rezension von
Prof. Dr. Gundula Barsch
Hochschule Merseburg
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Es gibt 22 Rezensionen von Gundula Barsch.

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Zitiervorschlag
Gundula Barsch. Rezension vom 29.03.2022 zu: Frank Schulte-Derne, Rita Hansjürgens (Hrsg.): Soziale Diagnostik in der Suchthilfe. Leitlinien und Instrumente für Soziale Arbeit. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2020. ISBN 978-3-525-63404-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28124.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.


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