Dino Capovilla: Behindertes Leben in der inklusiven Gesellschaft
Rezensiert von Prof. i.R. Manfred Baberg, 31.01.2022

Dino Capovilla: Behindertes Leben in der inklusiven Gesellschaft. Ein Plädoyer für Selbstbestimmung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 251 Seiten. ISBN 978-3-7799-6412-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.
Verfasser und Entstehungshintergrund
Dino Capovilla ist Ordinarius an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Analyse der Lebensbedingungen behinderter Menschen in der Tradition der Behindertenbewegung mit dem Ziel der Teilhabe durch Technologie und interdisziplinäre didaktische Ansätze.
Im einleitenden Vorwort teilt er mit, dass er die Studie aus autoethnografischer Perspektive (hochgradige Sehbeeinträchtigung) verfasst hat und institutionellen Behinderungen, welche die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen beeinflussen, besondere Beachtung schenkt.
Aufbau und Inhalte
Der Band ist in acht Kapitel gegliedert, die beginnend mit den anthropologischen Grundlagen, der historischen Entwicklung und Erklärung aktueller wichtiger Begriffe und Tendenzen in den drei abschließenden Kapiteln die Bildungsbehinderungen, die behinderte Erwerbsarbeit und das behinderte Ich behandelt.
Kap. 2 - Das Wesen des Menschen und das Anderssein
In diesem Kapitel geht der Verfasser zunächst auf die anthropologischen Voraussetzungen ein, die das Verhältnis zu Behinderung prägen. In der griechisch-römischen antiken Kultur wurde zum Beispiel Infantizid als angemessene Reaktion auf behinderten Nachwuchs betrachtet. In der jüdisch-christlichen Kultur galt Behinderung als Ergebnis eines Austausches des Kindes durch den Teufel.
Aus evolutionsbiologischer Perspektive ergaben sich häufig negative Bewertungen von Behinderung, weil Menschen mit Behinderung zum Beispiel durchschnittlich weniger zum Gruppenerfolg beitragen konnten.
Die anthropologische Sicht wurde durch die kulturalistische Konstruktion eines fiktiven idealen Menschen ergänzt. „Je stärker also die wahrnehmbare Erscheinung der behinderten Person die ideal empfundenen Erwartungen verletzt, desto negativer dürfte die Bewertung ausfallen“ (19). Hierzu tragen nicht zuletzt heutige Tendenzen zur Selbstoptimierung bei. Behindertenfeindliches Denken ist deswegen kein Relikt aus vergangenen Zeiten.
Wenn man dagegen die Anerkennung von Menschen mit Behinderung erreichen will, muss man sozial-konstitutive Grundlagen für die Akzeptanz von Vielfalt schaffen. Hierzu zählen vor allem Rechtsgüter des Gemeinwohls. Ebenso wichtig sind die Regulative des Eigenwohls, die vor allem in Basisgruppen interaktiv zur Geltung kommen.
Kap. 3 - Begriffe und moderne Mythen
Im dritten Kapitel klärt Capovilla wichtige Begriffe für das Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen und ihre gesellschaftliche und rechtliche Stellung: Inklusion, Exklusion, Vielfalt und Gleichheit, Anerkennung und Chancengleichheit, Normalisierung und Selbstbestimmung sowie Autonomie.
Die Unklarheit von Begriffen wie Inklusion ist auch darauf zurückzuführen, dass der Mensch dort Mythen schafft, wo ihn – wie im Inklusionsdiskurs – die Komplexität der Wirklichkeit überfordert.
Die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse veranschaulicht der Verfasser auch am Beispiel der Chancengleichheit: „Menschen stellen Hierarchien auf und ordnen sich Gruppen und Schichten zu, von denen einige Privilegien und Macht genießen, während andere benachteiligt und unterdrückt werden. Gerechtere Verhältnisse entstehen vor diesem Hintergrund nicht durch das Einräumen von gleichen Chancen, sondern durch bewusst und mutig gestaltete Veränderungen, die Benachteiligten einen Vorrang in Verteilungssituationen einräumen und Privilegien umverteilen und neu ordnen“ (56).
Besonders bedeutsam für die Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung von Menschen mit Behinderungen sind Selbstbestimmung und Autonomie, weil damit eine Abkehr von der traditionellen Betreuungs- und Versorgungsorientierung verbunden ist.
Kap. 4 - Das behinderte Anderssein
Das Kapitel beginnt mit einer Darstellung der zeitgeschichtlichen Entwicklung des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Noch in den siebziger und achtziger Jahren wurde Behinderung als „individuell zu bewältigendes, schicksalhaftes, persönliches Unglück gedeutet…“ (65), das mit speziellen medizinisch-therapeutischen und heilpädagogischen Programmen behandelt werden sollte. Erst danach entwickelte sich – ausgehend von den angloamerikanischen Ländern – ein Behinderungsverständnis, das soziale und kulturelle Hintergründe der Konstruktion von Behinderung in den Mittelpunkt stellte. In den 90er und 2000er Jahren wurde die rechtliche Gleichstellung unter anderem durch das 1994 verabschiedete Benachteiligungsverbot im Grundgesetz erreicht. Weitere Fortschritte wurden durch die UN-Behindertenrechtskonvention erreicht, die Inklusion zum Menschenrecht erklärt hat.
Zuschreibungspraktiken wie (Selbst-) Etikettierung und sozialrechtliche Zuschreibung haben ebenso Einfluss auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen.
Kap. 5 - Die Grenzen der Behinderung
Die Umsetzung der Ideale „Selbstbestimmung“ und „Autonomie“ erfordert, sich auch mit der Geschichte von Fremdbestimmung behinderten Lebens auseinanderzusetzen, um durch Analyse von Machtverhältnissen neue Perspektiven zu entwickeln. Hierzu zählen auch therapeutische, beratende und pädagogische Interventionen, weil sie die Freiheitsrechte von Menschen verletzen oder einschränken können. Zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen zählt zum Beispiel auch die vergleichende Leistungsbeurteilung von Schüler*innen, die zu erheblichen negativen Bewertungen führen kann.
Als Folge gesellschaftlicher Machtstrukturen kann auch Disziplinierungsmacht entstehen, die mit gemeinwohlorientiertem Anspruch „nutzloses“ in „nützliches“ Leben transformieren will und hierzu mit disziplinären Züchtigungen arbeitet. Während in der Vergangenheit hierbei noch mit physischer Gewalt gearbeitet wurde, wird heute emotionaler Druck eingesetzt. Im Umgang mit Menschen mit Behinderung hat sich historisch die Zielsetzung entwickelt, sie von „Hilflosen“ zu „Nützlichen“ zu formen.
Hauptakteure dieser Arbeit sind in inklusionspädagogische Lehrkräfte, während behinderten Menschen häufig eine eher passive Rolle zugeschrieben wird. Zur Gestaltung der pädagogischen Arbeit haben sich habituelle Interventionslogiken entwickelt, die Behinderung nicht dekonstruieren, sondern effektiv fortschreiben.
Am Beispiel sehbehinderter Menschen beschreibt der Verfasser Interventionen mit dem Ziel, ästhetische „Normalisierung“ durch Körperpflege und Kleiderwahl herbeizuführen. Eine extreme Form dieser Normalisierung ist zum Beispiel ein operativer Eingriff, um entstellte Augen zu entfernen und durch Glasaugen zu ersetzen. Auf diese Weise wird behinderten Menschen verdeutlicht, dass ihr Sosein unansehnlich ist. Für Betroffene kann daraus resultieren, dass ihre Identitätsbildung sich an den Vorstellungen von professionell Handelnden von „gutem Leben“ und nicht an ihren individuellen Wünschen und Neigungen orientiert. Notwendig wäre dagegen ein individualisierendes professionelles Handeln, das Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.
Kap. 6 - Bildungsbehinderungen
Einleitend stellt der Verfasser fest, dass es keine weitgehend akzeptierte Definition dessen gibt, was unter schulischer Inklusion zu verstehen sei. In jedem Falle muss das Lernarrangement aber so aussehen, dass Schüler*innen mit und ohne zugeschriebenem Förderbedarf gemeinsam lernen. Dies ist auch für die soziale Anerkennung und Identitätsbildung der einzelnen Lernenden wichtig. Hierzu werden unterschiedliche institutionelle Formen der Inklusion wie vollständige Inklusion und diverse Kooperationsmodelle zwischen Regelschulen und sonderpädagogischen Einrichtungen analysiert. Intensiv wird in diesem Zusammenhang auch die Änderung der Professionalität von Lehrkräften behandelt.
Allgemeine und behinderungsspezifische Bildungsinhalte werden ebenso diskutiert wie die individuelle Bildungsplanung. Ausführlich wird auch die Themen Selektion und Allokation analysiert.
Förderschulen wären nach Capovilla dann nicht mehr erforderlich, „wenn allgemeine Schulen durch die Art ihrer Lernangebote, ihrer Selektions- und Allokationsmechanismen, der pädagogischen Kompetenz und menschlichen Qualitäten der Fachkräfte, der verfügbaren Ressourcen etc. keine Ausgeschlossenen mehr produzieren“ (180). Da zu einer solch fundamentalen Reform des Bildungssystems jedoch gegenwärtig der politische Wille fehlt, hält er die vollständige Abschaffung von Fördereinrichtungen nicht für möglich.
Kap. 7 - Behinderte Erwerbsarbeit
Nach einer ausführlichen Darstellung von Vor- und Nachteilen traditioneller Erwerbsarbeit und dem neuen Leitmotiv des „unternehmerischen Selbst“ für Menschen mit Behinderungen plädiert Capovilla abschließend für eine größere Wahlfreiheit für die Betroffenen. Sie sollten selbst bestimmen können, „…bis zu welchem Punkt die ungleichen Anstrengungen im Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt gerechtfertigt sind“ (222). Als Alternativen kommen begrenzte Teilzeitbeschäftigung, Projektarbeit, Ausübung von Kunst, ehrenamtliche oder familiäre Aufgaben oder auch vorübergehendes oder dauerhaftes Nichtstun in Frage. Als Beispiel für erfolgreiche Gestaltung der Freiheit führt er engagiert gestaltete YouTube-Kanäle von Menschen mit Behinderung an. Für diese Alternativen muss natürlich eine ausreichende materielle Basis geschaffen werden.
Kap. 8 - Das behinderte Ich
Im abschließenden Kapitel steht die Identitätsbildung der behinderten Person im Mittelpunkt. Wichtig ist dabei, die Behinderung möglichst unbeschadet in das Selbst zu integrieren und zu einem realistischen und stabilen Selbstwertgefühl zu gelangen. Selbstzuschreibungen werden durch die zentralen Beziehungsmotive Anerkennung, Wichtigkeit, Verlässlichkeit, Solidarität, Autonomie und Territorialität geformt, die im Text ausführlich behandelt werden.
im Epilog verweist der Verfasser darauf, dass die Handlungsmöglichkeiten für eine selbstwertfördernde Selbstbestimmung durch die Digitalisierung erheblich erweitert wurden. „Digitale Medien haben die Landschaft erheblich bunter gemacht, was bedeutet, dass das soziale Handlungsfeld behinderter Menschen nicht mehr auf intime Gemeinschaften oder die Kernfamilie, lokale Vereinsstrukturen oder Ähnliches beschränken muss“ (241 S.). Diese neuen Spielräume sollten von behinderten Menschen genutzt werden, um selbstbestimmt ihre eigene Rolle zu finden.
Diskussion
Der Verfasser stellt in den einzelnen Kapiteln ausführlich die historischen, philosophischen, religiösen, politischen und rechtlichen Hintergründe dar, bevor er sie auf die konkrete Situation von Menschen mit Behinderungen bezieht und Konsequenzen für die Gestaltung der jeweiligen Praxis ableitet.
Am Beispiel der professionellen Hilfe für Blinde und Sehbehinderte wird deutlich, dass hier Anpassungsstrategien verfolgt werden, die die Autonomie der Betroffenen (zum Beispiel ästhetische Kriterien) einschränken. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob dies nicht für Unbehinderte ebenso gilt und deren Autonomie ebenfalls durch Reduzierung vorgegebener Normen erweitert werden sollte.
Das Beispiel Chancengleichheit macht ebenfalls deutlich, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht nur im Interesse von Menschen mit Behinderungen notwendig sind. Der Begriff „Inklusion“ kann so eine Bedeutung bekommen, welche das Leben aller Menschen verbessert.
Wichtig ist, dass im vorliegenden Band die Erweiterung der Handlungsspielräume durch Veränderung von Bildung, Arbeitswelt und Digitalisierung thematisiert wird, um so die Perzeptiven für Menschen mit Behinderungen zu erweitern. Auch dies gilt ebenso für Unbehinderte. Für die Finanzierung dieser neuen Spielräume wäre sicherlich ein bedingungsloses Grundeinkommen geeigneter als Änderungen in der Förderung für Menschen mit Behinderungen, weil so Bevormundungsabbau und individuelle Freiheiten für alle Menschen eröffnet werden.
Fazit
Der Band gibt zahlreiche Anregungen sowohl für Betroffene als auch für Professionelle, ihr Leben und ihre Arbeit zu verbessern und kann deswegen als Lektüre empfohlen werden. Insbesondere für pädagogische Fachkräfte ist es wichtig, ihre Kompetenzen aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen zu vertiefen.
Rezension von
Prof. i.R. Manfred Baberg
Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitsgebiete u.a. Behindertenarbeit und Integrationspädagogik in den Studiengängen Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Integrative Frühpädagogik
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