Björn Krey: Textarbeit
Rezensiert von David Kreitz, 11.06.2021

Björn Krey: Textarbeit. Die Praxis des wissenschaftlichen Lesens.
De Gruyter Oldenburg
(Berlin) 2020.
192 Seiten.
ISBN 978-3-11-057735-8.
D: 34,95 EUR,
A: 34,95 EUR.
Reihe: Qualitative Soziologie - Band 24.
Thema
„Textarbeit“ handelt vom Lesen in der Wissenschaft. Genauer gesagt handelt es davon, dass das Lesen von Wissenschaftsliteratur Arbeit ist. Diese Arbeit ist als professionelle Praxis eingebunden in spezifische organisationale und zeitliche Strukturen der Universität, geprägt von der Gestaltung der Texte, der Ziele der Textarbeit und (über-)individuellen Arbeitsweisen. Gelesen wird mit und in einer bestimmten Haltung, d.h. der Körper liest mit, und mit bestimmten Medien. Darüber hinaus hat auch die disziplinäre Kultur Einfluss auf die Textarbeit, im vorliegenden Werk ist dies die Soziologie.
Autor und Entstehungshintergrund
Dr. Björn Krey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um die Veröffentlichung seiner Dissertation von 2017.
Aufbau und Inhalt
Kapitel 1 Die Literatur der Textarbeit arbeitet den Stand der Forschung zum Lesen von Wissenschaftsliteratur heraus, wobei der Autor vornehmlich in seiner Heimatdisziplin der Soziologie bleibt, auch wenn einige Ausflüge in angrenzende Forschungsbereiche unternommen werden. Krey betont, dass das Lesen eine Arbeit ist. Ein professionelles Tun von Wissenschaftler*innen, das orientiert ist an Abläufen des Lehrens, Forschens und Studierens an Hochschulen und Universitäten. Dabei rekurriert Krey auf Ansätze der Wissenschaftssoziologie wie die Akteur-Netzwerk-Theorie oder die Werke Knorr-Cetinas, kritisiert jedoch deren Fokus auf Produktivität als Teil von Arbeit. Die Lesearbeit ist s. E. eine „wissenschaftlich disziplinierte professionelle Praxis“ (S. 26) und wird von Krey theoretisch angeschlossen an die ethnomethodologischen und interaktionistischen Forschungstraditionen zum Thema Arbeit. Dafür wählt der Autor die folgenden Methoden und Materialien aus: Videoaufnahmen der Lesearbeit von Soziolog*innen (auch der eigenen), Sammeln der gelesenen Texte und ethnografische Beschreibungen von Arbeitszusammenhängen an der beforschten Universität.
In Kapitel 2 Universitäres Lesen wird dann auch diese Verschränkung der Methoden und Materialien deutlich. Unter dem Stichwort „Formale Strukturen“ werden zunächst zeitliche und organisationale Aspekte der Lesearbeit thematisiert und in „projekt-orientiertes“ (für die Forschung) und „curriculum-orientiertes“ (für die Lehre) Lesen unterschieden. Unter Rückgriff auf C. Wright Mills‘ „Vocabularies of motive“ werden die Motive hinter der Lesearbeit, die Begründungen, Zwecke und Ziele analysiert: Geht es um Weiterverwertung in eigenen Texten, intensives Verständnis oder gedankliche Abspeicherung?
In einem weiteren Unterpunkt beschreibt Krey dann die Verfügbarmachung, Sammlung, Speicherung, Aufbereitung von zu lesenden Texten. Und dann schließlich Lesesituationen, die einerseits körperlich sind, räumlich und zeitlich situiert (im Büro, in der Bibliothek, im Café oder zu Hause) und mit – auch von Medien bestimmten – Bewegungen verbunden sind (z.B. Unterstreichungen mit Lineal und Stift). Wobei Lesebewegungen vor allem auch vom Aufbau der gelesenen Texte gesteuert werden.
Daher thematisiert Kapitel 3 Publizierte Texte auch die Textgestaltung wissenschaftlicher Literatur, sprich strukturell typische Merkmale wie Verzeichnisse, Quellenangaben und Gliederungsmuster (z.B. IMRaD). Weiterhin analysiert Krey den Sprachgebrauch in Wissenschaftsliteratur anhand von spezifischen Formulierungen und unterscheidet dabei zwischen Autorisierungen, Relevanz-, Kontext-, Analyseformulierungen und Regulativen.
Nachdem vorhergehend die Gestaltung publizierter Texte im Mittelpunkt stand, bezieht sich Kapitel 4 auf Rezipierte Texte. Krey interessiert v.a., dass die Textrezeption bestimmte Umgestaltungen des Textes mit sich bringt. So werden Texte oft nur als Teile, in einer anderen Reihenfolge als publiziert und als Kopie oder Scan rezipiert, d.h. sie werden den Anforderungen der Lesenden angepasst. Dabei ist zu beobachten: „Die Forschenden, Lehrenden und Studierenden in meiner Studie lesen noch meist gedruckte Kopien von Literatur auf Papier und mit Stiften in der Hand. Jedoch lesen sie auch mehr und mehr digitale Texte an den Bildschirmen ihrer Computer und an anderen Lesegeräten. […] Dass sich damit aber Leseweisen grundlegend verändern würden, konnte ich nicht beobachten. […] Digitale Lesegeräte werden dann genutzt, wenn sie das ermöglichen, was auch mit Stift und Papier getan werden kann […]“ (S. 182). Was damit gemeint ist, wird dadurch deutlich, dass die Texte nicht nur in ihrer materiellen und sequenziellen Form dem Lesen angepasst werden. Auch auf der Ebene der Formulierungen nehmen die beobachteten Lesenden Anpassungen vor, sie heben hervor, kommentieren und paraphrasieren. Dabei untersucht der Autor dezidiert die Vielfalt dieser Markierungen und Annotationen.
Kapitel 5 Geteilte Literatur nimmt in den Blick, dass Wissenschaftsliteratur gelesen wird, um sie wiederum mit anderen zu teilen, sei dies im Gespräch oder durch die Verarbeitung in eigenen Texten. Diese Gespräche können dabei z.B. im Büro oder im Seminar stattfinden, wobei Bürogespräche eingebunden und begrenzt sind durch die alltägliche wissenschaftliche Arbeit, Seminargespräche das Verständnis von Gelesenem jedoch fokussieren und sich dabei auf Reformulierungen und Auslegungen stützen. Bzgl. des schriftlichen Teilens untersucht Krey einerseits Exzerpte von Studierenden, die er als wesentliche Vorübungen des Schreibens von Haus- und Abschlussarbeiten versteht, als „Formulierungen von Lesarten und Lesereaktionen“ (S. 171). Sie sind für ihn logische Fortführung des Markierens und Annotierens. Schlussendlich bedienen sich die Lesenden als Schreibende ihrer Exzerpte auf unterschiedliche Weise: Manche legen mit ihren Exzerpten „Schreibrouten“ aus, andere nutzen die Exzerpte als Katalysatoren des Schreibens. Abschließend geht der Autor auf verschiedene Verwendungen von Zitaten in den Texten der Untersuchungsteilnehmenden ein, wobei er in/direkte Zitate als öffentliches publiziertes Pendant des Exzerpts versteht.
Schluss
Krey schlussfolgert: „Für die soziologische Praxeologie sind m.E. vor allem drei analytische Aspekte an Lesen und Literatur als Forschungsgegenstand interessant:
- das […] praktische Können und […wie] Leseweisen tradiert und Lesende in einem spezifischen Verhalten Objekten gegenüber sozialisiert, kontrolliert und diszipliniert [werden];
- die […] Textualität von Literatur als physisches Bezugsobjekt körperlichen Verhaltens, das Letzteres sinnlich-sinnhaft orientiert; und schließlich
- das […] Denken als ein ebenso körperliches wie durch Schreib- und Lesetechnologien materiell gestütztes Vollzugsgeschehen, das eine innere Konversation mit dem Selbst und eine äußere Konversation mit Textperspektiven ebenso wie mit anwesenden und abwesenden Anderen sein kann. Bei alledem geht es um die Sozialisation der Lesepraxis in Strukturen und Situationen, die Reaktion der Lesepraxis auf Wahrnehmungs- und Verhaltensobjekte und die Partizipation der Lesepraxis an Kollektiven und Kollaborationen durch gemeinsam geteilte Bezugsobjekte“ (S. 181).
Diskussion
Qualitative soziologische Wissenschaftspraxisforschung liefert dichte Beschreibungen von Arbeitshandlungen von Forschenden, Lehrenden und Studierenden. Die Arbeit von Krey zeigt dies anhand des Lesens wissenschaftlicher Literatur. So gerät in den Blick, was sonst häufig ignoriert wird: die verschiedenen Dimensionen alltäglicher (oft routinisierter) Handlungen und was alles dazu gehört, diese Handlungen auszuführen.
Die Perspektive, aus der ich auf dieses Buch geschaut habe, ist die einer Didaktik des wissenschaftlichen Arbeitens, einer Hochschul-Schreibdidaktik bzw. einer Didaktik literaler Kompetenzen für die Hochschule.
Der Autor schreibt selbst in der Einleitung, dass die Soziologie eine Disziplin sei, die stark über Lesen und Schreiben unterschiedlichster Textsorten funktioniere, die aber zugleich kaum eine Didaktik des Lesens und Schreibens ausgebildet habe (S. IX).
Für mich steht damit die Frage im Raum, wie Kreys Erkenntnisse für eine Hochschuldidaktik des Lesens – und Schreibens – (in der Soziologie) genutzt werden können. Dazu lässt sich das Folgende festhalten:
- Das Lesen wissenschaftlicher Texte ist Arbeit; sie benötigt Zeit, Motivation, Kenntnis über Vorgehensweisen und Möglichkeiten der Übung.
- Das Lesen wissenschaftlicher Texte ist nicht bei allen Personen gleich, der Versuch einer reinen Weitergabe einer allgemein richtigen oder aber der eigenen Vorgehensweise von Lehrenden an Studierende ist nicht möglich.
- Kreys dichte Beschreibung literaler Praxen in der Soziologie kann als detaillierte Darstellung einen guten Ausgangspunkt für Reflexionen eigener Lesearbeit bieten. Reflexion ist auch der Kern (m)einer hochschuldidaktischen Arbeitsweise, die mit dem Pragmatismus davon ausgeht, dass erst das Infrage-gestellt-sein von Handlungs- und Problemlöseweisen zum Denken und schließlich zum Lernen führt.
- Die Soziologie sollte ihre eigene Perspektive auf Wissenschaftspraxis nutzen und auf dieser Grundlage forschungsbasierte und -orientierte Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten umsetzen, damit Studierende mögliche Arbeitsweisen in ihrem Fach kennen lernen.
Fazit
Das Buch von Krey macht deutlich, wie eine alltägliche berufliche Handlung, in diesem Fall das Lesen, eingebettet ist in Strukturen, verfügbare Technik, Motive, Ziele u.v.m. Es wird deutlich, wie vielfältig und gleichzeitig ähnlich der Umgang mit wissenschaftlicher Literatur in der Soziologie ist. Das Buch bietet theoretisch und methodisch konkrete Ansätze, um weitere Aspekte der Wissenschaftspraxis zu erforschen und durch dichte Beschreibungen multidimensional fassbar zu machen.
In Bezug auf meine berufliche Praxis liegt der Wert dieser Wissenschaftspraxisforschung auch darin, dass sie Hintergründe und Begründungen für die Hochschuldidaktik und die Schreibdidaktik in akademischen Kontexten liefern kann.
Rezension von
David Kreitz
M.A., pädagogischer Mitarbeiter für politische Erwachsenenbildung bei der HVHS Mariaspring und freiberuflicher Trainer für wissenschaftliches Schreiben.
Mailformular
Es gibt 32 Rezensionen von David Kreitz.