Stiftung Bremer Werkgemeinschaft (Hrsg.): Forensische Rehabilitation intra- und extramural
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 22.06.2021

Stiftung Bremer Werkgemeinschaft (Hrsg.): Forensische Rehabilitation intra- und extramural. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2020. 186 Seiten. ISBN 978-3-95853-612-8. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Der Reader versammelt Beiträge aus den seit 2013 in loser Folge durchgeführten Round-Tabel-Fachgesprächen in Bremen zu aktuellen Fragen des Maßregelvollzugs. Der thematische Bezug orientiert sich an aktuellen Fragestellungen und Aspekten der Forensischen Psychiatrie.
Herausgeberin und Entstehungshintergrund
Die Bremer Werkgemeinschaft GmbH bietet seit über 30 Jahren ambulant betreutes Wohnen für Menschen aus dem Maßregelvollzug an. Zur Beförderung des multiprofessionellen Fachaustausch entstand bei der im Jahr 2012 gegründeten Stiftung Bremer Werkgemeinschaft die Idee zur Durchführung von Round-Tabel-Fachgesprächen. Zwischen 2013 und 2019 fanden bislang vier Fachveranstaltungen statt, der Sammelband enthält „die wichtigsten Fachbeiträge dieser vier Veranstaltungen“ (7), Vorträge die als Impulsreferate in den Jahren 2013, 2015, 2017 und 2019 gehalten wurden.
Aufbau und Inhalt
Die Tagungsbeiträge sind in die Abschnitte
- Datenschutz in der Forensik
- Einbeziehung Angehöriger in die Betreuungsprozesse
- Auswirkungen der Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
- Entlassungen aus dem Maßregelvollzug
gegliedert.
Datenschutz
Schweigepflicht und Datenschutz haben im Maßregelvollzug – noch stärker als in anderen Bereichen der Psychiatrie – eine hervorgehobene Bedeutung. Die untergebrachten Patienten befinden sich auf strafrechtlicher Grundlage in den Kliniken, Hintergrund ist erhebliche Straffälligkeit. Im Rahmen des Strafprozesses, der psychiatrischen Begutachtung und des Unterbringungsverlaufs werden umfangreiche persönliche Daten erhoben. Diese betreffen den biografischen Hintergrund, das Anlassdelikt, den Unterbringungsverlauf, soziale Kontakte, den Krankheits- und Behandlungsverlauf. Die Schnittstelle zwischen Forensischer Psychiatrie und nachsorgenden Einrichtungen, z.B. betreute Wohnformen stellt, etwa im Fall der Entlassvorbereitung und späteren Entlassung, einen sensiblen Abschnitt dar. Einerseits benötigen die nachsorgenden Stellen umfangreiche Informationen, um über eine Aufnahme und Weiterversorgung entscheiden zu können, andererseits bestehen umfangreiche Persönlichkeits- und Verschwiegenheitsrechte. Nach Entlassung besteht die Notwendigkeit zum Informationsaustausch, etwa zwischen Forensischer Ambulanz, stationärer Nachsorgeeinrichtung und Bewährungshilfe. Der Abschnitt zum Datenschutz in der Forensik beleuchtet diese Aspekte mit drei Beiträgen von Friedrich Schwertfeger (ehem. Leiter der Bremer Forensik), Heinz Kammeier (Jurist i. R.) und Helmut Pollähne (Strafverteidiger). Das Credo der Beiträge: für die Datenweitergabe gilt, so viel wie notwendig (um Entscheidungen treffen zu können, Risikoeinschätzungen abgeben zu können, Fälle reflektieren zu können) und so wenig wie vertretbar (um die PatientInnen zu schützen). Schwerpunkte der Überlegungen sind die Entlassvorbereitung inkl. dem sog. „Probewohnen“, Nachsorge und insbesondere die rechtliche Stellung der freien Träger.
Angehörige
Lange übersehen, von den Behandlungsmaßnahmen oft ausgeschlossen, eher gelitten als geschätzt haben Angehörige untergebrachter psychisch kranker Straftäter eine wichtige Rolle bei Behandlung und Resozialisierung. Erst in den letzten Jahren kommt dieser Gruppe mehr Aufmerksamkeit zu, werden Programme zur Angehörigenarbeit entwickelt. Auf der anderen Seite haben Angehörige forensischer Patienten begonnen sich zu organisieren, in lokalen Gruppen, aber auch auf Landesebene, um ihren Anspruch auf Information, Beteiligung und Einbindung in die Behandlung von untergebrachten PartnerInnen, Kindern oder sonstigen Angehörigen im Vollzug einzufordern. Entsprechend Raum nimmt das Kapitel zur Einbeziehung Angehöriger in den Betreuungsprozess ein. Fünf Beiträge (erneut von Heinz Kammeier und Friedrich Schwertfeger, daneben weiteren TagungsteilnehmerInnen) thematisieren die rechtliche Stellung von Angehörigen, Perspektiven in der Einbindung von Angehörigen und (erste) praktische Erfahrungen mit der Einbeziehung von Angehörigen. Ein Beitrag gibt der Stimme von Angehörigen Gehör, der Texte fragt kritisch danach „wo bleiben die Angehörigen?“ (67f), ein weiterer Beitrag beschreibt das Konzept der Angehörigenarbeit einer forensischen Wohngruppe eines freien Trägers. Das Spannungsfeld der Einbeziehung Angehöriger im Maßregelvollzug entsteht vor dem Hintergrund des Zwangscharakters der Forensischen Psychiatrie, der gesetzlich gewollten Isolation der Untergebrachten von sozialen Beziehungen und Strukturen, dem Recht auf familiäre und partnerschaftliche Kontakte und Beziehung, der Wahrnehmung von Angehörigen als (soziale, emotionale und instrumentelle) Ressource, aber auch die Erfahrung des Schädigungspotenzials pathogener Familienstrukturen, Überforderungstendenzen, Anspruchshaltungen und Vorwurfskulturen. Die Beiträge verdeutlichen, dass eine strukturierte Arbeit mit Angehörigen nicht nur notwendig, sondern auch äußerst sinnvoll erscheint, während der stationären Unterbringung und nach Entlassung aus der Forensischen Psychiatrie.
Novellierung des Maßregelrechts
Mit der Novellierung des Maßregelrechts im Jahr 2016 haben sich neue Herausforderungen für die Forensische Psychiatrie und darüber hinaus für den gesamten (Sozial-)psychiatrischen Versorgungssektor ergeben. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung psychisch kranker Straftäter im Maßregelvollzug wurden im entsprechenden § 63 StGB angehoben, die Bedingungen für einen langfristigen Verbleib in sichernder Unterbringung wurden verschärft. In der Folge kommt es seit der Reform zunehmend zu Entlassungen aus Verhältnismäßigkeitsgründen, die Unterbringung wird in solchen Fällen „erledigt“ erklärt, Hintergrund für eine Entlassung ist demnach nicht ein darstellbarer Behandlungserfolg (und damit eine feststellbare Reduktion der Gefährlichkeit d. Untergebrachten), sondern liegt vorwiegend in formalen Gründen (Verhältnis Anlassdelikt vs. Dauer der Unterbringung). Aus dieser Situation ergeben sich eine Reihe von Problemen, es bedarf neuer Behandlungsstrategien, der nicht-forensische psychiatrische Versorgungsbereich erfährt eine zunehmende Belastung, Behandlungsteams, PatientInnen, Angehörige und Nachsorgeeinrichtungen sind verunsichert und es bedarf einer umfassenden Kommunikation und Gestaltung dieser anspruchsvollen Situation. Der Abschnitt zu den Auswirkungen der Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus greift diese aktuelle Entwicklung, die damit verbundenen Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten auf. Die Texte beschreiben die Schnittstelle Forensische Psychiatrie – Sozialpsychiatrie (Ute Franz, Chefärztin der Forensik Bremen), formulieren Gestaltungsmöglichkeiten im stationären Behandlungssetting (Andreas Teuschel, Pflegeentwickler im Maßregelvollzug) und gehen umfangreich auf die rechtlichen, formalen und therapeutischen Auswirkungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Friedrich Schmidt-Quernheim, Gesundheitsministerium NRW) ein.
Entlassung aus dem Maßregelvollzug
Die Entlassung psychisch kranker Straftäter aus dem stationären Maßregelvollzug ist mit einer Vielzahl von Regelungen, Anforderungen, Risiken, Chancen und Formalien verbunden, zeichnet sich durch hohen Kommunikationsbedarf aller Fallbeteiligten und vielfältigen Perspektiven, vor allem für die Betroffenen aus. Der letzte Abschnitt beinhaltet Beiträge von Heinz Kammeier (zu den rechtlichen Grundlagen und persönlichen Voraussetzungen für eine Entlassung), Schmidt-Quernheim (zum Spezialfall Entlassung wegen fehlender Verhältnismäßigkeit und den damit verbundenen Risiken und Anforderungen insbesondere in Bezug auf gemeindepsychiatrische Nachsorgeanbieter) und Frank Löhr (Psychologe im MRV Lüneburg, zu Resozialisierungsmöglichkeiten psychisch kranker Sexualstraftäter) anhand eines Fallbeispiels.
Zielgruppe des Buches
Fachkräfte die im stationären oder ambulanten Bereich des Maßregelvollzugs arbeiten, JuristInnen, Mitarbeitende des sozialpsychiatrischen Versorgungssektors
Diskussion
Die Publikation der Stiftung Bremer Werkgemeinschaft ist ein klassischer Tagungsreader, der zentrale Referate aus einer mehrjährigen Spanne beinhaltet.
Anders als die Tagungsbandreihe des Westfälischen Maßregelvollzugszentrums in Eickelborn-Lippstadt (vgl. z.B. N. Saimeh (2017). Therapie und Sicherheit im Maßregelvollzug, Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/23514.php) haben die HerausgeberInnen darauf verzichtet, die ReferentInnen zu bitten, ihre Beiträge zu verschriftlichen und in eine (weitgehend einheitliche) Textform zu bringen. Der Band hat so streckenweise den Charakter eines Verlaufsprotokolls, der z.T. offensichtlich lediglich die Abschriften der PowerPoint-Präsentationen beinhaltet, einzelne Diskussionsbeiträge protokolliert, oder abschnittsweise längere Textkörper beinhaltet, wohl die Verschriftlichungen einzelner Vorträge. Damit präsentiert sich der Band nicht als ausformulierte Fachpublikation, sondern eher als Werkstatt- und Materialienband, in dem zwar wichtige Themen, wie z.B. die Novellierung des Maßregelvollzugs, Angehörigenarbeit etc. aufgegriffen werden, die unterschiedlichen Aspekte allerdings keine besondere Vertiefung erfahren, sondern eher an der Oberfläche die – z.T. auch bereits bekannten und andernorts publizierten- wichtigsten Aspekte und Überlegungen stichpunktartig formuliert. Mögliche Ansatzpunkte zu konzeptionellen, methodischen oder gar theoretischen Aspekten bleiben so meist unberührt (obwohl die im Tagungsband versammelten ReferentInnen dazu z.T. breit publiziert haben). Der Nutzen für die LeserInnen des Bandes liegt so eher in einzelnen Anregungen, Beispielen, Ideenskizzen oder Praxisberichten, die zur Reflektion der eigenen Praxis beitragen können. Aufgrund der langen Zeitspanne der zweijährlich abgehaltenen Fachtagungen (der Band umfasst die Jahre 2013 bis 2019) erscheint mancher Diskussionsbeitrag bereits wieder veraltet, bzw. haben sich in der dynamischen Praxis des Maßregelvollzugs in den letzten fünf Jahren erhebliche Entwicklungen ergeben, die im Zeitraum vor der letzten Gesetzesreform im Jahr 2016 noch nicht berücksichtigt werden konnten, sodass der Band hier streckenweise eher reinen Dokumentationscharakter aufweist. In ihrem Tagungsreader verzichten die HerausgeberInnen weitgehend auf Literaturangaben, ebenso vergebens sucht man ein AutorInnenverzeichnis, was zwar zur weiteren Recherche einladen mag, die Erstlektüre hinsichtlich Orientierung und Vertiefung für Fachfremde oder NeueinsteigerInnen erschwert.
Fazit
Ein Tagungsreader, der in aller Knappheit die Originalvorträge aus sieben Jahren Fachtagungsgeschehen abbildet und aktuelle Themen des Maßregelvollzugs vom Datenschutz in der Forensik über die Einbeziehung Angehöriger und die formalen und inhaltlichen Änderungen seit der Novellierung des Maßregelrechts in 2016 aufgreift.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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