Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität
Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz, 06.09.2022

Sarah Haßdenteufel: Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990.
De Gruyter Oldenburg
(Berlin) 2019.
390 Seiten.
ISBN 978-3-11-061007-9.
Reihe: Pariser historische Studien - Band 113.
Zur Autorin
Nach dem Abschluss ihrer Promotion ist Frau Haßdenteufel in den Schuldienst gegangen; sie unterrichtet an einem Offenbacher Gymnasium und bildet am Studienseminar Offenbach Lehrkräfte aus.
Hintergrund und Inhalt des Buches
Das Buch ist die überarbeitete Fassung einer im Jahr 2016 vorgelegten Dissertation, die am Historischen Seminar der Universität Frankfurt entstand. Es ist eine „historische Arbeit“, die Armutsentwicklung und vor allem den „kommunikativen Umgang“ damit sowie die sozialpolitischen Reaktionen von 1970 bis 1990 in zwei europäischen Ländern vergleicht. In diesen Ländern erfuhr das Thema nach 1945 zunächst keine besondere Berücksichtigung in der politischen Agenda. Es gab zwar „Randgruppen“ aber keine Armut als soziales Risiko. Das wirtschaftliche Wachstum schien dies zunächst zu „verhindern“. Dies änderte sich seit den mittleren 1970er Jahren, erste ökonomische Krisen bedingten den Beginn einer neuen Ausbreitung und einer dadurch veränderten Wahrnehmung von Armut.
Das „außergewöhnliche Wirtschaftswachstum“ in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr offensichtlich durch die beiden Ölpreisschocks 1973 und 1979/80 ein jähes Ende. Darauf folgte eine Periode der wirtschaftlichen Rezession, Arbeitslosigkeit wurde zum Massenphänomen und infolgedessen breitete sich Armut wieder auf weite Teile der Bevölkerung aus. Das Armutsrisiko, verstanden als „Neue Armut“, wuchs wieder für breite Bevölkerungsgruppen und hat sich bis heute stark ausgeweitet und verfestigt.
Das Buch betrachtet den Hintergrund dieser Entwicklung, die von der Autorin in den Jahren von 1970 bis 1990 verortet wird, als in beiden Ländern ein Aufbrechen dieser politischen Nicht-Thematisierung konstatiert werden kann. Dies führte offensichtlich zu einem markanten Bruch bei der Betrachtung und „Verhandlung von Armut“ als „neu“. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, wie diese allmähliche Ausbreitung von Arbeitslosigkeit und Armut „kommunikativ aufgegriffen und verarbeitet wurde, wie also die Öffentlichkeit und die Politik reagierten. Die vergleichende Länderstudie analysiert somit, wie in Frankreich und Deutschland diese sozialen Risiken kommuniziert wurden, sie erörtert, welche Ursachen dafür herausgearbeitet wurden und welche Lösungsmöglichkeiten verhandelt wurden.
Eigentlich geht es dem Buch damit weniger um die Armutsentwicklung, obwohl es diese sehr detailliert darstellt, sondern um „Politische Kommunikation“. Die Autorin geht von der These aus, dass in der Kommunikation über die neue Risiken wie Arbeitslosigkeit und Armut Hintergründe für unterschiedliche, europäischen Wege der sozialen Sicherung festzustellen sind. Hierfür liefert die Autorin eine vergleichende Analyse der Kommunikation für Deutschland und Frankreich und somit Erklärungen für unterschiedliche sozialstaatliche Entwicklungen, die sich seit den 1970er Jahren finden lassen.
Dabei unterscheidet sie in der Wahrnehmung der Armut zwei Phasen: In den 1970er Jahren war in beiden Ländern von „Randgruppen“ die Rede; dabei standen nicht die materielle Armut, sondern der soziale Ausschluss und die eingeschränkten Teilhabechancen im Fokus. Im Jahrzehnt danach rückte dann, auf Grund sozialer Verwerfungen, Langzeitarbeitslosigkeit und materielle Not in das Zentrum der Armutsdebatten. Diese Thematisierung der Armut erfolgte interessanterweise in beiden Ländern aus der Opposition heraus. Auffällig ist zudem eine wachsende Bedeutung wissenschaftlicher Studien und Statistiken, was für beide Länder gilt, die sich vor allem auch mit der Messbarkeit von Armut beschäftigen. Offenkundig wuchs der Bedarf an Wissen merklich.
Die Argumentation der Autorin folgt dabei fünf Linien, die als Fragen gestellt werden:
- Welche Bevölkerungsgruppen und welche sozialen Problemlagen gelten als arm?
- Welche Vorstellungen von Armut lassen sich identifizieren?
- Welche Akteure verstehen sich als „Armutslobby“?
- Welche „Modi politischer (Armuts-)Kommunikation“ sind feststellbar?
- Welche sozialpolitischen Folgen ergeben sich aus den Aushandlungen?
Im Zentrum des Buches stehen Akteure in Parteien, Parlamenten, Ministerialbürokratien und Wohlfahrtsverbänden. Die Argumentation ruht auf einer breiten empirischen Materialsammlung (Parlamentsprotokolle, Wahlprogramme, Parteizeitschriften, Presseausschnittsammlungen, Verbandszeitschriften, etc.).
Aufbau des Buches
Das Buch ist, neben einer Einleitung und einem Fazit, in Fünf Abschnitte gegliedert.
Im Ersten Abschnitt werden „Sozialfälle“ und „soziale Ungleichheiten“ in der französischen Armutsdebatte in den 1970er-Jahren diskutiert. Dabei geht es um die Haltung der Verbände und um die parteipolitischen Debatten um Armut und um den Beginn veränderter Entwicklungslinien der Armutspolitik.
Im Fokus des Zweiten Abschnitts stehen die Entwicklungen in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren. Nachgezeichnet wird wie sich die Diskurse von den „Randgruppen“, die auch in den Jahrzehnten davor eine gewisse Aufmerksamkeit erfuhren, zur Entdeckung der „neuen sozialen Frage“ verlagerten. Diese „neue soziale Frage“ verbindet sich vor allem mit einem Buch des christdemokratischen Sozialpolitikers Heiner Geissler und führte in der Folge zu intensiven Diskussionen in der CDU und in den Regierungsparteien der 70er Jahre sowie den Verbänden und den Gewerkschaften. Davon wurde auch die sozialwissenschaftliche Debatte über Armut massiv beeinflusst, die sich neu zu etablieren begann.
Die französische Debatte um Armut in den Jahren von 1900–1984 wird im Dritten Abschnitt umfänglich und materialreich bearbeitet. Zunächst wurde „neue Armut“ auf lokaler Eben „entdeckt“. Das führte zu einer wachsenden Wahrnehmung durch Verwaltungen und der Politik. Es entstanden erste französische Armutsberichte. Allmählich wurde die Debatte in den parlamentarischen Raum getragen, insbesondere durch die Oppositionsparteien. Aus dieser Thematisierung von Armut entstanden erste sozialpolitische Überlegungen zur Armutsbekämpfung.
Die Abschnitte Vier und Fünf beschäftigen sich umfangreich mit den Debatten um „Neue Armut“ in den 198oer-Jahren in beiden Staaten, die in diesem Jahrzehnt immer mehr „identifiziert“ wurde. Besonderes Augenmerk legt die Autorin darauf, wie diese wahrgenommen und welche Diskussionen von wem zu deren Bekämpfung geführt wurden. Diese Abschnitte stellen das eigentliche Kernstück der Arbeit dar.
Zunächst wird der Blick auf die Bundesrepublik gerichtet (Abschnitt Vier), es werden spannende Details der Beschäftigung mit neuen Aspekten der Armutsfrage erörtert: so Blicke auf die Situation der Sozialhilfeempfänger und auf die Ergebnisse eines ersten Armutsberichtes. Es wird sehr kenntnisreich dargelegt, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Diakonie und die Caritas, die sich als „Anwalt der Armen“ definiert, sich allmählich mit diesem Thema beschäftigen, sozialpolitische Überlegungen anstellen und sich als politisch kommunizierende Akteure positionieren, die Maßnahmen einklagen. Der Abschnitt gipfelt schließlich in den parteipolitischen Debatten um „Neue Armut“. Zu diesem Zeitpunkt, und das ist von einer gewissen historischen Relevanz, gab es erste Überlegungen zu Grundsicherungsmodellen als Alternativen zur Sozialhilfe.
Die im gleichen Jahrzehnt in Frankreich stattfindende Thematisierung wird im Fünften Abschnitt umfänglich erörtert. Diese begann in den Kommunen, Verbänden und Gewerkschaften. Dabei entstanden auf kommunaler Ebene Formen der Grundsicherung sowie ein von Gewerkschaften vorgelegtes Modell zu einer Mindestsicherung. Letzteres wurde von Parteien aufgegriffen und weiter entwickelt. Auch intensivierte sich in den Parteien die Debatte, dabei rückte vermehrt der Begriff „Exklusion“ ins Zentrum. Das gipfelte schließlich in der Verabschiedung eines Gesetzes, im Jahr 1988, zur Einführung einer garantierten Mindestabsicherung. Diskutiert werden aber auch die dabei aufgetretenen Kontroversen, die in der Streitfrage um Eingliederung mündeten.
Die in den Abschnitten rekonstruierten Entwicklungen strukturierten die Debatten über eine „Neue Armut“, da beide Länder mit vergleichbaren Problemen, nämlich der Herausbildung neuer Armutsrisiken, konfrontiert waren. Mit „neu“ wird dabei symbolisiert, dass in beiden Ländern Entwicklungen stattfanden, die andere Phänomene erzeugten als sie vordem bekannt waren. Gab es zunächst eine Wahrnehmung von „Randgruppen“, die kaum als soziales Problem begriffen, sondern eher als individuelles Problem gesehen wurde, entstand im erforschten Zeitraum eine Debatte, die „Neue Armut“ als ein soziales Risiko verstand, das die Gesellschaft als Ganzes betreffe und herausfordere. Vor allem wurde in den achtziger Jahren die Debatte und die politische Kommunikation noch einmal in beiden Ländern intensiviert, dies verlief sehr kontrovers und wurde insbesondere von Verbänden und der Opposition geführt. Es entstanden schließlich sozialpolitische Modelle, die allmählich auch umgesetzt wurden
Dies führte zu einer umfänglichen und kontroversen politischen Kommunikation, und zwar in beiden Ländern. Armut wurde als „Prekarität“ und „Exklusion“ entworfen und somit zum öffentlichen Thema. Darin wird, so die Autorin, aber auch ein „Wechselspiel aus Schuldvorwürfen und Anklagen“ deutlich, das auf der einen Seite zum „Bagatellisieren“ und auf der andere Seite zum „Rechtfertigen“ führte. In beiden Staaten folgten aus dieser veränderten Wahrnehmung sozialpolitische Innovationen, die vor allem von der politischen Opposition ausgingen.
Diskussion
Das Buch bietet insgesamt den Lesern keine wirklichen Überraschungen, weder hinsichtlich der Betrachtung von Armut als einem sozialen Risiko noch zu den sozialpolitischen Maßnahmen. Deutlich herausgearbeitet wird allerdings ein Wechsel der Wahrnehmung von „Randgruppen“ zu einer „Neuen Armut“, die als gesellschaftliches Problem kommuniziert wurde und zu umfänglichen politischen Debatten über Maßnahmen zu deren Bekämpfung führte. Dies wurde in dieser Form noch nicht so klar fokussiert, vor allem nicht im Vergleich von zwei Staaten.
Die Argumentation des Buches wird dabei insgesamt in zwei Abschnitte geteilt, die sich in vergleichbarer Form in beiden Ländern identifizieren lassen. Dies ist insofern bedeutsam, da in den siebziger Jahren in beiden Ländern, hervorgerufen durch erste ökonomische Krisen, der Blick eben von „Randgruppen“ auf die „Entdeckung der Neuen Armut“ ausgeweitet wurde, dies führte weg von „individueller Armut“ zu einem Verständnis von „Armut als sozialem Risiko“. Diese Erkenntnis könnte in den aktuellen Zeiten von großer Bedeutung sein, da auch diese wieder vermehrt Risiken produzieren, durch Klimawandel, Pandemie und Krieg, die eindeutig als soziale zu identifizieren sind. Dadurch könnten gegen die zu beobachtende Normalisierung von Armut, die wieder stark individualisiert, klare und auf Fakten beruhende Überlegungen platziert werden, die Armut als soziales Risiko und eben „nicht als normal“ und sogar als „selbst verursacht“ diagnostizieren.
Der Blick auf den gewählten Zeitraum zeigt zum einen noch einmal sehr detailliert, wie sich Armut am Ende der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts in zwei zentralen Staaten des europäischen Kontinents erneut ausbreitete, wie Arbeitslosigkeit und Armut sich formierten und Prekarität sowie Exklusion als Begriff und Fakt entstand. Er zeigt zum anderen aber, und dies ist der eigentliche Kontext, das Besondere und Bemerkenswerte dieses Buches, wie dies in den Fokus politischer Diskurse geriet, diese veränderte, und die bekannten Maßnahmen konzipiert wurden. Deutlich wird, wie unterschiedlich in beiden Ländern, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Voraussetzungen, kommuniziert und reagiert wurde. Diese Betrachtung öffnet wichtige Blick auf die historische Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Entwicklungslinien.
Um diese Entwicklung zu rekonstruieren, sichtet und ordnet die Autorin eine große Fülle an Fakten und versucht daraus diese Entwicklungslinien zu zeichnen. Dabei liegt ihr besonderes Augenmerk auf dem Vergleich beider Staaten. Allerdings gehört es auch zum Hintergrund dieses Buches, das als historische Dissertation entstand, dass es vor allem Material sichtet, Vergleiche herstellt und Schlüsse daraus zieht. Dies geschieht eher mit dem Versuch eines objektivierenden sowie historischen Blickwinkels, so findet sich kaum ein skandalisierender Anspruch. Das ist, wenn man sich die aktuellen Publikationen zu Armut ansieht, etwas überraschend und fällt aus dem Rahmen. Aber genau diese Aufbereitung historischen Materials jenseits der Skandalisierung zeichnet das Buch aus und gibt ihm seine Bedeutung, seinen Platz, in der Armutsforschung, insbesondere in einer historischen Betrachtung sozialpolitischer Reaktionen, die sich am Ende des letzten Jahrhunderts in zwei europäischen Staaten entwickelten. Um die Gegenwart zu erklären, liefert das Buch wichtige Details.
Es ist allerdings zu bedauern, dass die Autorin ihre Überlegungen nicht in eine ausformulierte historische Betrachtung von Armut seit der Frühen Neuzeit eingeordnet hat, die es seit Jahren in umfänglicher Form gibt. Die nahezu isolierte Betrachtung verkürzt deshalb den Wert der Auseinandersetzung, die mit einem ausgeweiteten Blick noch besser und analytischer in den Kontext von europäischer Moderne, Kapitalismus und sozialpolitischen Reaktionen, die sich zwischen individueller Linderung und gesellschaftlicher Prävention bewegen, hätte eingebaut werden können.
Fazit
Die Autorin betont in ihrer gründlichen und materialreichen Studie den Gleichklang der Debatte in beiden Ländern ebenso wie die Differenz in der Politik der Armutsbekämpfung. Neben einer Fülle an Material und Fakten, die das Buch bietet, es ist fast ein Nachschlagewerk, ist dieser Vergleich durchaus interessant und bietet Einblicke in die „Vorgeschichte“ der aktuellen Armutsdiskurse. Die diskutierten Inhalte sind zwar nicht vollkommen neu, sozialhistorisch und sozialstaatsgeschichtlich interessierte Leser werden dieses Buch aber dennoch mit Gewinn lesen.
Rezension von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
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