Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 09.03.2021
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
305 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3053-5.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Sachbuch Psychosozial.
Thematischer Hintergrund
Wer in die Geschichte der Sozialen Arbeit nach 1949 vor allem in Westdeutschland schaut, weiß: Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik in Westdeutschland (und in der DDR unter anderen Begrifflichkeiten, insb. als Jugendhilfe) entwickelten sich bis in die 1970er Jahre zu ausgeprägt defizit-orientierten Integrationsagenturen, die die gesellschaftlichen Normvorstellungen v.a. in der sog. „Heimerziehung“ umsetzten und dabei auch Zwangsmittel anwendeten. Prügel, Zwang und Missbrauch gehörten dort zum Alltag der 800.000 zwischen 1945 und 1975 in den geschlossenen Heimen lebenden Kinder und Jugendlichen. Etwa die Hälfte war zwei bis vier Jahre lang in solchen Heimen, andere verbrachten dort ihre ganze Kindheit und Jugend. Diese Geschichte ist bislang keineswegs gut, aber doch ordentlich aufgearbeitet (vgl. z.B. Wensierksi 2006, Grumbach 2010).
Anders verhält es sich mit den „Verschickungskindern“, über die der vorliegende Band berichtet: Zwischen den 1950er und 1990er Jahren wurden in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren auf Kosten der Krankenkassen zur „Erholung“ in Kinderkurheime verschickt. Verschickung, das hieß: „Die ‚Verschickungsempfehlung‘ war eine ärztliche Diagnose, die sehr beliebig war. Die Dauer betrug zumeist sechs Wochen, wurde manchmal aber auch, vornehmlich im Krankheitsfall, um drei bis acht Monate verlängert. Als Ziel wurde die ‚Verbesserung des Gesundheitszustands‘ mit dem äußeren Kriterium der Gewichtszu- oder -abnahme angegeben. Bei den durchführenden Einrichtungen handelte es sich um klinisch-pflegerische Einrichtungen, die auch unter einer klinischen Leitung standen“ (S. 31 f.).
Faktisch handelte sich dabei immer auch um eine „Art Medizinindustrie“, „ein Milliardengeschäft, bei dem sich unter anderem freie Träger auf Kosten der Krankenkassen bereichern konnten. Heimangebote machten Städte und Landkreise, die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, der Verband privater Kinderheime, katholische und evangelische Wohlfahrtseinrichtungen wie die Caritas oder die Innere Mission. Einige Orte und Einrichtungen waren ehemalige NS-Anstalten, etwa Ferienlager für die Hitlerjugend oder Jungmädel. Dieses Geschäftsmodell war nach 1945 passé, aber mit den Kurheimen für Kinder tat sich eine lukrative neue Einkommensquelle auf“ (Anja Röhl im Gespräch mit dem „Tagesspiegel“ 2021).
Während des in der Regel sechswöchigen Aufenthalts sollten die Kindern „aufgepäppelt“ werden. Tatsächlich erlebten sie in den Kinderkurheimen hinter verschlossenen Türen und isoliert – Eltern hatten kein Besuchsrecht, die Briefe wurden (in beide Richtungen) zensiert (S. 32) – oft einen „Abgrund eines unethischen, brutalen und menschenverachtenden Systems, das im Nationalsozialismus entwickelt worden war und auch nach 1945 seine Fortsetzung fand“ (S. 8 des vorliegenden Bandes) und das von Demütigungen über physische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch reichte. Hier „kam es zu massiven Verstößen gegen das Kindeswohl, und zwar mit Langzeitfolgen. Davon hatten zumindest die Jugendämter, der damalige Staat und auch die Träger durchaus dezidierte Kenntnisse, die möglicherweise absichtlich heruntergespielt, zumindest bis heute nicht aufgearbeitet wurden“, ist sich die Verfasserin (und mit ihr der Rezensent) sicher (S. 293).
Autorin
Anja Röhl (Jahrgang 1955) ist Autorin, Sonderpädagogin, Dozentin und Germanistin. Nach der Ausbildung zur Krankenschwester studierte sie Germanistik, Psychologie, Sonderpädagogik und Kunst. Von 1999 bis 2018 war sie hauptberuflich als freie Dozentin an Fachschulen und Universitäten tätig und lehrte zu den Themen Geschichte der Pädagogik, Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Frühpädagogik, institutionelle Gewalt und Psychohistorie (Homepage: https://www.anjaroehl.de).
In ihrer Kindheit war sie selbst mit der Grausamkeit in Kinderkurheimen an der Nordsee und im Teutoburger Wald konfrontiert. 2003 veröffentlichte sie in der Literaturzeitschrift „Risse“ (Nr. 13: „Tante Anneliese“) einen literarischen Beitrag, 2009 einen Beitrag der „junge(n) welt“ (9. Sept. 2009, S. 13), worauf ihr Betroffene von ähnlich traumatisierenden Erfahrungen berichteten, von Angst- und Bindungsstörungen, ihrem Leiden an Depressionen gestörten Beziehungen zu den Eltern, die sie der Verschickung mit all ihren Folgen ausgesetzt hatten. Diese Berichte, Erinnerungen und Kommentare „sind überwiegend negativ konnotiert und wurden aus dem Bedürfnis geschrieben, das Leid geradezu herauszuschreien, auf dass es endlich anerkannt werde. Angst und Trauer sind die Gefühle, die am häufigsten in den Berichten vorkommen. Trauer in Form von Heimweh und Vertrauensverlust. Viele Menschen haben sich regelmäßig in den Schlaf geweint. Angst hatten die Kinder während und vor dem Essen, vor dem Toilettengang, vor dem Waschen, dem Schlafen, vor den angedrohten Strafen und während der vielen gewalttätigen Übergriffe, Demütigungen und Misshandlungen. Angst lähmte sie die ganzen sechs Wochen lang“ (S. 13).
Mit Mitstreiter*innen hat Röhl 2019 den Verein „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V.“ gegründet, anschließend eine erste Tagung zum Thema organisiert und dort die „Initiative Verschickungskinder“ ins Leben gerufen. Verschiedene Wissenschaftler*innen haben sich dem Projekt zwischenzeitlich angeschlossen. Dem Bundesjugendministerium liegt ein Antrag vor, die Aufarbeitung aus Bundesmitteln zu finanzieren.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung besteht der Band aus sechs Teilen:
Im Kapitel „Verschickungskinder finden sich“, erläutert Anja Röhl, die ersten Schritte, das Elend der Verschickungskinder aus einer zunächst gegebenen Perspektive persönlicher Betroffenheit auszuarbeiten. „Ein Blick in die Literatur“ zeigt, dass die Verschickungskindern bislang noch immer kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind und auch nur begrenzt seit den 1950er Jahren Thema erziehungswissenschaftlicher Betrachtungen gewesen sind.
Unter dem Titel „»Verschickung« – Versuch einer kritischen Annäherung“ nimmt die Verfasserin – neben einer Begriffsbestimmung und Einordnung des geschichtlich verortbaren Hintergrundes – eine Bestandaufnahme der Einrichtungen, des Geschäftsmodells (Verschickung durch Krankenkassen, „medizinische Dienstleistung“ – das „Aufpäppeln“ der Kinder – vor Ort) vor und schildert – noch eher allgemein – die Bedingungen der Verschickung und des Aufenthalts in den fast 300 Einrichtungen mit 57.000 Plätzen. Zwischen acht bis zwölf Millionen Kinder verbrachten in den 1950er bis 1990er Jahren Erholungs- und Kuraufenthalte in Kinderheimen und Kinderheilstätten.
Im Kapitel „Kindererholungsheime“ werden exemplarisch Einrichtungen auf Norderney, Föhr und Borkum, das Kinderheim-Heilbad in Bad Salzdetfurth, die Kurort Bad Rothenfelde und Bad Sachse und die dortigen Heime sowie Einrichtungen in Berchtesgaden und Scheidegg vorgestellt; hier kommen „Verschickungskinder“ mit ihren (auch 40, 50 Jahre nach dem Tageschehen ungemein präsenten, unmittelbaren, zeitlich undistanzierten) Schilderungen angemessen ausführlich (und detailreich) zu Wort.
1965 wurden durch den Bund für das Jahr 1963 insgesamt 839 Einrichtungen mit einer Kapazität von 56.608 Betten ausgewiesen, denen alle sechs bis sieben Wochen (z.B. über die gesamten Sommer-Schulferien) neue Kinder – ab dem zweiten Lebensjahr (selten Säuglinge), meistens jedoch im Vorschulalter bis zu neun, zehn Jahren (selten älter) – zugeführt (S. 32 f.). Berchtesgaden war ein solcher Ort; 1964 gab es dort fünf Kindererholungsheime, über die Erinnerungen und Schilderungen vorliegen, die als exemplarisch für die Praxis gelten und deshalb hier in (ausgewählten) Auszügen zitiert werden:
- Marmeladenbrote bis zum Erbrechen (1967): »Ich wurde von der BEK wegen chronischer Bronchitis dorthin geschickt, den Eltern wurde eingeredet, dass das für das Kind das Beste sei. Es gab Besuchs- und Kontaktverbot mit der Begründung, das würde das Heimweh des Kindes befördern. So wurde ich an einem Morgen mit einer Karte um den Hals und meinem kleinen Koffer in einen Zug gesetzt: keine Begleitung, keine Betreuung. Ich saß lange Zeit als Vierjähriger allein in einem Abteil und hatte keine Ahnung, wie ich nach Berchtesgaden kommen sollte. Irgendwann lief eine Frau durch den Zug und hat alle Kinder mit Karten um den Hals eingesammelt. Im Heim angekommen, wurde mir ein Bett in einem großen Schlafsaal zugewiesen. Jeden Morgen wurden Kinder bloßgestellt und verspottet, die nachts eingenässt hatten. Oberstes Ziel des Aufenthalts war die Gewichtszunahme. Es gab ein Kontingent an Marmeladebroten, das jeden Morgen gegessen werden musste. Viele Kinder erbrachen am Tisch und mussten dann das Erbrochene aufessen. Solange das ging, durfte auch keiner aufstehen. Wir versuchten die Aufseherinnen auszutricksen und klebten die Brote mit den Marmeladeseiten von unten an den Tisch. Es gab mächtigen Ärger, wenn man dabei erwischt wurde. Post von zu Hause wurde vor der ganzen Gruppe laut vorgelesen. Ich erinnere mich an die Briefe meines Opas, der immer kurze und witzige Geschichten geschrieben hat, bei denen alle Kinder lachen mussten. Mir standen dabei immer die Tränen in den Augen« (S. 159).
- Die kleine Kinderhölle in Berchtesgaden (Ostern 1966): »Schon bei der Ankunft wurde ich von einer ‚Tante‘ vor den anderen Kindern lächerlich gemacht, weil sie beim Auspacken des Koffers meinen geerbten, schon reichlich abgeliebten Steiff-Teddy fand und ihn mir unter dem Gejohle der Älteren wegnahm, weil ich doch schon viel zu alt für so etwas sei. Und ob ich ein Mädchen werden wolle. Ich sah ihn nie wieder. Auch erinnere ich mich, dass wir zweimal fotografiert wurden: Es gab dort zwei Ponys und jeder von uns wurde einmal draufgesetzt, musste fröhlich winken und dann sofort wieder absteigen. Das zweite Foto entstand auf dem Schneefeld. Einmal auf den Schlitten setzen, fröhlich winken und wieder absteigen« (S. 160).
- Tagelange Kopfschmerzen nach Prügelstrafe (Winter 1971/72): »Mit neun Jahren war ich kein ganz kleines Kind mehr, dennoch erinnere ich mich an eine größtenteils schlimme Zeit. Furchtbares Heimweh. Oft ekelhaftes Essen, das aufgegessen werden musste (ich habe zum Glück immer geschafft, es runterzuwürgen, ohne zu kotzen, das gelang aber nicht jedem Kind). Bettnässer wurden vor allen bloßgestellt. Ausgehende Briefe an Eltern wurden zensiert. Eine ‚Tante‘ (eine junge Frau von höchstens zwanzig Jahren) habe ich als besonders übergriffig in Erinnerung. Einmal schlug sie einem Jungen so heftig ins Gesicht, dass seine Wange aufplatzte. Mich knallte sie einmal mit dem Kopf gegen den Kopf eines anderen Jungen, weil wir uns gezankt hatten. Es war so heftig, dass wir beide noch tagelang danach Kopfschmerzen hatten. Es gab aber auch nette und verständnisvolle Betreuerinnen« (S. 165 f.).
- Stehen, bis die eingenässte Hose wieder trocken war (1976): »Der Speisesaal und der damit verbundene Esszwang sind mir noch sehr präsent: Wenn ich mich recht erinnere, war es jeden Dienstag, dass es als Vorspeise eine eklige Suppe und danach Pfannkuchen gab. Die Pfannkuchen haben natürlich nur diejenigen bekommen, die die Suppe aufgegessen hatten. Einmal habe ich es geschafft, die Suppe runterzuwürgen, und fand die Pfannkuchen echt lecker – das ließ sich aber nicht wiederholen. Ein anderes Mal saß ich allein im Speisesaal vor meiner Suppe, während nebenan im Gemeinschaftsraum eine Veranstaltung stattfand. Toilettengänge waren wohl auch nicht jederzeit möglich. Als ich wieder zu Hause war, habe ich ein Gedicht aufgesagt, von dem ich noch das Ende kenne: ‚… und bist du endlich an der Tür, dann fehlt auch noch das Klopapier‘. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen ich eingenässt habe und in eine Ecke musste, bis alles getrocknet war. Erst dann durfte ich wieder zurück zu den anderen Kindern (ohne frische Kleidung)« (S. 167 f.).
Es handelte sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern die „Erinnerungen an Strafen, traumatisierende Vorkommnisse und Gewalthandlungen ähneln einander, obgleich die in den Berichten genannten Verschickungsheime über die ganze Kurortelandschaft der alten Bundesrepublik verteilt lagen“ (S. 14). Anja Röhl macht selbst darauf aufmerksam, dass ihr Buch „von einem bisher verdrängten Kapitel im Nachkriegsdeutschland“ handelt und dazu „erstes Wissen darüber“ zusammenträgt, „auch wenn die Ergebnisse, wissenschaftlich betrachtet, erst einmal nur vorläufige sein können, sie nur den Beginn einer Aufarbeitung markieren“ (S. 8), zumal die Praxis der Kinderverschickung in der DDR noch nicht berücksichtigt“ (es liegen nur wenige Berichte aus DDR-Kinderkurheimen vor, doch lässt sich „schon sagen, dass es Ähnliches gegeben hat, es gibt aber viel weniger Menschen, die sich dazu negativ geäußert haben. Häuser wie Mitarbeiter kamen auch dort aus derselben deutschen Geschichte vor 1945, grundsätzlich anders waren allerdings damals Staat, Gesetzgebung und Verschickungspraxis, insofern muss es hierzu eigene Studien geben. Eine Datenbasis dafür muss erst noch zusammengetragen werden“, S 13 f.).
Im Kapitel „Erste empirische Zahlen“ werden anschließend vorgestellt, zur Bestrafungen für unwillkürliche Vorgänge und zur Demografie und Trägeranalyse. Es ist erst ein erster Zugang möglich geworden; die Aufarbeitung in der Breite und Tiefe der Praxis in den Einrichtungen hat erst begonnen, eine solide empirische Aufarbeitung steht noch aus.
Unter der Überschrift „Ursachensuche“ nimmt die Verfasserin eine erste Ausdeutung der Praxis in den Verschickungsheimen vor und diskutiert neun sog. „Ursachenstränge“, die die Erziehungspraxis erklären helfen. Ganz überwiegend wird ersichtlich, dass sich in den Kindererholungsheimen – tradiert bis in die 1980er Jahre – eine nazistisch geprägte und durchgängig ausgelebte „erzieherische Praxis“ verwirklichen konnte, die sich aus personalen Kontinuitäten aus der NS-Fürsorge und der nazistischen „Kinderlandverschickung“ in die westdeutschen Verschickungsheime hinüber „gerettet“ hatte. Biografisch entsprechend im und durch den Nazismus geprägte, durch NS-Schwesternschaft, Pflegeberuf und „Kinderheilkunde“ sozialisierte „Tanten“, „Schwester“ und „Erzieher“ praktizierten eine schwarze „strafende Pädagogik“ in (vor Eltern abgeschirmten) totalen Institutionen, in denen die/der Einzelne auch grenzenlos eigenen sadistischen Neigungen nachgehen konnte. Dass es sich um einen „Nachklang historischer Kontinuitäten“ handelt, ist offensichtlich, bestanden doch immer wieder enge Verbindungen zwischen den Leitern von NS-Kinderheilstätten (die z.T. an Mord- und Experimentieraktionen, an TBC- und anderer „Forschung“ der NS-Zeit beteiligt waren), die nach 1945 Leiter von Kinderheilstätten wurden, „bevor sie wieder in die Universitätslaufbahnen zurückkehrten“ (S. 15); dieses (ungehemmte) Fortdauern der Nazi-Ideologie und -Karrieren hat 2020 auch „Report Mainz“ nachdrücklich dokumentiert (ARD-Report 2020). „Viele der Erzieher, Sportlehrer, Krankenschwestern, Heimleiter hatten ihr Handwerk, wenn man das so nennen will, in der NS-Ära gelernt. Entsprechend hart und grausam gingen sie mit Jungen und Mädchen in ihrer Obhut um. Männliche und weibliche Erwachsene zeigten oft kein Erbarmen, keine Empathie“ (Tagesspiegel 2021). Nachdrücklich verdeutlichen das auch die Kindheitserinnerung von Thomas Bernhard: In Ein Kind schildert er (1982) neben seinen Erfahrungen im einem Erziehungslage der NS-“Volkswohlfahrt“, wie er als Siebenjähriger zur Erholung in ein Kinderheim „verschickt“ wurde. Dort angekommen war er „schon in der ersten Nacht als Bettnässer entlarvt“, sein Betttuch wurde für alle sichtbar aufgespannt und er als Urheber bloßgestellt. „Der Bettnässer wurde aber nicht nur auf diese Weise bestraft, er bekam auch keine sogenannte süße Suppe wie die anderen, er bekam überhaupt kein Frühstück“, so Bernhard. Seine „Kur“ fand 1938 statt, „und man könnte meinen, das seien damals eben noch altmodische Erziehungsmethoden gewesen“ (Senfft 2021). Die Übereinstimmung mit den geschilderten Demütigungserfahrungen aus den 1950er bis 1980er Jahren kann nicht offenkundiger sein.
Erforderlich, so Anja Röhl in ihrer kurzen Schlussbemerkung („Für eine empathische Pädagogik“), ist es, „dass sich staatliche, medizinische und Wohlfahrtsinstitutionen sowie die Pharmaindustrie ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern stellen und zügig ihre Archive für die Betroffenen öffnen. Es muss konkrete Unterstützungsmaßnahmen für die Aufarbeitung mittels Bürgerforschung geben. Es hilft uns nicht, wenn Träger und Verantwortliche ihre Akten allein erforschen, hinter verschlossenen Türen und ohne Mithilfe der Betroffenen“, denn die betroffenen damaligen Verschickungskinder „wollen nicht »beforscht« werden, sie wollen als Subjekte ihrer eigenen Geschichten wahrgenommen werden! Es muss eine wirkliche Bürgerforschung sein, in denen die Berichte und Erinnerungen der Betroffenen im Mittelpunkt stehen“ (S. 293).
Diskussion
Im November 2019 wurde ein von Anja Röhl und Prof. Dr. Christiane Dienel (nexus-Institut, Berlin) entwickelter anonymer standardisierte Fragebogen online gestellt und dort (neben den Jahrgängen und den Namen der Einrichtungen) die erinnerten Gefühle während der Heimverschickung, die drei negativsten Erlebnisse sowie Annahmen der Betroffenen zu Kurz- und Langzeitfolgen in Erfahrung gebracht und zu freien Berichten ermuntert (deren Auswertung noch ansteht). Bis zum 21. November 2020 hatten 3.348 Betroffene den Fragebogen vollständig ausgefüllt und 4.373 damit begonnen, ihn zunächst aber unterbrochen, vermutlich weil sie noch Namen und nähere Zusammenhänge recherchieren müssen.
Es überwiegen die Jahrgänge 1949 bis 1969, d.h. es hat zwischen 1954 bis 1973 einen „Boom“ in der Verschickung gegeben. Unter Berücksichtigung der Heimkapazitäten und einem regelmäßigen „Belegungswechsel“ ist davon auszugehen, dass zwischen acht bis zwölf Millionen Kinder (zum Teil mehrfach) verschickt und dort Opfer, Beobachter*innen, Augenzeug*innen, Angstpartner*innen bzw. Mitleidende von Gewalt gegen Kinder in diesen Einrichtungen wurden. Mehr noch: „Manche von ihnen sind sogar zur Mittäterschaft gezwungen worden: beim Auslachen, beim Ärgern, beim Schlagen. Bei dem Vorfall 1969 im Waldhaus von Salzdetfurth war der Junge, der ein vierjähriges Kleinkind mit anderen Kindern zusammen zu Tode prügelte, erst sechs Jahre alt“ (vgl. S. 187 ff, zit. S. 191).
Jedenfalls ist viel Aufhellungs- und Aufklärungsbedarf gegeben. Im Rahmen der Tagung „Das Elend der Verschickungskinder“ (November 2019) verabschiedeten Betroffene eine „Sylter Erklärung der Verschickungskinder“ – https://verschickungsheime.de/erklaerung-der-verschickungskinder/ (21. Febr. 2021) – mit sechs „Forderungen:
- Voraussetzung für die Aufarbeitung ist eine sorgfältige Erforschung der Geschehnisse in den Heimen, der Anzahl der betroffenen Kinder und der gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen.
- Alle Betroffenen sollen erfahren können, dass ihre erinnerten Erlebnisse Realität waren, dass ihnen Unrecht widerfahren ist und dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind.
- Wir fordern die Finanzierung einer selbstverwalteten Anlaufstelle für Betroffene, die eine Vernetzung und eine Orientierung bei Hilfebedarf ermöglicht. Sie hat auch die Aufgabe, Orts- und Regionalgruppen durch fachliche Begleitung zu unterstützen.
- Wir ehemaligen Verschickungskinder, die der damaligen Situation wehr- und hilflos ausgeliefert waren, wollen heute nicht Objekt von Forschung werden. Die Erforschung der Kinderkuren muss deshalb partizipativ als ‚citizen science‘/bürgerorientierte Forschung erfolgen: Wir Betroffenen bestimmen die Zielsetzungen und Fragestellungen der Forschung und tragen durch unsere eigene Recherche sowie durch unsere Erlebnisberichte dazu bei.
- Alle wissenschaftliche Forschung muss maßgeblich durch Menschen mit Doppelexpertise (Verschickungskind und einschlägige Forschungserfahrung) erfolgen. Betroffene mit Doppelexpertise haben daher den Verein „Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen“ gegründet, der als Basis für die Organisation einer betroffenenorientierten, partizipativen Forschung dienen kann.
- Wir fordern die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Träger der Kinderkurheime auf, sich zu ihrer Verantwortung für das Elend der Verschickungskinder zu bekennen. Wir fordern sie auf, in einem ersten Schritt die Aufarbeitung zu ermöglichen, indem sie gemeinsam Finanzmittel in Höhe von mindestens 3 Millionen Euro zur Verfügung stellen.“
Diese Mittel sollen dazu dienen, eine Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener und ein partizipativ ausgerichtetes Forschungsprojekt zu finanzieren, „das die zahlreichen Erlebnisberichte auswertet und vor Ort Gruppen von Betroffenen bei ihren eigenen Recherchen begleitet. Die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen umfassend untersucht und aufgeklärt werden“.
Die ehemaligen Verschickungskinder sind überzeugt, dass die Aufarbeitung „dazu beitragen kann, auch für die Zukunft die Wachsamkeit gegenüber institutioneller Gewalt zu erhöhen und den Schutz von Kindern zu fördern“ (https://verschickungsheime.de/; Kontakt: info@verschickungsheime.de).
Auch zwei Auswertungen der online-Befragung erweisen sich schon auf den ersten Blick als besonders aufschlussreich: Auf die Frage „Haben Sie durch Ihre Heimerlebnisse besondere Kompetenzen erworben oder verloren?“ (Mehrfachnennungen waren möglich) antworteten 61 %, ihre emotionale Feinfühligkeit habe zu- und 11 %, sie habe abgenommen, bei 28 % sei sie unverändert geblieben (2.435 Antworten). Ihr Einfühlungsvermögen in Kinder, so die Selbsteinschätzungen der Befragten, habe zu 67 % zugenommen, zu 7 % habe es abgenommen, zu 26 % sei es unverändert geblieben (2.504 Antworten). Insbesondere aber die Empfindlichkeit gegenüber Ungerechtigkeiten habe zu 88 % zugenommen und seit zu 12 % unverändert geblieben; nur ein Prozent habe an, es habe abgenommen (2.698 Antworten). Auch die Einstellung zu Autoritäten hat sich nach Einschätzung der „Verschickungskinder“ verändert: bei 14 % habe sich eine positive Einstellung gegenüber Autoritäten, bei 62 % sei die Skepsis gegenüber Autoritäten gewachsen, bei 23 % habe sich eine (störende) Ablehnung von Autoritäten, z.B. von Vorgesetzten, ergeben (3.289 Antworten; vgl. S. 194). Solche zunächst noch eher oberflächigen Befunde (die einer tiefergehende qualitativen Betrachtung erst noch bedürfen) lassen sich durchaus lesen als ein Bewältigungsertrag: die Sensibilität im Umgang mit gewalthaltigen und durch Ungerechtigkeit und Bloßstellung gekennzeichneten Verhältnisses nahm dadurch (so die Selbsteinschätzung der Betroffenen) doch deutlich zu – ein für Fragen der Resilienz, der Salutogenese und der Entwicklung von Copingstrategien sicher nicht unwesentlicher (erster) Befund.
Den Verschickungskindern von damals wird mit dem vorliegenden Buch eine Stimme gegeben. Ihr Leiden wird – (sehr) spät, aber eben doch – benannt: Diese Erfahrungen „kommen hervor, wenn die Menschen Gehör finden und endlich nicht mehr glauben, sie seien die Einzigen gewesen, denen das geschehen ist, und das womöglich sogar ‚zu Recht‘. Die Erlebnisse kommen hervor, wenn die Menschen sich später in ähnlichen Bedrängnissituationen befinden, und quälen dann erneut immer wieder mit derselben Kraft“ (S. 14 f.). Darauf befragt, ob sich das Sprechen über das erlebte Unrecht für die Betroffenen etwas ändere, sagt Röhl: „Einiges. Oft wird Erleichterung spürbar, dass man die Erfahrungen mit anderen teilen, mitteilen kann, dass Licht in die tabuisierte Kinderhölle dringt“ (Tagesspiegel 2021).
Fazit
Es wird Zeit, sich auch der „Verschickungskinder“ anzunehmen. Mit der Aufarbeitung dieses Themas „wird auch immer verbunden sein, sich für eine humanistische, einfühlsame Erziehung einzusetzen, in der eine strafende Pädagogik keine Chance mehr hat“ (S. 294). Dazu leistet dieses sehr empfehlenswerte (in seiner Diktion auch für Zwecke der Lehre in und zur Sozialen Arbeit und zur anschaulichen Bearbeitung von Menschenrechtsthemen und -verletzungen sehr gut geeignete) Buch einen wichtigen Beitrag!
Literatur
Report Mainz: Verschickungskinder Kinder-Kurheime jahrzehntelang von NS-Akteuren geleitet. Sendung vom 20. August 2020
Bernhard, T.: Ein Kind, München 1982, 22. Aufl. München 2009
Grumbach, D.: Das Unrechtssystem der Heimerziehung – Fürsorgeerziehung in der alten Bundesrepublik von 1949 bis 1975; in: neue praxis 6/2010: 558–566
Senfft, A.: Das Tabu ist gebrochen; in: der Freitag 5/2021 vom 3. Febr. 2021
Tagesspiegel/​Caroline Fetscher: Erfahrungen in westdeutschen Kurheimen: „Ein ungeheuerliches Repertoire an schwarzer Pädagogik“; in: Tagesspiegel (Berlin) vom 4. Febr. 2021
Wensierski, P.: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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Zitiervorschlag
Peter-Ulrich Wendt. Rezension vom 09.03.2021 zu:
Anja Röhl: Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2021.
ISBN 978-3-8379-3053-5.
Reihe: Sachbuch Psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28163.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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