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Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 21.05.2021

Cover Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus ISBN 978-3-89670-547-1

Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. 9. Auflage. 120 Seiten. ISBN 978-3-89670-547-1. D: 12,95 EUR, A: 13,40 EUR, CH: 23,00 sFr.
Reihe: Compact.

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Autor

Dr. med. Fritz B. Simon ist Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Er ist zudem als systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und Familientherapeut wie auch als Autor tätig. Als solcher hat er rund 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Bücher verfasst.

Thema

Beim Text handelt es sich um einen Einführungsband zu den Themen Systemtheorie und Konstruktivismus. Der Autor erläutert, was unter beiden Begriffen zu verstehen ist und welche Implikationen für die Bewertung von Realität(en) damit einhergehen. Simon beschreibt, was es für unser Verständnis der Welt mit sich bringt, wenn Systeme unter Zugrundelegung systemtheoretischer und konstruktivistischer Grundannahmen betrachtet werden.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in der Einführungsreihe „Compact“ des Verlages Carl-Auer erschienen, der spezialisiert ist auf Publikationen zur systemischen Therapie und Beratung, Hypnotherapie sowie allgemein zum systemischen Arbeiten. Das Buch liegt mit Stand 2020 in der 9. Auflage vor, hat einen Umfang von 120 Seiten und ist in 7 Kapitel unterteilt. Der Text beginnt mit Vorbemerkungen des Autors (S. 7 ff.), der – ganz im Sinne des Konstruktivismus, um den es im Text ja geht – darauf hinweist, das die Darlegungen, die er tätigt, durch seine persönliche berufsbiographische „Brille“ geprägt seien, sie also insofern kontingent sind, als ein*e andere Autor*in das Thema vielleicht anders angegangen wäre und divergente Schwerpunkte gesetzt hätte. Zudem betont der Autor den Einführungscharakter seiner Darlegungen. Er erklärt: „Ziel ist es, den Leser mit den wichtigsten theoretischen Konzepten vertraut zu machen, die ihm bei der Lektüre der weiterführenden Fachliteratur begegnen werden, sodass er die Begrifflichkeit mit ihrem ‚Fachchinesisch‘ und die Logik systemtheoretischer Erklärungen nachvollziehen kann“ (S. 8). Simons Ansinnen ist es, Praktiker*innen eine theoretische Basis für ihr systemisches Arbeiten zu liefern.

Im 1. Kapitel (Vom Objekt zum Subjekt) geht der Verfasser zunächst auf den Cartesianismus, also die philosophischen Überlegungen René Descartes ein, der im 17. Jahrhundert einer der wichtigsten Aufklärer war und die Grundlagen des Verständnisses von Wissenschaftlichkeit legte. „Will man das cartesianische Erkenntnismodell zusammenfasse, so lässt sich zunächst feststellen, dass es von einer Welt ausgeht, die so ist, wie sie ist. […] Erkenntnis ist – wenn sie gelingt – ein Abbild der Wirklichkeit“, erklärt Simon diese theoretische Überzeugung (S. 10). Das Erkenntnisideal des Cartesianismus ist Objektivität. Der Autor schildert, dass eine Grundüberzeugung in Systemtheorie und Konstruktivismus sei, dass es diese Objektivität nicht gäbe, weil Aussagen über die Welt immer von Subjekten getätigt werden. Der Konstruktivismus beschäftige sich, so Simon, „mit dem menschlichen Erkennen, Denken. Urteilen“. Diese Vorgänge würden im Konstruktivismus aber nicht getrennt von der zu erkennenden Welt betrachtet, „sondern als Teil von ihr“ (S. 12). Konstitutiv für systemtheoretisches Denken sei, dass an die Stelle geradlining-kausaler Erklärungen zirkuläre Erklärungen träten und dass Objekte nicht isoliert voneinander betrachtet würden, sondern dass die Beziehungen zwischen ihnen im Fokus der Beobachtung stünden. „Wenn aus diesen anders strukturierten Erklärungen alternative und manchmal auch überraschende Handlungskonsequenzen gezogen werden, so wird dies meist als ‚systemisches Handeln‘ bezeichnet“, schildert der Autor (S. 13). Das Erkenntnisinteresse des systemischen Ansatzes verschiebt sich Simon zufolge „von den Dingen oder Objekten und ihren Eigenschaften hin zu den Mustern ihrer funktionellen Kopplung […]. Es wird eine Ganzheit betrachtet, deren Elemente in einem Netzwerk von Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind, in dem jedes die Bedingungen aller anderen bestimmt“ (S. 16). Aufgrund der Abstraktheit des systemischen Konzeptes sei dieses in nahezu allen Wissenschaftsbereichen anwendbar, zumal es nicht an materielle Inhalte gebunden sei, erklärt Simon.

Im 2. Kapitel (Vom Regelkreis zur Selbstorganisation) geht der Verfasser auf die Kybernetik 1. Ordnung, die Chaos- und Komplexitätstheorie und das Modell der Autopoiesis von Systemen, also deren Selbsterschaffung, ein. Er erläutert die Theorie dissipativer Strukturen, beschreibt die Synergetik, die Systemen inhärent ist und verweist auf unterschiedliche Zustände, die Systeme einnehmen können. Ferner schildert er via Rekurs auf eine mathematische Gleichung und unter Zuhilfenahme des zweiten Satzes der Thermodynamik, wie es zu Selbstorganisationsprozessen in Systemen kommt. Als Grundlage systemtheoretischer Annahmen benennt Simon den Blick auf zusammengesetzte Einheiten. Er schildert, dass es charakteristisch für systemtheoretisches Denken sei, dass „die Konstruktion von Erklärungen mithilfe zirkulärer Kausalität“ erfolge (S. 17). Systeminhärent sei es, dass ein System in der Lage ist, sich selbst zu regulieren, also „einen homöostatischen Zustand einzuhalten, indem es Veränderungen der Umwelt bzw. seiner Randbedingungen aktiv ausgleicht“ (S. 19). Simon vergleicht lebende Systeme (z.B. Menschen), technische Systeme (z.B. Heizungsanlage) und Systeme, die in einer Grauzone einzuordnen sind. Einfache Systeme wie eine Heizung zeichnet aus, dass ein bestimmter Input immer gleich prozessiert wird, er also stets zum gleichen Ergebnis führt. In komplexen Systemen (wie es z.B. Menschen und Gesellschaften sind) ist das nicht der Fall. Sie können auf einen gleichbleibenden Reiz ganz unterschiedlich reagieren. Sie folgen, so schildert der Autor, „nicht dem starken Kausalitätsprinzip“ (S. 30) und sind dadurch gekennzeichnet, dass „eine große Zahl von Elementen miteinander vernetzt ist“, die sich wechselwirkend gegenseitig beeinflussen.

Im 3. Kapitel (Von der „objektiven Erkenntnis“ zum „Er-Rechnen einer Realität“) befasst sich der Autor mit der Unterscheidung trivialer und komplexer Systeme, der Kybernetik 2. Ordnung, der operationalen Schließung von Systemen sowie mit deren Strukturdeterminiertheit. Er klärt darüber auf, was unter den genannten Ausdrücken zu verstehen ist und warum sie relevant für das Verständnis dessen sind, was in Systemen geschieht, wie diese sich von ihrer Umwelt abgrenzen und wie sie sich am Leben halten. Obgleich komplexe Systeme sich durch Differenz (Abgrenzung von innen und außen) auszeichnen, sind sie abhängig von der Umwelt, mit der sie interagieren, die sie prägt und auf die das System selbst wiederum Einfluss nimmt. „Die Welt ist ein nichttriviales System, gegenüber dem wir keine Außenperspektive gewinnen keine Input-Output-Relationen registrieren können“ (S. 39), legt Simon dar. Eingehend auf die Kybernetik 2. Ordnung schildert der Autor, was den Wesenskern des Konstruktivismus ausmacht. „Es macht den Unterschied des Autopoiese-Konzeptes zu allen anderen dargestellten Selbstorganisationsmodellen aus, dass in ihm die Rolle des Beobachters nicht nur reflektiert wird, sondern sie konstitutiv für die Architektur der gesamten Theorie ist“ (S. 43). Mit anderen Worten ließe sich sagen, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird, der die Wirklichkeit auf Basis seiner subjektiven Wahrnehmung konstruiert. Darüber hinaus geht der Autor auf die operationale Schließung von Systemen ein, worunter zu verstehen ist, dass „sich die Operationen eines Systems ausschließlich an den eigenen Operationen orientieren“ (S. 47). Was das meint, beschreibt Simon so: „Biochemische Prozesse innerhalb des Organismus […] schließen an andere Operationen an“, die dies ebenfalls tun, usw. Auf diese Art und Weise werde der Körper, so meint der Autor, „durch ein Netzwerk von Operation, die an Operationen anschließen, als zusammengesetzte Einheit gegen die Umwelt abgegrenzt und als operational geschlossenes System am Leben gehalten“ (S. 48). Bezugnehmend auf die Unterscheidung von Irritation und Instruktion legt Simon zudem dar, dass nicht triviale Systeme von außen zwar irritiert, aber nicht gesteuert, also nicht instruiert, werden können.

Im 4. Kapitel (Von der Übermittlung von Information zur Kreation von Information) reflektiert Simon die Logik der Übertragung und Auswertung von Informationen. Er befasst sich mit den Grundlagen der Kommunikation und reflektiert, wie wir Informationen verarbeiten, die er bezugnehmend auf Gregory Bateson als Unterschiede definiert, die einen Unterschied machen (S. 58). Bedeutsam ist dieses Informationsverständnis laut Simon, da die kommunizierten Inhalte damit „nicht mehr allein von der Bedeutungsgebung des vermeintlichen ‚Senders‘ ab[hängen], sondern auch von den Interpretationsschemata des vermeintlichen ‚Empfängers‘“, an dem es ist, zu beurteilen, ob die Information einen Unterschied macht, also für ihn bedeutsam ist. Bezugnehmend auf Alfred Korzybski, der den in der Wissenschaftstheorie populären Satz „The map is not the territory“ geprägt hat, erläutert Simon, dass wir immer dann, wenn wir kommunizieren, indem wir sprachliche Zeichen oder Symbole benutzen, Gefahr laufen, „dass wir die Merkmale des Zeichensystems, das wir verwenden, mit Merkmalen des Bezeichneten verwechseln“ (S. 65). Des Weiteren geht der Autor auf das Phänomen des Re-Entry ein. Dieses zeichnet aus, „dass die Unterscheidung zwischen dem jeweiligen kognitiven System und seiner Umwelt […] in das System (wieder)eingeführt werden kann“ (S. 66). Dieses Re-Entry von System-Umwelt-Unterscheidungen ist Simon zufolge „die Voraussetzung dafür, dass kognitive Systeme sich selbst mit ihren jeweiligen Umwelten und in der Beziehung zu ihnen beobachten können“ (ebd.). Als bedeutsame Folgerung konstruktivistischer Überzeugungen benennt Simon, dass Wirklichkeitskonstruktionen durch sie ihre „ontologische Absolutheit“ verlören (S. 70). Sie würden „funktionalistisch betrachtet und dadurch relativiert“ (ebd.). Hinsichtlich der Unterscheidung von Wirklichkeitskonstruktionen erklärt der Autor, dass drei Ebenen zu unterscheiden seien: 1) Die Beschreibung von Phänomen. 2) Die Erklärung von Phänomenen sowie 3) die Bewertung des jeweiligen Phänomens. Simon legt dar, was darunter zu verstehen ist und welche Implikationen sich daraus für die Konstruktion von Wirklichkeit(en) ergeben. Beispielhaft erklärt er: „Wenn wir eine bestimmte Erklärung für etwas Wahrgenommenes konstruieren, so ändert sich auch seine Bewertung. Wird das Verhalten eines Menschen z.B. als Ausdruck einer Krankheit erklärt, so führt das zu einer anderen Bewertung und Reaktion seiner Mitmenschen, als wenn es als Ausdruck seines bösen Willens interpretiert wird“ (S. 73).

Phänomene werden, darauf will der Autor hinaus, „in gewisser Weise durch die Wahl des jeweiligen Erklärungsmodells verändert, da sich durch sie ihre Bewertung verändern kann“ (S. 75). Wenn ein Verhalten beispielsweise als Krankheitssymptom erklärt wird, „ändert dies zwar nichts an der negativen Bewertung des Verhaltens, aber es ändert sehr wohl etwas an der Bewertung dessen, der dieses Verhalten zeigt“ (ebd.). Als essenzielle Grundüberzeugung systemischen Denkens benennt der Autor am Ende des 4. Kapitels, dass an die Stelle gradlinig-kausaler Modelle „Konzepte von netzwerkartigen, rückgekoppelten Wechselwirkungen […]; nonlineare Beziehungen zwischen beobachteten Variablen“ an die Stelle der Vorstellung „linearer Korrelationen“ treten. Kurzum werde „damit gerechnet, dass auch ‚kleine‘ Ursachen große ‚Wirkungen‘ haben können“ (S. 76). Weltbilder und Realitäten würden, so Simons Fazit – welches anknüpft an William James Vorstellung des Pragmatismus – „stets von einem Beobachter er-rechnet und konstruiert, und ihre Qualität wird nicht so sehr von ihrem Wahrheitsgehalt bestimmt wie von ihrer Nützlichkeit zum Zweck des Überlebens“ (S. 77).

Im 5. Kapitel (Von der deterministischen Veränderung zum evolutionären Wandel) setzt Simon sich zunächst mit der strukturellen Kopplung von Systemen auseinander. Wie schon früher im Text betont der Autor auch hier nochmal, dass Änderungen eines autopoietischen Systems nicht von außen vorgegeben und gesteuert werden können. Sie können lediglich induziert, nicht aber determiniert werden. „Ereignisse in der Umwelt des jeweiligen Systems wirken als Pertubationen oder Irritationen, auf die der eigenen, inneren Funktionslogiken entsprechend reagiert wird“ (S. 78). Wenn es dem System gelingt, die Autopoiese trotz Irritationen aus der Umwelt aufrechtzuerhalten, „überlebt das jeweilige System als abgrenzbare Einheit“. „Gelingt dies nicht, so desintegriert das System und löst sich als Einheit auf“ (S. 79). Eine Anpassung geschehe, so Simon, aber nicht nur auf Seiten des Systems, sondern auch auf Seiten der Umwelt, in welcher bzw. mit welcher das System operiert. Dafür stehe der Begriff der strukturellen Kopplung. So aneinander gekoppelte Strukturveränderungen charakterisieren dem Autor zufolge „generell evolutionäre Veränderungen“. Bezugnehmend auf das Beispiel von Lebewesen, die sich in Auseinandersetzung mit der Natur behaupten müssen (oder eben sterben), hätten wir es stets mit „System-Umwelt-Einheiten“ zu tun, „bei denen System und Umwelt eine Koevolution durchlaufen“ (S. 82). „Die zufällige (nicht vorhersehbare) Veränderung der jeweiligen Umwelt sorgt für die Veränderungsnotwendigkeit des Systems“ (ebd.) Man könne nun, so Simon, versuchen, das System direkt zu beeinflussen, oder aber „den Kontext des Systems, die äußeren Bedingungen seines Verhaltens, zu ändern versuchen, um so indirekt Wirkung zu erzielen“ (S. 83).

Im 6. Kapitel (Vom „ganzen“ Menschen zur Kommunikation als Element sozialer Systeme) befasst sich der Autor mit der Frage, woraus soziale Systeme überhaupt bestehen, welche Implikationen mit der Antwort auf diese Frage einhergehen und welche Paradoxien dies mit sich bringt. Er legt da, dass die meisten Menschen überzeugt seinen, dass „Menschen“ die zentralen Teile sozialer Systeme seien. Dies Antwort sei in der Systemtheorie aber nicht haltbar, da Menschen hier nicht als Einheiten, sondern als Träger von Kommunikationen bedeutsam seien. Erkenntnisreich sei es, so schildert Simon mit Rekurs auf Niklas Luhmanns systemtheoretisches Theoriegebäude, das Individuum zur Umwelt sozialer Systeme zu machen. „Soziale Systeme – ihre Entstehung, ihre Struktur, ihr Erhalt und ihre Veränderung – sind durch autopoietische, operational geschlossene Prozesse zu erklären. Die Operationen, die sie als Einheiten konstituieren, gegen ihre Umwelt abgrenzen und am Leben halten, sind Kommunikationen“ (S. 88). Diese Kommunikationen müssten an Kommunikationen anschließen, damit sich ein soziales System erhält. Im Hinblick auf die Frage, welchen Status biologische und psychische Systeme (z.B. also Menschen) für diese Systeme haben, gibt Simon die Antwort, dass sie „als deren relevante Umwelten zu betrachten“ seien, die vorausgesetzt sind. Was ein solches Verständnis von sozialen Systemen für die Kommunikation in Organisationen bedeutet, erklärt der Autor so: „Der Mensch wird nicht in seiner Ganzheit, d.h. mit all seinen physischen und psychischen Fähigkeiten, für die Erfüllung der Funktionen der Organisation benötigt, nicht mit seiner vollen Kreativität und seiner Nichttrivialität, sondern nur sehr selektiv und begrenzt“ (102). Für die Organisation sei der Mitarbeiter, so Simon, „als notwendige Umwelt ein Mittel, um ihre Aufgaben und Funktionen zu erfüllen, durch die sie definiert ist“ (S. 103). Für die Mitarbeitenden selbst sei die Organisation, in der sie tätig sind, die „relevante Umwelt“ (ebd.). Diese Differenzierung von Person und System sei insofern nützlich, meint der Autor, als sie erkläre, wie Organisationen mit Widersprüchen umgehen. Diese würden einzelne Menschen überfordern, wenn diese als ganze Menschen ein Teil der Organisation bzw. des Systems seien.

Das 7. Kapitel (Zum Abschluss: Zehn Gebote des systemischen Denkens) zeichnet sich dadurch aus, dass der Autor hier Abstand nimmt von theoretischen Reflexionen. Stattdessen gibt er in diesem letzten Kapitel den Leser*innen praxistaugliche Handlungsanleitungen mit, in denen die Essenz des systemischen Denkens und Handelns kondensiert ist. Ähnlich wie im Buch 66 Gebote von Torsten Groth (2017), das ebenfalls im Carl-Auer-Verlag erschienen ist, benennt Simon hier zentrale „take aways“ systemischen Denkens, die sich in unterschiedlichsten Situationen und Systemzusammenhängen anwenden lassen und den Leser*innen helfen, ihren systemischen – oder besser: systemtheoretischen – Blick auf die Welt(en) und ihr eigenes Interagieren darin zu schärfen.

Diskussion

Was lässt sich nun sagen zu diesem Einführungsbuch? Wie lässt es sich in den bestehenden Fachdiskurs zur systemischen Arbeit und Systemtheorie einordnen? Zunächst einmal kann gesagt werden, dass die Tatsache, dass das Buch, welches vor 15 Jahren (2006) zum ersten Mal publiziert wurde, mittlerweile in der 9. Auflage vorliegt, deutlich macht, dass eine große Nachfrage nach systemtheoretischer Einführungsliteratur besteht. Das verwundert kaum, denn der systemische Beratungsansatz hat seit gut 20 Jahren Hochkonjunktur nicht nur in Tätigkeitsfeldern des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens, sondern zunehmend auch in der Wirtschaft, vor allem im Recruiting (Schalla 2021) und in der Personalentwicklung (Lau 2013). Wer sich zu systemischer Arbeit weiterbildet und in Erfahrung bringen will, was die theoretischen Grundlagen sind, auf denen systemische Beratungsansätze aufbauen, stößt bei der Recherche schnell auf Einführungswerke wie dieses. Das Thema Beratung kommt im Buch wohlgemerkt aber gar nicht vor, es geht in diesem einzig darum, die Theorien hinter den in der Praxis populären Ansätzen kennenzulernen, die als systemisch gekennzeichnet sind. Die Frage, ob Fritz B. Simon diesem Ansinnen gerecht wird, kann bejaht werden. Der Autor streift in seinen Ausführungen unterschiedlichste Fachgebiete und zitiert diverse Klassiker, die in ihrem Feld wegweisend waren – von der Philosophie über die Biologie bis zur Physik und zum Informationsmanagement. Simon macht deutlich, was charakteristisch für Systemtheorie(en) und konstruktivistische Überzeugungen ist.

Ein kleines Manko, das seitens des Rezensenten zu beklagen ist, ist indes, dass dem Konstruktivismus im Buch weit weniger Raum eingeräumt wird, als das bei den Erklärungen zur Systemtheorie der Fall ist. Hier wären ein paar weitergehende Ausführungen wünschenswert gewesen. Wer dazu mehr erfahren will, dem/der sei ergänzend das Buch Einführung in den Konstruktivismus von Gumin & Meyer (2010) empfohlen. Trotz dessen, dass Fritz B. Simons Werk Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus fachlich gut geschrieben und empfehlenswert ist, muss allerdings auch gesagt werden, dass der Text für eine Einführung ausgesprochen anspruchsvoll ist. Der Rezensent, der bereits einige Bücher zur Systemtheorie und zum Konstruktivismus gelesen hat, musste diverse Seiten im Text mehrfach lesen, da er dem Autor beim ersten Lesen nicht folgen und den Zusammenhang des Dargelegten mit Konstruktivismus und Systemtheorie nicht erkennen konnte. Der Text ist, um es ganz direkt zu sagen, schwere Kost. Konsumiert man ihn in einem Stück (was bei 120 Seiten gut möglich ist), besteht die Gefahr, wichtige Aspekte nicht hinreichend zu verstehen, auf die der Autor aufmerksam macht. Aufgrund der Dichte an Informationen fiel es dem Rezensenten denn auch ausgesprochen schwer, diese Rezension zu verfassen. Er hatte einige Schwierigkeiten damit, zu entscheiden, was wohl die treffendste, für Leser*innen am ehesten nützliche Auswahl bzgl. der essenziellen Informationen in den jeweiligen Kapiteln des Buches ist. Der Grund dafür ist nicht nur der anspruchsvolle Inhalt, sondern auch der Umfang besagter Essenz.

Das heißt wohlgemerkt nicht, dass Simons Darlegungen unverständlich wären. Sie sind logisch und nachvollziehbar. Man muss sie aber sehr aufmerksam lesen und sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen, um sie in ihrer Bedeutung für systemisches Handeln zu begreifen. Es ist wahrscheinlich, dass Leser*innen Teile des Textes mehrfach durcharbeiten müssen, um sich jene Zusammenhänge zu erschließen, die der Autor darlegt. Für eine schnelle Lektüre nebenbei ist das Buch ungeeignet. Menschen, die noch keinerlei Vorwissen zu der Thematik haben, könnten mit der Lektüre überfordert sein und den Text ob der vielen Fachsprache und mitunter hohen Abstraktion als zu wenig zugänglich empfinden. Das jedenfalls war die Rückmeldung mehrerer Studierender, mit denen der Rezensent sich in einem Studienseminar über das hier vorgestellte Buch austauschte. Nichtsdestotrotz ist es dem Autor zugute zu halten, dass er sich eines so komplexen Themas auf gerade einmal 120 Seiten so tiefgründig anzunehmen imstande ist. Simon geling es mit seinen theoretischen Darlegungen, den praktischen Nutzen systemtheoretischen und konstruktivistischen Denkens wissenschaftlich fundiert nachvollziehbar zu machen. Die diversen sich im Buch befindlichen Abbildungen erleichtern das.

Von der Schwierigkeit des Zugangs abgesehen ist zudem zu erwähnen, dass selbst Menschen, die schon erfahren in der Anwendung systemischer Methoden sind, von der Lektüre profitieren können, was doch relativ ungewöhnlich für ein Einführungswerk ist. Dies deshalb, weil der Autor deutlich macht, dass systemtheoretische Erkenntnisse nicht mit jener Art systemischen Arbeitens gleichgesetzt werden können, das in vielen sogenannten systemischen Beratungs- und Coaching-Kontexten zur Anwendung kommt. In Folge dessen, dass der Begriff „systemisch“ nicht eindeutig definiert ist, tummeln sich im Feld der Organisationsberater*innen und Coaches so manche Leute, die zwar behaupten, dass ihr Vorgehen auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhe, die mit der Systemtheorie, die Fritz B. Simon vorstellt, aber rein gar nichts am sprichwörtlichen Hut haben. Kritiker*innen des systemischen Ansatzes werfen systemisch beratenden Menschen denn auch so manches Mal vor, pseudowissenschaftlich zu agieren. Moniert wird, dass Systemiker*innen mit Fremdworten aus unterschiedlichsten Fachgebieten um sich werfen, um dadurch Bedeutungsschwere zu suggerieren, die sich praktisch nicht substantiieren lasse (umfassend zu dieser Kritik siehe Lau 2013, S. 145 ff.). In vielen Werken der Beratungs- und Coaching-Literatur findet sich, so die Kritik, die Behauptung, dass der systemische Ansatz auf modernen Konzepten systemtheoretischer Wissenschaft beruhe. An wirklich stichhaltigen Belegen dafür mangele es aber oft. Mithin bleibe unklar, erklärt etwa Pelz (2019, S. 4), „was Systemisches Coaching zum Beispiel mit Quantenphysik, Chaostheorie, Kybernetik 2. Ordnung und anderen Theorien konkret zu tun hat, oder welche Modelle und Methoden konkret verwendet werden.“

Fritz B. Simons Verdienst ist es, dass er die wissenschaftlichen Grundlagen des systemischen Beratungs- und Coaching-Handelns in diesem Einführungsbuch verständlich herausarbeitet. Er liefert systemisch tätigen Fachkräften mit seinem Text eine mögliche Begründungsbasis, auf der die Fachkräfte argumentieren und die Behauptung der Unwissenschaftlichkeit zurückweisen können. Aus eben diesem Grund kann der Text auch berufserfahrenen Fachkräften in Beratung, Coaching und Supervision empfohlen werden, die sich im Hinblick auf die ihrer Arbeit zugrundeliegenden Theorien „sattelfest“ machen wollen. Es bleibt freilich nicht aus, dass so manche Berater*innen und Coaches am Markt aktiv sind (und weiter sein werden), die ihr Handeln gar nicht systemtheoretisch begründen wollen, weil sie ihre Dienstleistungen nur deshalb „systemisch“ nennen, da der Begriff mittlerweile so positiv konnotiert ist. Für all jene systemischen Berater*innen aber, die daran interessiert sind, sind mit den Grundlagen dessen auseinanderzusetzen, auf was ihr Handeln (angeblich) fußt, ist das Buch eine potenzielle Erkenntnis-„Goldgrube“. Es stellt ein Theorie-Pendant zu dem ebenfalls empfehlenswerten Praxis-Werk Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis von Schwing & Fryszer (2018) dar.

Fazit

Beim Lesen des Buches wird schnell deutlich, warum Fritz B. Simon als einer der wirkmächtigsten Systemiker und Systemtheoretiker gilt. Dem Autor gelingt das Kunststück, wissenschaftlich präzise und dennoch hinreichend verständlich zu schreiben. Seine Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus liefert einen lesenswerten, erkenntnisreichen Überblick über die vielschichtige Materie. Für Menschen, die noch keinerlei Vorwissen zu Systemtheorie und Konstruktivismus mitbringen, kann die Lektüre allerdings auch zu anspruchsvoll sein.

Literatur

Groth, Torsten: 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns in Management und Beratung. Heidelberg 2017

Gumin, Heinz; Meier, Heinrich: Einführung in den Konstruktivismus: Beiträge von Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt, Paul Watzlawick. 12. Auflage. München 2010

Lau, Viktor: Schwarzbuch Personalentwicklung. Spinner im Nadelstreifen. Stuttgart 2013

Pelz, Waldemar: Systemisches Coaching. Kann das Systemische Coaching den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit erfüllen? 2019. Abrufbar unter: https://www.management-innovation.com/download/Systemisches-Coaching.pdf (21.04.2021)

Schalla, Ann-Cathrin: Ansätze zur Gestaltung eines Systemischen Bewerbermanagements. Hamburg 2021

Schwing, Rainer; Fryszer, Andreas: Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen 2018

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 21.05.2021 zu: Fritz B. Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2020. 9. Auflage. ISBN 978-3-89670-547-1. Reihe: Compact. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28174.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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