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Jan Sonntag, Karin Holzwarth: Der nächste Schritt ist immer fällig

Rezensiert von Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre, 17.09.2021

Cover Jan Sonntag, Karin Holzwarth: Der nächste Schritt ist immer fällig ISBN 978-3-95490-497-6

Jan Sonntag, Karin Holzwarth: Der nächste Schritt ist immer fällig. Improvisation in der Musiktherapie. Dr. Ludwig Reichert Verlag (Wiesbaden) 2020. 120 Seiten. ISBN 978-3-95490-497-6. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR.
Reihe: zeitpunkt musik.

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Thematischer Hintergrund

Mit diesem Buch begeben sich Sonntag und Holzwarth auf den schmalen Grat, die Herausgabe eines Fachbuchs für eine möglichst breite Leserschaft mit einer Festschrift zu verbinden. Das Buch ist eine erste Zusammenschau vieler Facetten des Gegenstands Improvisation, des „Königsweges der Musiktherapie“, und stellt gleichzeitig eine Würdigung der professionellen Person und des Lebenswerks von Eckhard Weymann dar – ihm gewidmet zu seinem Abschied als langjährigem Leiter des Studiengangs Musiktherapie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Denn Eckhard Weymann steht im deutschsprachigen Raum wie kein anderer für den künstlerisch-ästhetischen Blick auf Improvisation im Kontext musiktherapeutischer Arbeitsprozesse, als Lehrender, Autor, Musiker, Forschender – als anregendes Vorbild für Nachkommende.

Autor und Autorin

Jan Sonntag, Prof. Dr. sc. mus., Dipl. Musiktherapeut (FH, DMtG), Psychotherapie (HpG) und Yogalehrer BDY/EYU. Prof. für Musiktherapie an der Medical School Hamburg, Privatpraxis. Alte Wache für Musiktherapie und Beratung, Redaktionsmitglied der Musiktherapeutischen Umschau. Lehrschwerpunkt: Musik in individuellen und sozialen Veränderungsprozessen. Praxisschwerpunkt: Musiktherapie in der gerontopsychiatrischen Pflege. Forschungsschwerpunkt: Atmosphäre, Demenz.

Karin Holzwarth, Prof., Dipl. Rhythmikerin, Dipl. Musiktherapeutin (DMtG), Studiengangsleitung und Professorin für Musiktherapie am Institut für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Musiktherapeutin an der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg. Praxisschwerpunkt; Kinder und Jugendliche, pädagogisches Setting, Geflüchtete. Mitglied im Fachausschuss Inklusion des Verbands deutschen Musikschulen

Aufbau und Inhalt

Dieses Buch besteht aus einem umfassenden Vorwort der Herausgebenden und elf Aufsätzen zu den unterschiedlichsten Aspekten dieses Themas; die Aufsätze stehen einerseits jede für sich, sind aber andrerseits mit der professionellen Person und dem Lebenswerk Eckhard Weymanns verbunden. Die Autor.innen sind Kolleg.innen aus allen Phasen und Bereichen seines beruflichen Lebens – aus der eigenen Studienzeit, seinen verschiedenen Arbeitsfeldern bis zu Studierenden der von ihm geleitenden Studienjahrgänge. 

Vorwort: Vor dem morphologisch – psychologischen Hintergrund, der zeitgenössischen Phänomenologie als einer allgemeinen Wahrnehmungslehre, sowie der Herangehensweise und Gestaltung des Atmosphärenbegriffes wird in die Grundlage von Weymanns Reflexion musiktherapeutischer Improvisationsprozesse eingeführt. Für diese Prozesse prägte er den Begriff des „Nicht-Wissens“ und das Phänomen der „sensiblen Schwebe“ – beides ist kennzeichnend für das theoretische Gedankengut seiner Haltung im freien improvisatorischen musikalischen Spiel (Weymann, 2000, 2004) – beide Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Alle Weggefährt.innen beleuchten – ausgehend von ihrem eigenen Erleben, Erfahrungen und Denken – unterschiedliche Facetten des Gegenstands. Die Aufsätze gehen von der Art der Zusammenarbeit, der Beziehung zu ihm aus, je nachdem, wie sie ihn erlebten: als Lehrenden, Musiker und Autor, als Forschenden oder als Supervisor. Die Abfolge der Beiträge ist passenderweise eine eher frei improvisierte.

Inhalt

Zu Beginn stehen theoretische Grundlagen und Praxis:

  • Frank Grootaers schreibt in seinem Beitrag über den „Versuch über die Morphologie des musikalischen Improvisierens in Kunst und Gruppentherapie“. Das Gestalten einer musikalischen Improvisation ist ein Prozess, ein Gesamtkunstwerk aus Philosophie, bildender Kunst und Literatur.
  • Nicola Nawe erweitert diese Gedanken anhand der Methode „Klang-Gewörter-Ton- Geschicht“, eine Arbeit des Zusammenfließens aus Klang und Wort – erstanden aus der Unterrichtspraxis Weymanns bei Studierende und Kolleg.innen. Sie entwickelt eine phänomenologische Betrachtung des am Patienten orientierten Verstandenen.
  • Sylvia Kunkel lässt den Leser am persönlichen und klinischen Erleben mit durchaus unterschiedlicher Klientel teilhaben: „Kleinode- improvisieren im klinischen Alltag“.
  • Weymanns Verständnis von Musiktherapie als kunstanaloges Verfahren und der Zusammenarbeit mit Künstler.innen wird in dem Beitrag von Christoph Korn „Über das Erwachen – 5 Löschgedichte 4 Zwischenspiele, 1 leere Seite“ auch bildlich veranschaulicht.

Gedanken zur Improvisation: Unter dieser Überschrift kann man die folgenden drei Beiträge subsummieren:

  • In „Facetten der Improvisation – eine Annäherung“ versteht Johannes Oehlmann Improvisation als „einen Prozess der vorher noch nicht wissenden Unmittelbarkeit des Tuns im Singen und im instrumentalen Spiel“ gleich in welcher Art von Lautäußerungen o/u Klängen. Er spannt den Bogen von Improvisation im Dialog als vertrauensbildenden Weg über Improvisation als dialogische Brücke und heilsamen Prozess und weiter über philosophische, musikalische und persönliche Gedanken.
  • Rosemarie Tüpker lässt uns teilhaben an „Improvisation – in Anfangsunterricht Klavier“, Erinnerungen an die gemeinsame Begegnung und Arbeit mit dem Pianisten und Improvisationskünstler Klaus Runze. Sie beschreibt ein klares spielerisches und in ihrer Durchführung und Wirkung spannendes auf Improvisation beruhendes Unterrichtskonzept, das schon beim Lesen zum Mitspielen anregt.
  • Martin Deuter“ betitelt seinen Beitrag „Aus der Klangwerkstatt“. Werkstatt meint die “Improvisations -Werkstatt“, ein morphologisch orientiertes Fortbildungsangebot für Musiktherapeut.innen, ein mehrjähriges Projekt, das er zusammen mit Weymann in den 1990er Jahren durchführte. Er beschreibt hier, wie musikalisches Improvisieren um künstlerisch-ästhetische Erfahrensbereiche spielerisch erweitert wurde, was für die Verwendung der Improvisation als therapeutisches Agens und den dabei förderlichen Wahrnehmungseinstellungen bedeutsam ist.

Unterricht: Es folgen zwei Aufsätze aus den Besonderheiten des Weymann`schen Unterrichts.

  • Eva Bleckwedel und Vera Stein betiteln ihren Beitrag mit „Offenheit und Strenge“ – Improvisationsunterricht bei Eckhard Weymann – ein Briefwechsel“. Das Besondere an dem Unterricht von Weymann war die Unterscheidung zwischen therapeutischer und künstlerischer Improvisation, für die es verschiedene Anweisungen, Regeln und Settings gab. Maßgebliche Begriffe sind hierbei Geduld und das Einlassen auf Nicht-Wissen.
  • Vier ehemalige Studierende, Tabea Ramsch, Luise Determann, Katja Muckenschnabl und Juliane Paetow schreiben über den „Soundwalk – hören lernen“, ein Hörspaziergang, der im Rahmen der künstlerischen Improvisation durchgeführt wurde. Dabei geht um das genaue Hören, das Hinhören, das Wahrnehmen der Hörumgebung, dies in Verbindung zu setzen mit dem eigenen Erleben, persönlichen Erfahrungen, und diese in einer Erlebnisbeschreibung zusammen zu führen.

Zwei abschließende Beiträge, die den Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin und in die Welt erweitern, sind von Thomas Stegemann und Fritz Hegi.

  • Thomas Stegemann gibt mit„Zwischentöne im Gehirn. Fortgesetzte Versuche zu neurobiologischen Korrelaten musikalischer Improvisation“ einen Überblick zum aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zu musikalischer und Improvisation und zu den Problemen, die sich den Forschenden wegen der flüchtigen Augenblicke in einer Improvisation stellen.
  • Fritz Hegi führt uns in das Wesen, die Kraft, die Chancen ein, die die Fähigkeit zur Improvisation in unserem Leben haben können. Er beschreibt wie die Improvisationspraxis helfen kann, in unserem durchorganisierten, kontrollierten Alltag die damit einhergehende Beengung kreativ aufzulösen. Diesen Gedanken spinnt Hegi über unterschiedliche alltägliche Begrifflichkeiten von u.a. Kindheit – Spiel – Grenzen – Beziehung – Resonanz – Ganzheit – bis zum integralen Bewusstsein fort.

Wunderschön sind das farbige Umschlagsbild und die 13 graphischen Werke, die Martin Deuter jedem der Artikel vorangestellt hat – es sind visuell anregende schwarz-weiße Grafiken, die eine ästhetische Bezugnahme zu den Texten liefern.

Diskussion

Dies Buch entstand auf der Basis des Lebenswerkes von Eckhard Weymann – gedacht als eine Hommage zum Abschied von seiner akademischen Lehrtätigkeit.

Es ist ein Fachbuch für Musiktherapeut:innen, aber auch ein spannendes Lesebuch für ein möglichst weitgestreutes Publikum, die sich mit den scheinbar Unmöglichen, dem Unfertigen, Ungreifbaren – dem Wesen Improvisation – in unterschiedlichen Zusammenhängen beschäftigen. Den beiden Herausgebenden ist es gelungen, die wirklich maßgebenden Musiktherapeut.innen, die in engem fachlichem Austausch mit Eckhard Weymann stehen und sich seit Jahren im deutschsprachigen Raum mit Improvisation beschäftigen, zusammen zu bringen – sie zu motivieren, über ihre ganz persönlichen Erfahrungen, ihre theoretischen Grundlagen und praktischen Erlebnissen mit diesem Thema zu berichten. Es ist ein reiches Kaleidoskop von unterschiedlichen musiktherapeutischen Sichtweisen, meist ausgehend von der Morphologie nach W. Salber, bis zu unterrichtsspezifischen und theoretischen Betrachtungen und therapeutischen Settings.

Fazit

Das Buch entstand in der Zeit einer der größten globalen Krisen in jüngerer Zeit. Die Covid-Pandemie, die Konfrontation mit dem Unvorhersehbaren, dem Nicht-Wissen bringt mit sich, dass tagtäglich Politiker.innen und Wissenschaftler.innen zur Geduld im Umgang mit dem Nicht-Wissen um die Entwicklung und Handhabung dieser Pandemie konfrontiert sind. Mögen die Aufsätze anregen und Mut machen, sich dem zu stellen und vielleicht auch, mit den Herausforderungen kreativ umzugehen.

Rezension von
Dr. sc. mus. Monika Nöcker-Ribaupierre
Dipl. Musiktherapeutin DMtG, Vice President der International Society for Music in Medicine ISMM.
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Es gibt 29 Rezensionen von Monika Nöcker-Ribaupierre.

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ISSN 2190-9245