Stephanie Anne Kathrin Frank: "Erzähl´ mir doch nichts!"
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang, 24.06.2022
Stephanie Anne Kathrin Frank: "Erzähl´ mir doch nichts!" Die kybernetische Gesellschaft als epistemische Krise. Logos Verlag (Berlin) 2020. 325 Seiten. ISBN 978-3-8325-5218-3. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR.
Thema
Bei der vorliegenden Arbeit handelte sich um eine die Veröffentlichung einer 2019 von der TU Berlin angenommenen Dissertationsschrift. Sie versucht, die kybernetische Gesellschaft von ihren epistemologischen Grundlagen her zu verstehen und mit dem algorithmic turn in Verbindung zu bringen.
Autorin
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Inhalt
Konkret möchte die Autorin mit dem Instrumentarium der Kritischen Theorie nachweisen, welches Maß an Absurdität der Idee einer Letztbegründung durch die Fähigkeit zur Programmierung subjektähnlicher Substitutionsgüter oder gar Substitute für Menschen innewohnt (S. 8). Die Logik der permanenten Reibungslosigkeit und Fehlerfreiheit durch die Algorithmisierung gigantischer Datenmengen überführt Prozesse der Erfahrung oder des Lernens in einen Zustand problemfreien Wissens oder Könnens. Die Selbstverständlichkeit dieser zumeist relativ anstrengungslos (leider ganz falsch!) zu erreichenden Zustände könnte sich über kybernetische Regelkreisläufe Cyber-physischer Umwelten als systemisches Prinzip bis in gesellschaftliche Diskurse einschreiben. Regulatorische Eingriffe auf der Basis präziser mathematischer Berechnungen (bei Deep Learning auch nicht richtig) beziehen sich im kybernetischen Zeitalter der totalen Steuerungssysteme nicht mehr nur auf Gegenstände, sondern ebenso sehr auf die Steuerung des Wissens über das Objekt selbst. Die Totalität der kybernetischen Strukturen, die sich über die Lebenswirklichkeit des Subjektes legen und bis in den privatesten Bereich vordringen, machen aus dem zoon politikon ein zoon kybernetikon, ein Lebewesen im techno-kybernetischen Regelkreis (S. 9). Frau Frank spitzt die allgemeine Kritik an der kybernetischen Gesellschaft auf ihre epistemologische Grundkonstellation zu, auf das Werden einer kybernetischen Gesellschaft und ihrer erkenntnistheoretischen Ritualisierungen durch technische Assistenz und fürchtet – wohl nicht zu Unrecht – die Unterwanderung der philosophischen Epistemologie durch ein mediales Apriori (S. 18). Dies kann man wie die Autorin als epistemische Krise bezeichnen. Diese wurde allerdings weniger von den Informatikern und Ingenieuren erzeugt als von den Medienwissenschaftlern und den Philosophen in ihrem Fahrwasser.
Die kybernetische Gesellschaft: Das Ensemble spielt mit sich selbst
Das techno-kybernetische Ensemble ist kein offenes, sondern ein geschlossenes; es spielt mit sich selbst und beruht auf der Fähigkeit zur Selbstregulierung (S. 29). Genau genommen ist dies die Definition der Kybernetik der Ingenieure der 60er bis 90er Jahre und der Soziologie von Niklas Luhmann und seiner Nachfolger, dort erweitert durch die Integration der Autopoiesis-Konzeption von Maturana und Varela. Ihr korrespondiert im Bereich des algorithmic turn die klassische, symbolische und regelbasierte vormals stark genannte KI, die durch ein neues Algorithmen-Design der sog. Ingenieurs-KI (die mit neuronalen Netzen und Formen des Maschinen Learning) seit den 90ern immer stärker den algorithmic turn in der Praxis dominieren. Zugegebenermaßen bleibt die gesellschaftliche Denkweise im Umgang mit der neuen Art von Algorithmen in vielen Bereichen dem alten kybernetischen Muster verbunden, auch wenn bei lernenden Maschinen offene Regelkreisläufe zugrunde liegen. Aufschlussreich ist, dass die alte Ingenieurs-Kybernetik in der DDR-Technikphilosophie noch viel beliebter als in der BRD war. So weist die Autorin auf eine bleibende Gefahr der Leitbildfunktion einer kybernetischen Gesellschaft hin: das Subjekt sucht die Kontrollfunktion über sich selbst, entwickelt den Inspektionsblick für sich selbst und wird zum Selbstkontroll-Gesellschafter, der, unterstützt vom Neoliberalismus, das Subjekt zu einem für sich isolierten Unternehmer seiner selbst macht (S. 43). So bleibt eine weitere Gefahr erhalten: die kybernetische Gesellschaft könnte jene sein, die einen Wechsel von diskursiver zu algorithmischer Steuerung gesellschaftlicher Prozesse einläutet (S. 42). Dies führt zum Kolonialisierungssubjekt (S. 73 ff.) und macht den Wissenschaftler zum Komplizen eines neuen Feudalismus technokratische Eliten (S. 70). Die Autorin zieht eine interessante Schlussfolgerung: „die pseudo-animistische Beschaffenheit künstlicher Intelligenz löst bei menschlichen Subjekten ein ähnliches Verhalten wie das der Urhorde vor dem (natürlichen) Fremden aus. Die Urhorde des 21. Jahrhunderts reagiert mit Anpassung. Identifikation findet jedoch nicht durch Imitation, sondern durch Simulation statt“ (S. 79). Der Rezensent stimmt der Animismus-Interpretation zu, es handelt sich allerdings nicht um eine Eigenschaft der KI, sondern um eine gesellschaftlich verbreitete Einstellung ihr gegenüber.
Eine neue Narrativität der Technologie
Gemäß der Autorin wird die Welt der neuen Technologien die Nachfolgerin der großen Erzählungen (darunter die philosophischen Systeme) und erzeugt neue Legitimationsmuster angesichts gesellschaftlicher Auflösungserscheinungen (S. 115). Die Anthropomorphisierungen der neuen künstlichen Intelligenz in ihrer angeblichen Überlegenheit gegenüber dem Menschen erzeugen Vermenschlichungen von Artefakten in ungezählter Art und führen zu einem Mythenwechsel (S. 127) insbesondere in der Hochstilisierung von Daten und Fakten (gegenüber Argumenten und Theorie). Viele dieser neuen Erzählungen sind zweifellos vereinfacht (S. 137). So manifestiert sich die epistemische Krise der kybernetischen Technologieauffassung insbesondere in der Transformation der Wissenschaft. Diese interpretiert die Autorin folgendermaßen: die Existenz der Daten und die simple Korrelation, die aus ihrem kalkulatorischen Abgleich entsteht, ersetzt häufig die Notwendigkeit einer Kausalität oder einer Kenntnis der Umstände. Epistemologisch betrachtet könnten damit zwei Aspekte der bisherigen (klassisch-humanistischen) Erkenntnisgewinnung dieser neuartigen Forschungsergebnis-Produktion kybernetischer Systeme zum Opfer fallen. Der algorithmic turn erklärt weder das Problem, wie das erkennende Subjekt seine Gegenstände unverstellt in den Blick bekommen kann, noch die Frage nach den Bedingungen, die geschaffen wurden oder geschaffen werden müssen, um Gegenstände oder jeweils zu bestimmende Umstände zu Gegenständen empirischen Wissens zu machen. Diese spielen beispielsweise für algorithmisierte Ergebnisse keine Rolle (S. 151). Wissenschaft wird total, störungsfrei und paranoid (S. 181). Daher hat die Autorin die Befürchtung: wenn aber das Wissen von der Gewinnung des Wissens entkoppelt wird, so wie es bei der Ergebnisprozession durch techno-kybernetische, durch algorithmisch-kalkulierende Assistenz als Normalfall angenommen wird, wird der Algorithmus als Verfahren der Übersetzung eines Ausgangszustandes in einen Endzustand interpretiert. Damit könnte die Finalität des unhintergehbaren Ergebnisses gleichzeitig mit einem Verlust des Wissens über die Prozeduren der Wissensgewinnung und ihre Erfahrungen einhergehen (S. 200).
Diskussion
Als gute traditionelle Geisteswissenschaftlerin befürchtet Frau Frank, dass durch den algorithmic turn auch Formen hermeneutischen Arbeitens, des Auslegens oder Übersetzens im Sinne eines Verstehens kultureller Phänomene durch Symbole und Zeichen, die Menschen miteinander teilen, ins Hintertreffen geraten können (S. 99). Einmal abgesehen davon, dass das Arbeiten mit Algorithmen auch den Umgang mit Symbolen voraussetzt, nur eben nicht in sprachlich verfassten Texten, können Algorithmen noch weniger sich selbst interpretieren wie Sprache. Selbstverständlich interessieren sich Geisteswissenschaftler insbesondere für die sprachlichen und visuellen Gestalten, unter denen die neuen Technologien medial erscheinen. Aber Geisteswissenschaften sollten sich gerade im Sinne der kritischen Theorie nicht darauf beschränken, Beiträge zur Eventökonomie und zur musealen Erinnerungskultur zu leisten. Besonders Philosophie (und als solche versteht sich Kritische Theorie) sollte nach Ansicht des Rezensenten die intellektuelle Herausforderung durch den algorithmic turn annehmen und eine neue Lehre des Verstehens und Interpretierens datenzentrierter Formen von Wissenschaftlichkeit und Technologie generieren.
Neben der traditionellen text-, praxis- und personenorientierten Hermeneutik sollten wir uns um eine Hermeneutik des algorithmischen Modellierens und datenzentrierter Wissenschaft bemühen. Dazu müsste man berücksichtigen, dass es zwei unterschiedliche Formen der KI und der Kybernetik gibt. Denn neben der tatsächlich technokratischen Form der klassischen Kybernetik als Anleitung zur Selbstregulation von technischen Systemen und einer darin begründeten Autonomie liegt den neuronalen Netzen und Formen des Maschinenlernens die Theorie der offenen dynamischen und komplexen Systeme (Synergetik, oft bionisch inspiriert) zugrunde. Der sich in dieser Transformation manifestierende Neuansatz der Interpretation der Struktur des Systemischen hat sich bereits in einem Wandel des Ingenieurswesens niedergeschlagen: vom technischen Konstruktionsbüro zum kreativen technologischen Design der Bastler und reflektierten Praktiker. Und neben der in der Tat extrem neoliberal und medial ausgerichteten Plattformökonomie mit desaströsen Auswirkungen in einer neoliberalen Globalisierung mit einer multimedialen Eventökonomie (hier stimmt der Rezensent der Kritischen Theorie wie der Autorin durchaus zu) entwickeln sich immer mehr Open Access Datenbanken zur Bereitstellung von gesellschaftlich relevantem (auch politischen) Wissen. Am fruchtbarsten aber sind solche Datenbanken als Grundlage für datenzentrierte Formen von Wissenschaften auf der Basis eines algorithmic turn, der in Gestalt von neuronalen Netzen und Deep Learning gerade nicht Trend nicht den alten kybernetischen Denkmustern folgt. Auch wenn sich Computerwissenschaften und Kybernetik im gleichen Umfeld entwickelt haben, ist Kybernetik nicht mit dem algorithmic turn identisch. Während Kybernetik dem klassischen Ingenieursdenken im Sinne der technischen Konstruktion und rationalen Steuerung entspricht, hat der algorithmic turn von Deep Learning und neuronalen Netzen, die eine andere epistemische Struktur hat als die klassische Kybernetik, nämlich die Synergetik, und daher in der Lage sein könnte, klassische kybernetische Konzepte zu transformieren.
Fazit
Die angedeutete Richtung meiner Kritik bereits in den vorangegangenen Kapiteln schmälert nicht den Wert dieser Arbeit. Sie fasst die klassischen Positionen und Denkansätze prägnant zusammen (und das ist völlig ausreichend für eine philosophische Dissertation). Und diese typisch geisteswissenschaftliche Interpretation des algorithmic turn als mediales Phänomen ist ja auch nicht ganz falsch, sondern nur halb richtig. Sie verkennt allerdings die eigentümliche Dialektik des algorithmic turn und macht daher nicht klar genug, vor welchen Herausforderungen eine Neuorientierung der Geistes-, Medien- wie Sozialwissenschaften wie die Kritische Theorie selbst im Sinne der Bemühungen um eine Form von critical digital humanities noch vor uns liegen. Wir sollten den algorithmic turn nicht ideologisch einseitig verurteilen, sondern als ausgesprochen interessante Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung durchaus im Sinne einer erneuerten Kritischen Theorie erkennen lernen.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Bernhard Irrgang
Der Rezensent lehrte Technikphilosophie und angewandte Ethik an der TU Dresden
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Es gibt 19 Rezensionen von Bernhard Irrgang.
Zitiervorschlag
Bernhard Irrgang. Rezension vom 24.06.2022 zu:
Stephanie Anne Kathrin Frank: "Erzähl´ mir doch nichts!" Die kybernetische Gesellschaft als epistemische Krise. Logos Verlag
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-8325-5218-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28187.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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