Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 16.08.2024
Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung.
Campus Verlag
(Frankfurt) 2023.
2. Auflage.
200 Seiten.
ISBN 978-3-593-51187-0.
D: 18,95 EUR,
A: 19,50 EUR,
CH: 21,35 sFr.
Reihe: Historische Einführungen - 11.
Thema
In aktuellen politischen und manchen wissenschaftlichen Debatten entsteht der Eindruck, Migration sei ein Phänomen der Gegenwart oder zumindest der Neuzeit und von Migration seien insbesondere Deutschland oder zumindest Westeuropa betroffen. Ein Blick in die Geschichte von Migration beweist das Gegenteil, wie es Klaus Bade mit seinem Diktum vom „Normalfall Migration“ ausdrückt. Daher kommt der Geschichte von Migration oder Beschäftigung mit Migration in der Geschichtswissenschaft eine große Bedeutung zu. Sylvia Hahn versucht in ihrem Band einen Einblick in die Beschäftigung mit Migration mit Geschichtswissenschaft zu geben und gibt damit einen Einblick in Migration generell in historischer Perspektive.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin Sylvia Hahn ist außerordentliche Professorin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg und hat die wissenschaftlichen Schwerpunkte historische Migrationsforschung, Stadt- und die Geschlechtergeschichte sowie Geschichte der Arbeit. Der Band wurde in der Reihe »Historische Einführungen« herausgegeben – diese Reihe richtet sich an Studierende aller Semester, Doktorand:innen und Dozierende. Zu diesem Band stehen daher auf der Website des Campusverlags kostenlos weitere online Materialien zur Verfügung. Bei dem Band handelt es sich um eine überarbeitete Neuauflage des Buches von 2012. Für die Neuauflage wurde vor allem ein neues Kapitel zu globaler Zwangsmigration verfasst und das Kapitel zur Migration im 20. Jahrhundert zum 21. Jahrhundert aktualisiert.
Aufbau
Das Buch ist in neun Kapitel eingeteilt, von denen einige einen systematischen oder thematischen Fokus haben und andere einen chronologischen. Vor allem in den erstgenannten Kapiteln finden sich vielfältige Bezüge zu anderen Wissenschaften. So auch im ersten Kapitel, in dem es um Konzepte und Theorien der Migration geht. Im zweiten Kapitel werden Zugangsweisen und Quellen diskutiert, auf die sich eine historische Migrationsforschung stützen kann. Im dritten Kapitel wird in einem historischen Rückblick ein Überblick über die Geschichte von Zwangsmigrationen gegeben, hier geht es vor allem um die verschiedenen Epochen des Sklavenhandels und abschließend auch um Menschenhandel und Flucht. Mit dem vierten und fünften Kapitel folgen chronologische Migrationsgeschichten von der frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert in Europa. Die beiden nächsten Kapitel sind wieder thematisch orientiert. Es geht einmal um die Migration von Kindern und Jugendlichen, vor allem als Dienstboten und Helfer:innen, oft auch als Binnenmigration vom Land in die Land. Das Kapitel zu Migration und Gender thematisiert geschlechtsspezifische Migrationsformen und zeigt die große Bedeutung von Migration in der Hausarbeit sowohl für Migration weltweit als auch für Frauen als Existenzsicherung für ihre Familien. Die beiden letzten Kapitel sind der europäischen Binnenmigration im 19. Jahrhundert und der Migration allgemein bis zum 21. Jahrhundert gewidmet, allerdings mit europäischem Fokus.
Inhalt
Hahns Buch stellt sowohl eine Einführung in Migrationstheorien, einen Überblick über Migrationsbewegungen in historischer Perspektive als auch eine Einführung in historische Migrationsforschung als Teilbereich der Geschichtswissenschaft dar. So thematisiert sie einerseits welche Formen von Migration es gibt, wie sich Migrationswege verändern und wie sie miteinander zusammenhängen. Als Beispiel sei die Eroberung und Besiedlung der Kolonien genannt, die wiederum die Einführung von Sklavenarbeit in den neuen Plantagen und die massive Ausweitung des Sklavenhandels zur Folge hatte.
Die historische Perspektive verdeutlicht die Vielfalt der weltweiten Wanderungen von Frauen, Männern und Kindern in den verschiedensten Epochen und Formen. Hahn legt ihren Fokus auf neuzeitliche europäische Migrationsbewegungen, zeigt aber sehr deutlich, dass Migration so alt ist die die Menschheit und dass wir von homo und femina migrans sprechen können.
Die Allgegenwart von Migration in der menschlichen Geschichte macht es wiederum notwendig, dass die Geschichtswissenschaft sich der Migration stärker widmet und auch Werkzeuge dafür entwickelt. Das Kapitel zu Schreiben über Migration setzt sich kritisch damit auseinander, dass die Quellen für Migrationsforschung oftmals offizielle oder staatliche Dokumente und Statistiken darstellten und sich erst in letzter Zeit mit der sozial- und kulturgeschichtlichen Öffnung der Geschichtswissenschaft und oral history eine neue Vielfalt von Methoden und Zugängen für die historische Migrationsforschung ergeben hat. Auch die Teile über kinderspezifische und geschlechtsspezifische Migrationsformen eröffnen neue Forschungsfelder und Perspektiven.
Sehr beeindruckend, weil wenig thematisiert, ist genau das Kapitel über die Migration von Kindern und Jugendlichen als Dienstboten und Helfer, oft eine Binnenmigration, aber mit einschneidenden Folgen für die Betroffenen. Hier wird auch deutlich, wie sehr Migration mit sozialen Fragen verknüpft ist. Als Fazit aus diesem und dem Kapitel zu geschlechtsspezifischen Migrationsformen ergibt sich die Relevanz von intersektionalen Perspektiven in der historischen Migrationsforschung.
Diskussion
Die Autorin sagt selbst, dass ein Einblick in historische Migration notwendigerweise selektiv werden muss – mit ihrer Auswahl konzeptioneller, methodischer, aktueller systematischer und relevanten chronologischen Entwicklungen ist ihr ein guter Überblick gelungen. Allerdings werden weder die Schwerpunktsetzungen begründet noch die Auslassungen thematisiert. So prägt ein gewisser Eurozentrismus das Buch. Einerseits wird immer wieder deutlich, wie sehr Migration eine globale Angelegenheit ist, andererseits liegt der Fokus auf Europa, nicht nur was die Wanderungsbewegungen betrifft, sondern auch die Perspektive d.h. die Wahrnehmungen und Folgen der Migrationsbewegungen.
Fazit
Trotz aller Auslassungen bietet der Band einen gut strukturierten und übersichtlich gestalteten Überblick sowohl über die Geschichte von Migration als auch über die Thematisierung von Migration in der Geschichtswissenschaft. Es stellt ein MUSS dar für alle, die sich – in welcher Wissenschaft auch immer – mit Migration beschäftigen und eigentlich erst recht für jene, die es nicht tun.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Es gibt 41 Rezensionen von Nausikaa Schirilla.
Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 16.08.2024 zu:
Sylvia Hahn: Historische Migrationsforschung. Campus Verlag
(Frankfurt) 2023. 2. Auflage.
ISBN 978-3-593-51187-0.
Reihe: Historische Einführungen - 11.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28197.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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