Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 01.09.2022

Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft Bd. 1. A-M : Theorien, Methoden, Begriffe. Verlag C.H. Beck (München) 2021. 5. Auflage. 634 Seiten. ISBN 978-3-406-73710-7. 24,95 EUR.
Thema
In Band 1 des zweibändigen Lexikons werden die Theorien, Methoden und Begriffe wieder aufgegriffen, wie sie erstmals in 'Pipers Wörterbuch zur Politik' aus dem Jahr 1985 abgehandelt worden sind. Dabei geht es um „die Zusammenführung einer großen Zahl von Autorinnen und Autoren der verschiedensten Richtungen und Schulen der Politikwissenschaft zu einer Gemeinschaftsleistung, welche das Fach Politische Wissenschaft zu repräsentieren und eine doppelte Funktion zu erfüllen vermag: nach innen für den wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der Disziplin und über die engeren Fachgrenzen hinweg sowie nach außen für eine interessierte Öffentlichkeit in Politik und Verwaltung, Lehre und Ausbildung, Beratung und Publizistik“(Vorwort, S. VII).
Somit versteht sich das Lexikon als fachwissenschaftliches Nachschlagewerk im Sinne eines lexikalischen Wegweisers durch die Politikwissenschaft.
Herausgeber
Dieter Nohlen lehrte von 1974 bis 2005 als Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg
Rainer-Olaf Schultze war von 1985 bis zum Eintritt in den Ruhestand Professor für Politikwissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kanada-Studien der Universität Augsburg
Entstehungshintergrund
Das Lexikon geht wie bereits erwähnt auf das sechsbändige 'Pipers Wörterbuch zur Politik', das bereits 1985von Dieter Nohlen im R. Piper Verlag, München herausgegeben worden ist, zurück.
Aufbau
Der Band 1 des Lexikons wird mit einem Vorwort zur 4. Auflage vom Juli 2009 eingeleitet; ihm folgt zunächst ein Verzeichnis häufig verwendeter Abkürzungen, sodann ein Verzeichnis verwendeter Abkürzungen von Ortsnamen und schließlich sowohl ein Verzeichnis der Abkürzungen von Zeitschriften wie auch ein Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen. Den Hauptteil des Werkes machen die Stichwörter A-M aus.
Im Folgeband 2 des Lexikons wird man dann die restlichen Stichwörter N-Z sowie ein Verzeichnis der über 150 Autoren vorfinden!
Inhalt
Die Herausgeber weisen in ihrem Vorwort darauf hin, dass im Mittelpunkt der lexikalischen Behandlung der einzelnen Gegenstände weniger die Phänomene selbst stehen, sondern dass die vorrangige Perspektive die wissenschaftliche Bearbeitung der Gegenstände innerhalb der verschiedenen Teildisziplinen ist. Dabei sollen als wissenschaftliches Instrumentarium die Theorien, Konzepte, Ansätze, Methoden und Forschungstechniken in den Blick gerückt werden.
Erklärtermaßen geht es einerseits sowohl um den Begriffs-, Methoden- und Theorienpluralismus und um die definitorische Erfassung und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der genannten Erkenntnisinstrumente und -träger, andrerseits um den Zusammenhang von Begriffen, Methoden und Theorien und den damit verbundenen wechselseitigen Einflüssen und Abhängigkeiten, Verbindungen und Erkenntnisinteressen (siehe S. VIIf.).
Die Herausgeber verstehen ihr Lexikon als alternative Einführung in die Politikwissenschaft und weisen ihm somit eine besondere Funktion im Rahmen dieser Fachwissenschaft in dem Sinne, dass man damit das Erzielen einer höchstmöglichen definitorischen Klarheit erreichen will, zu.
Indem die einzelnen Begriffe Erläuterung finden, will man zugleich einer allzu fachsprachlichen Entwicklung der Disziplin, die sich die Gesellschaft zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Betrachtung zum Ziel gesetzt hat, in gewisser Weise eine Allgemeinverständlichkeit entgegensetzen.
Schließlich legen die Herausgeber noch Wert darauf, dass sie das Lexikon nach dem Bausteinprinzip auf der Basis eines pluralistischen Wissenschaftsverständnisses konzipiert haben.
Da es nicht möglich und völlig unangebracht erscheint, auf alle der (in beiden Bänden ca. 1300) lexikalischen Begriffe einzugehen, sollen an dieser Stelle exemplarisch die drei Begriffe 'Demokratie', 'Freiheit' und 'Gerechtigkeit ' herausgegriffen werden, anhand derer die Vorgehensweise erklärbar erscheint.
Wenden wir uns zunächst dem Begriff 'Demokratie' zu:
Nachdem Michael Krennerich sich zuvor mit der sog. 'defekten Demokratie', die in Deutschland als verwandtes Konzept zur Bezeichnung politischer Systeme der dritten Welle der Demokratisierung, durch Defekte, Fehlen bestimmter Merkmale oder gar Fehlentwicklungen gekennzeichnet, verstanden wird, zugewandt hat, erläutert Rainer-Olaf Schultze in seinem 'Baustein' konkret den 'Demokratie'-Begriff. Nach einer therminologischen Sezierung werden Kriterien demokratischer Herrschaft aufgelistet und erklärt, sodann wird auf die „unaufhebbar zusammengehörenden, aber auch widersprüchlichen Kernelemente moderner Demokratie: Schutz, Partizipation und Inklusion“ in Verknüpfung „mit der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates“ eingegangen (S. 137).
Rainer-Olaf Schultze unterscheidet des weiteren drei normative Modelle von Demokratie, nämlich das liberale Demokratiemodell und die Modelle einer republikanischen und deliberativen Demokratie, ehe er noch auf die Vielfalt von Formen der Demokratie eingeht. Beispielsweise werden die identitäre, direkte, plebiszitäre, aber auch repräsentative Demokratie genannt und in concreto erläutert. Schließlich geht der Autor noch auf die Demokratie als Erfolgsmodell und dessen Gefährdungen ein. So verweist er beispielsweise auf die bereits von Toqueville postulierte 'Diktatur der Mehrheit', welche Minderheiten auszugrenzen droht, oder aber auf dauerhafte Herausforderungen etwa durch Technokratie, Bürokratisierung und Selbstprivilegierung sowie „die Ausrichtung [politischen Handelns und Entscheidens] am Terminkalender der Wahlen“ mit der Folge, dass „Probleme langfristiger Natur nur unzulänglich bearbeitet werden“(S. 139).
Sodann geht es um eine nähere Betrachtung des Begriffs 'Freiheit':
Michael Th. Greven greift bei der Definierung des Freiheits-Begriffs auf die Französische Revolution zurück und sieht ihn seither als Legitimationsbegriff jeder Herrschaft, an welchem „fortan kein Regime mehr darauf verzichten mochte und konnte, wenn es sich denn als freiheitlich deklarieren wollte“(S. 277). Er verweist des weiteren darauf, dass im 20. Jahrhundert die Vorstellung von Freiheit als unbeschränkbares Menschenrecht der Individuen hinzugetreten und in Menschenrechtserklärungen kodifiziert worden ist.
Nach dieser einleitenden Begriffs(er)klärung nimmt sich der Autor die historische Entwicklung vor, indem er zunächst darauf verweist, dass in das heutige Freiheitsverständnis die verschiedensten Ansprüche und Prinzipien eingeflossen sind, wie zum Beispiel ein natürliches, ein ständisches, ein bürgerliches und ein politisches Freiheitsverständnis, wobei letztlich die abendländisch-europäische Tradition zur universellen Anerkennung des Freiheitswertes beigetragen habe (vgl. S. 278).
Historisch blickt der Autor zunächst in die Entwicklung der 'polis' und des Politikbegriffs im 6. Jh. v.Chr., erläutert die Reformen des Kleisthenes und weist darauf hin, dass die politische Freiheit bei den Griechen streng auf das öffentliche Leben beschränkt geblieben ist und eine materielle Unabhängigkeit und freie Zeit vorausgesetzt hat (ebd.).
Greven widmet sich in einem zweiten Abschnitt den neuzeitlichen Entwicklungen des Freiheitsbegriffs, geht auf den Republikanismus von J. J. Rousseau mit dessen Vorstellungen eines 'Gesellschaftsvertrags' sowie eines Naturrechts auf Freiheit ebenso ein, wie die Kritik von Thomas Hobbes und dessen Befürchtung, dass es bei Existieren eines 'freien Bürgers' zu Anarchie und Krieg kommen würde. Ein aus dem Denken, dass Freiheit nur widerruflich gewährt und unter dem Vorbehalt eines aus souveräner Gewalt resultierenden Absolutismus bleiben müsse, entwickle sich ein von John Locke so gesehener absolutistischer Herrschaftsanspruch, welchen er dahingehend abschwächt, „indem er den Gesellschaftsvertrag an den ursprünglichen Zweck von Sicherheit und Eigentum bindet“ (S. 278).
Nach einer Darlegung des Weges über eine bedeutsam gewordene Religionsfreiheit hin zu einem bürgerlichen Freiheitsverständnis, schließt der Autor den Abschnitt mit der Entwicklung des Freiheitsverständnisses aus dem liberalen Rechtsstaatgedankens des 18. Jahrhunderts und der Weiterentwicklung des Liberalismus und der modernen Form der Repräsentativen Demokratie seit dem 19. Jahrhundert ab.
Was die Interpretation des Freiheitsbegriffs durch Greven bedeutsam macht, ist sicher das Herausgreifen der – seiner Ansicht nach in der Geschichte der Freiheit – vernachlässigten ständischen Freiheit als eigenständige Traditionslinie in der geschichtlichen Entwicklung der Freiheit. Er verweist dabei u.a. auf die Rechtstraditionen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation (vgl. S. 279).
Der letzte Abschnitt steht in Verbindung zu den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, in welchem der Autor das Hinzutreten von zwei neuen politisch virulenten Dimensionen zu den bis dahin bestehenden Variationen der historischen Freiheitsideen erkennt. Bezugnehmend auf die Marxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie und Gesellschaft nennt Greven zum einen das Entstehen des Bewusstseins der materiellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen individueller Freiheit im Sinne von Teilhabechancen an einem wohlfahrtstaatlichen demokratischen Verfassungsstaat, mit Blick auf das Freiheitliche einer sozialistischen Ausprägung und der staatlich verankerten Gewährleistung sozialer Rechte (ebd.)
Zum anderen geht der Autor im letzten Abschnitt auf die Position des Individuums in den modernen Industriegesellschaften mit deren sozialen Modernisierungsfolgen funktional ausdifferenzierter Großgesellschaften ein. Er benennt den kulturkritischen Freiheitsdiskurs von Friedrich Nietzsche, die pessimistischen Einschätzungen von Max Weber, aber auch W. Adornos „Schwanengesang auf Individualität und Subjekthaftigkeit in der 'total verwalteten Welt' “ (S. 179). Der Beitrag schließt mit der Erkenntnis, dass der historische Privilegiencharakter der Freiheit wieder stärker ins Bewusstsein rückt.
Im dritten Stichwort, das hier näher betrachtet werden soll geht es um den Begriff 'Gerechtigkeit':
Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass die beiden Herausgeber für die Erläuterung des Begriffs 'Gerechtigkeit' sich der profunden Sachkunde von Otfried Höffe vergewisserten. Dieser greift natürlicherweise zunächst auf Platon und Aristoteles und deren Bedeutsamkeit für die abendländische Philosophie hinsichtlich der Gerechtigkeit als moralische Leitlinie für Recht, Staat und Politik und als Kardinaltugend für die Individuen zurück. Der Autor weist aber auch darauf hin, dass die näheren Maßstäbe oder Prinzipien der Gerechtigkeit „so heftig umstritten [sind], dass sich zumal in der Neuzeit in verschiedenen Varianten eine gerechtigkeitstheoretische Skepsis ausbreitet“ (S. 305). Er geht sodann zunächst auf die wissenschaftstheoretische, danach auf die rechtstheoretische (= Rechtspositivismus) und schließlich auf die normative (= Utilitarismus) Variante dieser Skepsis ein.
Es folgen ausführlichere Betrachtungen bzgl. einer Gegenbewegung zu Beginn der 1970er Jahre zur gerechtigkeitstheoretischen Skepsis, indem Höffe insbesondere auf das Werk von John Rawls 'Theory of Justice' rekurriert und dessen Aussagen darlegt. Des weiteren geht der Autor auf die seines Erachtens in der Gerechtigkeitsdebatte vernachlässigten Bereiche, die zum einen das Verhältnis der Staaten zueinander und zum anderen das Verhältnis der jetzt Lebenden zu den künftigen Generationen, vor allem ökologischen, finanz- und sozialpolitischen Aspekten betreffend, ein.
Im zweiten Abschnitt wendet sich Höffe der personalen und der politischen Gerechtigkeit zu. Dabei benennt er beispielsweise für ein institutionelles Verständnis von Gerechtigkeit die sozialen Institutionen und Systeme, als da zum Beispiel Ehe und Familie, Wirtschaft, Schulen und Hochschulen sind, während unter der politischen Gerechtigkeit Recht, Staat und Politik zu subsumieren seien (vgl. S. 306). Der Autor sieht zwar im Laufe der historischen Entwicklung einen gewissen Bedeutungsverlust der personalen Gerechtigkeit gegenüber der politischen Gerechtigkeit, dabei aber zugleich darauf hinweisend, dass die personale Gerechtigkeit zu den moralischen Grundlagen seitens der Bürger wie auch der Amtsträger gehört, „ohne die der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat nicht überleben kann“ (S. 306).
Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit den Prinzipien der Gerechtigkeit. Hier wird beispielweise auf das Prinzip der Gleichwertigkeit, auf die Prinzipien der Verteilung und hier vor allem der Tauschgerechtigkeit eingegangen. Höffe geht in diesem Zusammenhang weniger auf die materiellen, sondern insbesondere auf die ideellen Vorteile wie Macht, Sicherheit, gesellschaftliche Anerkennung, Freiheiten und Chancen zur Selbstverwirklichung etc. ein. Des weiteren wirft er die Frage auf, ob der Tauschcharakter der Freiheitsrechte erkannt werden und ob die Bürger sich auf einen Tausch einlassen (sollen). Wird ein derartiger Tausch als ein gegenseitiges Geben und Nehmen verstanden, so ist der Tausch als gerecht zu deklarieren. Hier wird der Bogen von den Freiheitsrechten bis hin zu den Menschenrechten unter dem Signum der Gerechtigkeit gespannt.
Im letzten Abschnitt geht es um die Bedeutung der Gerechtigkeitsidee für die Politikwissenschaft: „Die Politik ist unser Schicksal, die Gerechtigkeit verleiht ihm Würde“ (S. 309) – so nennt der Autor das hierfür geltende Motto. Unter Bezugnahme auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann werden sowohl eine politiklegitimierende, wie auch eine politiknormierende Gerechtigkeit genannt.
Diskussion
Der vorliegende Band gibt auf 634 Seiten Erläuterungen politikwissenschaftlicher Begriffe der ersten zwölf Buchstaben des Alphabets. Dabei fallen die Einzelbetrachtungen der Stichwörter naturgemäß in unterschiedlicher Länge aus. Jedem bearbeiteten Stichwort werden Literaturhinweise angehängt.
Insoweit besteht eine gewisse Kontinuität in der Präsentation. Wenn man auf die Vielzahl der Beitrags-Autoren (insgesamt über 160 Autoren und Autorinnen beider Bände) blickt, so wird man nicht nur eine gewisse Differenzierung hinsichtlich politikwissenschaftlicher Ausrichtungen feststellen können, sondern auch bezüglich der individuellen Darstellungs- und Betrachtungsweisen im Bezug auf die jeweilige Stichwortbearbeitung, sondern auch auf Diktion, Semantik und Schwerpunktsetzung. Allerdings gilt es auch darauf hinzuweisen, dass wohl allen Bearbeitungen gemein ist, ausgehend von einer zunächst etymologischen Begriffsklärung, die historische Entstehung und Entwicklung der Begrifflichkeiten darzulegen. Soweit erkennbar kommt es bei den Abhandlungen zu keinen direkten Überschneidungen von Begriffsbestandteilen anderer Stichwörter, allenfalls zu entsprechenden Verweisen.
Fazit
Bezogen auf den vorliegenden Band 1des Lexikons lässt sich eine wohl umfassende Erfassung aller wesentlichen Theorien, Methoden und Begriffe der Politikwissenschaft feststellen, wenngleich deren inhaltliche Ausgestaltung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass im jeweiligen Einzelfall zum einen die jeweils angegebenen Literaturhinweise zu Rate gezogen werden sollten und zum anderen die vertiefende Befassung mit den Begriffsinhalten, Theorien und Methoden mittels spezieller weiterführender Literatur unumgänglich erscheint.
Somit ist das Lexikon der Politikwissenschaft genau das, was es sein will, nämlich ein umfassendes Nachschlagewerk zur schnellen Orientierung und Definierung. Es wird somit seinem am Anfang genannten Anspruch, einen wissenschaftlich differenzierten Diskurs führen zu wollen, in vollem Umfang gerecht.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
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