Anja Röcke, Steven Sello (Hrsg.): Lebensführung, Lebenskunst, Lebenssinn
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 29.09.2022

Anja Röcke, Steven Sello (Hrsg.): Lebensführung, Lebenskunst, Lebenssinn. Im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
204 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6189-5.
D: 34,95 EUR,
A: 35,90 EUR.
Reihe: Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensführung.
Entstehungshintergrund
Dieser Sammelband enthält Beiträge der Tagung „Lebensführung, Lebenskunst, Lebenssinn. Soziologie, Philosophie und Psychologie des Lebens“. Diese fand anläßlich der Emeritierung von Prof. H.-P. Müller im Januar 2019 in Berlin statt.
AutorIn
PD Dr. A. Röcke ist Gastprofessorin und vertritt der Lehrstuhl Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin. Steven Sello forscht als Doktorand am Max-Weber-Kolleg an der Universität in Erfurt.
Inhalt
Sello/Röcke starten im Kapitel Lebensführung, Lebenskunst, Lebenssinn – Einführende Bemerkungen mit DER Frage der Moderne: „Wozu lebst du eigentlich?..“ von Bov Bjorg (S. 6). Antworten auf diese Frage versuchen Wissenschaftler:innen aus soziologischer, philosophischer wie auch psychologischer Perspektive zu beantworten. Zunächst werden die Schlüsselbegriffe „Leben“, „Lebenssinn“ und „Lebenskunst“ sowie „Lebensführung“ definiert.
Daran anknüpfend setzt sich Michael Makropoulos in vier Themenschwerpunkten mit der Kontingenz des Lebens auseinander. Der Autor erschließt den Begriff der Kontingenz aus der philosophischen sowie politischen Perspektive. Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit der Theorie von Plessner, für den der Begriff des Lebens das „erlösende“ Wort der Gegenwart ist. Hervorzuheben ist die Erkenntnis, dass nur lebt, wer das Leben auch führt. Einen weiteren Schwerpunkt legt der Verfasst auf das Konzept der Bio-Macht von Foucault. Wobei die Brücke zur Mittelschicht und dem Zwang zur Selbstoptimierung geschlagen wird. Mit der Erkenntnis, dass die „Ästhetisierung des Sozialen“ die konsequente Ergänzung der Ökonomisierung ist (S. 33), endet der Theorieteil und es erfolgt im vierten Abschnitt die Synthese der Erkenntnisse und der Bezug zur Kontingenz des Lebens wird hergestellt.
Auf der Suche nach dem modernen Lebenssinn begibt sich Hans-Peter Müller auf „Simmel Recherche“ mit drei Schritten. Müller eruiert und diskutiert die Lebensphilosophie Simmels. Zunächst wird der Frage nachgegangen, was es heißt in der modernen Gesellschaft zu leben (soziologische Perspektive). Im zweiten Schritt (kulturphilosophisch) wird problematisiert, ob und ggf. wie Kultur die Lebensführung anleiten kann. Im dritten Schritt (lebensphilosophisch) wird Ausblick auf die „soziologische Metaphysik“ (Simmel) gegeben. Der Autor folgt der Frage, „… wie das Lebewesen beschaffen ist…“ (S. 38). Die Hommage an das unvollendete Werk Simmels mündet u.a. in dessen philosophischer Auffassung, dass die letzten Dinge in der Wissenschaft und im Leben sowieso nicht sagbar sind.
Wilhelm Schmid zeigt in seinem Buchbeitrag, was es heißt, Das Leben verstehen. Praxisrelevanz der Lebenskunst am Beispiel der Arbeit in einem Krankenhaus. Vorgestellt wird die Umsetzung einer Philosophie der Lebenskunst im Krankenhaus (KH). Zu Beginn der 10 jährigen Tätigkeit im KH fragte sich der Autor: „Was soll ein Philosoph im Krankenhaus?“ (S. 67). Krisen und Krankheit scheinen zum Nicht-Gelingen des Lebens zu führen. In solch einer Situation hilft Lebenskunst. So nahm sich Schmid anfangs Zeit für Gespräche im KH und Philosophie wurde zunehmend zur geistigen Nahrung. Die Stärke des Philosophen im multiprofessionellen Team im KH zeigt sich im Verstehen der Denkwelten und dem Bewußtsein der Menschen. Und so wurde die „philosophische Seelsorge“ als Begriff kreiert. Themen wie Sinn, Besinnung, Glück und Perspektiven bewegen die gemeinsamen Gespräche des Autors mit den Patient:innen. Und: der Sinn im Tod besteht in der Achtung des Lebens. Und als Fazit steht die Frage: „Wie kommen eigentlich die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus?“ (S. 67).
Lebenskunst im therapeutischen Kontext – Ein idealtypisches Stufenmodell, weist darauf hin, dass Lebenskunst helfen kann, wieder Ordnung in ein Leben, welches in seiner existentiellen Bedeutsamkeit erschüttert ist, zu bringen. Ausgehend von der Annahme, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen an existentielle Grenzen ihres Lebens geraten, gehen Günter Gödde und Jörg Zirfas davon aus, dass Überlegungen zur Lebenskunst therapeutisch genutzt werden können. Und auch wenn, im therapeutischen Sinne, Lösungen ebenfalls an neue Anforderungen geknüpft sind, so öffnen sich doch neue Lebensperspektiven.
Anknüpfend an den Aufsatz von Simmel „Soziologie der Geselligkeit“, setzt sich Denis Thouard mit Umgangsformen. Ein Modellfall der Formalisierung auseinander. Der Autor arbeitet die Bedeutung Simmels Werk in Bezug auf die „große“ Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Die Umgangsformen werden in ihrer Funktionalität für den Zusammenhalt der Gesellschaft verdeutlicht. Eine Bereicherung des Beitrages liefert der Exkurs zur „Sozialisierung und Zivilisation durch Mahlzeiten“ S. 110). Danach erhebt sich die Mahlzeit von der Lebenserhaltung zur sozialen Aktivität der Gruppen und, so die Schlußfolgerung, Geselligkeit gilt als die eitelste Form von Gesellschaft.
Ambivalente Autonomiegewinne. Sozialpolitik als Rahmen der Lebensführung stehen im Focus der Ausführungen von Georg Vobruda. Die Schere zwischen dem Autonomieversprechen und gesellschaftlichen Zwängen charakterisiert u.a. die moderne Lebensführung. Als Antwort auf dieses Mißverhältnis folgt die Entwicklung des Sozialstaates. Der Autor weist den Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und einem funktionalem Arbeitsmarkt nach. Die weiterführenden Forschungen müssen exakt diesem Verhältnis nachgehen: dem Verhältnis des Anteiles der „Sozialpolitik an der Ausbildung unterschiedlicher Versionen von Lebensführung und … nach dem Veränderungsdruck von realisierter Lebensführungen auf Sozialpolitik.“ (S. 134).
Hildegard Maria Nickel schließt mit ihrer Frage an: „Gute Arbeit“ oder „gutes Leben“? Dilemmata der Lebensführung von hochqualifizierten Fach- und Führungskräften. Diese Fragen werden von hochqualifizierten Fachkräften zunächst mit „und“ beantwortet. Aus den Ergebnissen des Forschungsprojektes „Reproduktion und Partizipation. Fach- und Führungskräfte als arbeits- und geschlechterpolitische Akteure der Deutschen Bahn AG…“ kommt die Autorin zu dem Schluß, das Unternehmen Arbeitsprozesse sowie Führungsaufgaben indirekt und direkt mit Hilfe leistungspolitischer Vorgaben steuern. Trotz der aufkommenden Frage unter den „Hochqualifizierten“ nach der Gestaltbarkeit eigener Lebenszusammenhänge zeigen sich vor allem hochqualifizierte weibliche Fach- und Führungskräfte quasi als Pionierinnen bzgl. einer „reflektierten, ihrer Reproduktionsinteressen folgenden Lebensführung.“(S. 159).
Gunter Gebauer legt in seinem Beitrag den Focus auf die Selbst-Führung im Spitzensport. Er rückt den Blick weg von den medial gezeigten Erfolgsgeschichten weniger Sportler:innen hin zum „Lebensprojekt“ Sportkarriere. Der Weg in den Spitzensport geht, so der Autor, über eine „rationale Lebensführung“ sowie eine freiwillig, selbst erbrachte Leistung, im Sinne der „Protestantischen Ethik“. Die philosophische Frage nach der Lebenskunst bei Sportler:innen kann besonders im Profisport nur bedingt beantwortet werden. Finanzielle Abhängigkeiten, einkalkulierte Unfairness im Sport fördern auch aktuell ethisch fragwürdiges Verhalten im (Spitzen)Sport. Der Verfasser belegt exemplarisch seine Ausführungen und kommt schlussendlich zum Fazit: „Zur Ethik des Sports gehört die ständige Anstrengung einer Ethisierung des Sportlers durch Selbst-Führung“ (S. 171), die Bändigung des ständigen Begehrens andere zu besiegen.
Im Mittelpunkt des Beitrages von Ingrid Gilcher-Holtey steht die „…ethisch-politische Vision der sozialen Welt…“ (S. 174) der Neuen Linken. 1968 und die alternative Lebensführung fokussiert die Dynamik dieses Jahres. Exemplarisch an drei Szenen erläutert die Autorin die Veränderungen und die sich daraus abzuleitenden Prinzipien der Lebensführung. Wobei das handlungsstiftende Element die Diskrepanz „…zwischen der Wirklichkeit und einer imaginierten anderen, neuen Ordnung“ (S. 175) darstellt.
Überleben und über „Leben“ - zu Konzeptionen der Lebensführung schreibt Georg Lohmann. Die Kernfrage lautet: Was ist Leben sowie ein gelingendes Leben? Nachdem Antworten auf diese Fragen abgeleitet wurden, geht der Autor der Frage nach, wie gelebt wird. Die unterschiedlichen Voraussetzungen bilden die Basis für unterschiedliche Lebensführungskonzeptionen, so Lohmann.
Diskussion
Dieses Fachbuch geht auf die Tagung „Lebensführung, Lebenskunst und Lebenssinn. Soziologie, Philosophie und Psychologie des Lebens“ (2019 in Berlin) zurück. Die unterschiedlichen Beiträge kreisen inhaltlich um die Lebenskomponenten Lebensführung, Lebenskunst und Lebenssinn und betrachten diese aus den Blickwinkeln der Soziologie, Philosophie und Psychologie. Die Autor:innen verfolgen das Ziel, einen Brückenschlag zwischen den Disziplinen zu bauen. Auf dieser Verbindung wird ein vielschichtiges Bild der Herausforderungen, Formen und Folgen des Lebens in der Gegenwart gezeichnet. In elf Beiträgen setzen sich die Verfasser:innen intradisziplinär mit den ausgewählten Lebenskomponenten auseinander, wobei der Begriff des „Lebens“ stets im Focus steht. Inhaltlich bewegen sie sich in den Bereichen der wissenschaftstheoretischen Rezeption, dem Praxistransfer sowie der Fallanalyse. Diese komplexe Fachdiskussion der Themen „Lebensführung, Lebenskunst und des Lebenssinns“ regen Leser:innen zur Reflexion des Lebens an, verweisen auf die Bedeutung des Lebenssinns und verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie in der Moderne. Ob in der Wissenschaftsdebatte (basierend u.a. auf den Schriften von Simmel und Foucault), Sinndiskussionen mit Patient:innen während deren Klinikaufenthalten oder mit dem Blick auf das Individuum (konkret von Leistungssportlern), wird doch die Bedeutung der Sozialwissenschaften für das Verstehen des Lebens im Allgemeinen sowie bei der Gestaltung des Lebens in der Moderne deutlich.
Fazit
Dieser Sammelband stößt Lerser:innen auf das Wesentliche: das Leben. In diesem Zusammenhang werden Fragen nach dem „Wie“, „Wohin“ und „Wofür“ aufgeworfen und z.T. Antworten gegeben. Diese komplexen Fragen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen bereichern und erweitern die Fachdiskussionen einerseits und sensibilisieren Nichtwissenschaftler:innen andererseits zum Nachdenken über eigene Prioritäten, wie der Wunsch nach Optimierung. Dank der sehr differenzierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung finden generell Interessierte an den allgemeinen Fragen zum Leben Anregungen und Antworten. Deshalb verdient dieses Fachbuch eine breite Beachtung in den Fachgremien sowieso im Studium der Sozialwissenschaften, im Berufsfeld der Krisenintervention i.w.S. Die Aufgabe dem Leben einen Sinn zu geben bleibt eine Lebensaufgabe, mit der sich jeder Mensch auseinandersetzen sollte. Dieser Sammelband hilft dabei – deshalb sollten ihn möglichst viele Menschen lesen … und mit sich selbst in Beziehung setzen.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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