Sarah Nimführ: Umkämpftes Recht zu bleiben
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 19.08.2024
Sarah Nimführ: Umkämpftes Recht zu bleiben. Zugehörigkeit, Mobilität und Kontrolle im EUropäischen Abschieberegime. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2020. 375 Seiten. ISBN 978-3-89691-052-3. D: 40,00 EUR, A: 41,20 EUR.
Thema
Asyl ist ein Menschenrecht und sprengt eigentlich die Grenzen von Nationalstaaten. Aber innerhalb der Nationalstaaten ist der Raum zwischen dem Asylbegehren und dem Recht zu bleiben ein hochgradig rechtlich durchregulierter Raum, der Schutzsuchende einer Vielzahl von restriktiven Regeln unterwirft. In der Migrationsforschung werden die Strukturen der Kontrolle und die Folgen für Schutzsuchende vielfach untersucht – Geflüchtete erscheinen hier oft eher als Opfer des Grenzmanagements. Die Studie von Sarah Nimführ begreift transnationale Mobilität trotz aller restriktiven Regeln als Chancennutzung. Am Beispiel von nicht abschiebbaren Migrant:innen ohne Aufenthaltsstatus in Malta zeigt die Autorin, wie Geflüchtete in rechtlich fast ausweglosen Situationen als aktive Akteur:innen versuchen, die Grenzen der EU zu umgehen. Im Sinne der kritischen Grenzregimeforschung begreift die Autorin Migrationsbewegungen als soziales Verhältnis, in dem sich im Zusammenspiel der Praktiken von migrationskontrollierenden Akteuren und von auf Ortsveränderung ausgerichteten Migrant:innen verschiedene – wenn auch sehr beschränkte – Formen von Handlungsmacht entfalten.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin ist Kulturanthropologin und kritische Migrationsforscherin, weitere Schwerpunkte sind Exilforschung und Island Studies. Die vorliegende Monographie, die auf einen mehrjährigen kollektiv verstandenen Forschungsprozess zurückgeht, wurde als Dissertation angenommen. Aktuell forscht Sara Nimführ zu transnationale Erinnerungskulturen an der Kunstuniversität Linz.
Aufbau
Das Buch basiert auf den Ergebnissen einer ethnografischen Forschung zwischen 2015 und Juli 2018 in Malta mit mehreren Forschungsaufenthalten sowie diversen Besuchen von Forschungspartner:innen an weiteren Orten in der EU. Es ist in sieben Kapitel aufgeteilt, verweigert sich jedoch der klassischen Aufteilung von Theorie, Forschungsstand, Empirie und Auswertung. Es wird keine strikte Trennung zwischen Theorie- und Empirie-Teil vollzogen, da die Daten iterativ und rekursiv erhoben und jeweils im Rekurs auf Theorie analysiert wurden – daraus ergaben sich weitere, neue Fragen an die Empirie, die dann auch wieder in die Datengenerierung einflossen.
Dennoch sind die ersten beiden Kapitel der Theorie gewidmet und sollen eine „Navigationshilfe“ (29) für die folgenden Kapitel darstellen. Im ersten Kapitel zu Begriffen wie Grenzregime, Grenze und Limboscape werden begriffstheoretische Kontexte aus der kritischen Grenzregimeforschung erläutert. Anschließend werden verschiedene Konzepte des „Dazwischens“ und des „Entgrenzten“ diskutiert, um den von der Autorin entwickelten Begriff der Limboscape einzuführen. Im zweiten Kapitel wird das Forschungsdesign vorgestellt, wie beispielsweise das Sample, die verschiedenen Erhebungsprozesse und damit die Methode der ethnografischen Grenzregimeanalyse, sowie eine kritische Reflexion auf Positionalität bzw. die Position der Autorin.
Im dritten Kapitel werden Hintergründe des EU- und maltesischen Grenzregimes vermittelt und die Situation der nicht abschiebbaren Geflüchteten dargestellt. Im vierten Kapitel wird näher auf die Flucht bzw. Migrationsgeschichten der Forschungssubjekte- bzw. partner:innen eingegangen und am Beispiel von fünf Porträts die Erzählungen der Geflüchteten vor ihrer Einreise in Malta erzählt. Im nächsten (fünften) Kapitel werden anhand von weiteren Geschichten Räume des Alltagslebens der Geflüchteten ausgezeichnet und analysiert, wie das Abschiebegefängnis, die Wohnsituation etc. Nach der Darstellung der Situation auf Malta werden im sechsten Kapitel Migrationsbewegungen einiger Geflüchteter jenseits von Malta nachgezeichnet. Im siebten Kapitel wird das zentrale Konzept Limboscape mit Hilfe des Datenmaterials gefüllt. Abschließend reflektiert die Autorin ihre Forschungsmethode als Kollaborationsform und zeigt die Notwendigkeit kollaborativer Wissensproduktion auf. In einem Epilog kommen noch mal ausgewählte Forschungspartner:innen zu Wort und es wird von deren aktueller Lebenssituation berichtet.
Inhalt
In der Arbeit geht es um Zwischenräume in Grenzregimes und diese werden mit den Geschichten nicht abschiebbaren Flüchtlinge analysiert. Die Betroffenen sind nach Malta gekommen, ihr Asylantrag wurde abgelehnt, sie haben kein Aufenthaltsrecht und sind ausreisepflichtig, können aber aus verschiedenen nicht von ihnen verantworteten Gründen nicht abgeschoben werden bspw. weil es keine Rückführungsabkommen mit den betreffenden Staaten gibt oder keine Verkehrsmittel. Die Betroffenen waren teilweise monatelang inhaftiert und haben keinen oder nur begrenzten Zugang zu Beschäftigung, Dienstleistungen oder Gesundheitsversorgung. Ihr Alltag ist geprägt von restriktiven rechtlichen Regularien, die für sie selbst völlige Rechtlosigkeit bedeuten. In diesem Zwischenraum arbeiten sie, wohnen sie, bilden sie sich weiter, versorgen Probleme der Gesundheit, nehmen sie an der Mehrheitsgesellschaft teil, sind phasenweise politisch aktiv, organisieren sich in verschiedenen communities, halten Kontakt zum Herkunftsland. Sie leben also sehr aktiv und versuchen, irgendwie irgendwo in Sicherheit ein Bleiberecht zu erhalten. Wie bereits erwähnt rekonstruiert Nimführ in diesen Praktiken des Alltags Handlungsmacht, verstanden als interaktiver Prozess zwischen Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handeln sowie sozialen und rechtlichen Zwängen und individuellem Autonomiebestreben. Für den winzigen Zwischenraum der Existenzgestaltung benutzt sie den Begriff des Limboscape im Sinne eines begrenzten Übergangsraums, der geprägt ist von dem Bestreben der Betroffenen zu überleben, zu bleiben oder weiter zu wandern, was einigen auch nach vielen Jahren und Suchbewegungen gelingt. Die Perspektive der Limboscape ermöglicht, auch migrantische Praktiken des Widerstands und der Aneignung sichtbar zu machen, die in vielen Forschungen zu Abschiebungen nicht thematisiert werden, ohne dass die Subjekte voluntaristisch zu Helden verklärt werden.
Ferner nehmen methodische Fragen einen breiten Raum in dieser Arbeit ein. Relevant ist einerseits die mit Bourdieu und Wacquant verknüpfte Auffassung, dass jeder Forschungsakt sowohl empirisch als auch theoretisch sei, da das Verhältnis von Theorie und Empirie ein wechselseitiges Bedeutungsverhältnis ist. So versteht Nimführ ihre Arbeit als einen Beitrag zu einer reflexiven sozialen Anthropologie. Zum anderen begreift Nimführ Forschung als kooperativen oder – wie sie sagt – kollaberativen Prozess. Sie bezeichnet ihre Proband:innen als Forschungspartner:innen und arbeitet immer wieder neu heraus, wie verstrickt Datenerhebung und Auswertung sind und sich spiralförmig weiter bewegen. Sie zeigt, wie die Erzählungen der Geflüchteten zu Wendungen in ihrem Forschungsprozess führten und das Erkenntnisinteresse, Methoden, sampling und Auswertung beeinflussten. Die Autorin reflektiert in diesem Kontext ihre Position auch immer wieder neu und gesteht ein, dass in der Fluchtforschung Forschung trotz aller Reflexionsbemühungen immer ein Schreiben über ein Thema bleibt, versteht ihren Beitrag aber als Arbeit zu den Praktiken und Interaktionen von geflüchteten und nicht geflüchteten Akteur:innen und nicht als ein Schrieben über sie.
Diskussion
Die gesamte Publikation ist sehr durchdacht, klar strukturiert und nachvollziehbar, obwohl sie neue Wege in der Strukturierung von Forschungsprozessen und deren Wiedergabe geht. Mit dem Konzept des Limboscape ist es möglich, in einer von Kontrolle und Begrenzungen geprägten Situation Handlungsmacht auszumachen und diese Perspektive ist absolut notwendig für die Fluchtforschung, weil ansonsten durch Forschung Kontrolle und Abhängigkeiten verdoppelt werden. Die methodischen Überlegungen zu kollaborativen Forschungsprozessen sind absolut notwendig. Um Forschung über Geflüchtete zu vermeiden und deren subjektiven Aspirationen stärker Geltung zu verschaffen, müssen neue Wege im gesamten Forschungsdesign gegangen werden, wofür die Arbeit viele Abstöße gibt. Aber aus Forschungssubjekten die in einer rechtlich völlig restriktiven Situation leben und auf ein von der Forschenden initiierten Forschungsbegehren reagieren gleich Forschungspartner:innen zu machen, erscheint doch sehr voluntaristisch und verkennt die trotz aller Reflexion und Kooperation massiven Positionsunterschiede hinsichtlich Rechtsstatus und Nutzen der Forschung.
Fazit
Dieser als ethnographisch verstandene Forschungsbeitrag zu Flucht und Migration geht weit über bloße Wissenserkenntnis hinaus. Die Rekonstruktion von Handlungsmacht in den Alltagspraktiken nicht abschiebbarer ausreisepflichtiger Geflüchteter politisiert diese und hebt so die Trennung von Wissenschaft und Politik auf. Sie erweitert in der Migrationsforschung den Spielraum dessen, „was denkbar, sagbar und wissbar ist“ (23) und eröffnet sowohl neue Forschungs- als auch Handlungsperspektiven.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 19.08.2024 zu:
Sarah Nimführ: Umkämpftes Recht zu bleiben. Zugehörigkeit, Mobilität und Kontrolle im EUropäischen Abschieberegime. Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2020.
ISBN 978-3-89691-052-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28207.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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