Moritz von Senarclens de Grancy, Rebekka Haug: Suizidalität am Arbeitsplatz
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 24.03.2021

Moritz von Senarclens de Grancy, Rebekka Haug: Suizidalität am Arbeitsplatz. Prävention und Krisenintervention.
Springer International Publishing AG
(Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2020.
46 Seiten.
ISBN 978-3-658-28056-7.
D: 14,99 EUR,
A: 15,41 EUR,
CH: 17,00 sFr.
Reihe: Essentials.
Autor*innen
Dr. phil. Moritz von Senarclens de Grancy hat Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte, Rechtswissenschaften und Psychologie studiert. Er arbeitet als Psychoanalytiker, Paarberater und Supervisor.
Rebekka Haug, M. Sc. hat Psychologie und Gesundheitspsychologie studiert. Sie absolviert derzeit eine Weiterbildung zur psychologischen Psychotherapeutin und bildet sich zudem in Gruppenanalyse und Gruppentherapie fort.
Thema
Das Buch informiert zu Suizidalität in Unternehmen und Organisationen. Es werden Hinweise für den Umgang mit suizidalen Mitarbeiter*innen in Krisen geliefert und Ansätze zur Suizidprävention und Mitarbeiter*innenfürsorge geschildert. Zudem finden sich rechtliche Hinweise für Führungskräfte sowie eine psychologische und kulturgeschichtliche Einordnung des „Tabuthemas“ Selbsttötung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in der Essentials-Reihe des Wissenschaftsverlages Springer erschienen. Die Reihe zeichnet sich dadurch aus, dass Informationen zu Themen aus den Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften, aus Technik und Naturwissenschaften sowie aus Medizin, Psychologie und Gesundheitsberufen in konzentrierter Form aufbereitet werden. Das Buch hat 51 Seiten, von denen 45 Seiten Textinformationen enthalten. Der Text beginnt mit einem Vorwort der norwegischen Psychotherapeutin Renate Grønvold-Bugge, die u.a. die notfallpsychologische Versorgung für die Betroffenen des Terroranschlags auf der Insel Utøya geleitet hat. Grønvold-Bugge schreibt, dass Suizide im arbeitsnahen Umfeld keine Seltenheit seien und sich häufen. Sie konstatiert, dass Suizide in Organisationen „Führung und Mitarbeiter vor schwierige Aufgaben [stellen]; sie werfen unangenehme Fragen nach der Verantwortung auf und rücken die Arbeitsbedingungen in den Fokus“ (S. VII). Als erkenntnisleitende Frage, die zu stellen und zu beantworten Ziel des besprochenen Werkes ist, benennt Grønvold-Bugge (ebd.) folgendes: „Wie hätte sich der Suizid eines Mitarbeiters verhindern lassen?“ Die Autor*innen versuchen, darauf Antworten zu geben und Leser*innen Hintergrundwissen zu liefern. Zwecks dessen nehmen sie im 1. Kapitel (Arbeitsplätze sind Beziehungsplätze – Suizidalität im Unternehmen) zunächst eine Einordnung des Themas in unsere gesellschaftlichen Bedingungen vor und skizzieren Auswirkungen von Suiziden auf Organisationen, u.a. im Hinblick auf den mit ihnen einhergehenden Reputationsschaden und die Belastung für das Kollegium. Sie erklären, dass Arbeit und Suizid in einem „merkwürdigen Verhältnis“ zueinander stünden. Arbeit sei ein Kollektivphänomen, da mit ihr in der Regel die Interaktion von Menschen einhergehe, der Suizid hingegen sei ein einsamer Akt. Senarclens de Grancy & Haug schildern, dass Suizide in Organisationen das Arbeitsklima auch deshalb enorm belasten, weil mit ihnen die Sorge einhergehe, dass weitere Suizide folgen könnten. „Zudem beeinflussen Suizide in Unternehmen natürlich auch die Außenwahrnehmung“, schreiben sie. Selbsttötungen werfen Fragen auf wie diese: „Wie schlecht muss es um die Unternehmenskultur oder um das Betriebsklima bestellt sein, wenn Mitarbeiter keine Ausflucht mehr sehen und sich das Leben nehmen?“ (S. 1).
Bezugnehmend auf Selbsttötungen von Mitarbeiter*innen einer Nichtregierungsorganisation und der France Télécom skizzieren die Autor*innen, dass Suizide am Arbeitsplatz eine Folge dessen seien, dass Organisationen in ihrer schützenden und haltgebenden Funktion versagen. Eine als unmenschlich empfundene Unternehmenskultur, das Fehlen von Verantwortungsbewusstsein bei Führungskräften, Mobbing, Bullying und weiteres trügen dazu bei. Dies könne im Suizid münden. Damit das nicht geschieht, bedarf es den Autor*innen zufolge gezielter Anstrengungen von Organisationen und eine offene Auseinandersetzung mit Suizidalität. Als Ansatzpunkte in diesem Kontext werden „das Verhältnis der Mitarbeiter untereinander, die Bereitschaft, Verantwortung für Kolleginnen und die Organisation zu übernehmen, die Lern- und Integrationsfähigkeit auf allen Hierarchieebenen und insbesondere die Rolle von Sprache und Sprechen im Kontext der Organisationskultur“ benannt (S. 3). Im Hinblick auf die Bedeutung besagte Organisationskultur erläutern die Autor*innen, dass sich Organisationen von jeher in einem „Spannungsbereich zwischen Homöostaseneigung und Veränderungsdruck“ befänden (S. 5). Diese Spannung könne auf Menschen, die in Organisationen arbeiten, belastend wirken, weil es das Sicherheitsbedürfnis negativ tangiere, wenn Veränderungsgeschwindigkeit und Veränderungsumfang sehr groß seien, wenn der Ausgleich von Homöostase und Veränderung also nicht gelänge. Zwecks Prosperität und Mitarbeiter*innenfürsorge müssten Organisationen Gleichbleiben und Sich-Verändern auszubalancieren. Sie müssten den Mitarbeiter*innen ermöglichen, „mit den komplexen und dynamischen Herausforderungen der Märkte und des Menschseins zugleich umzugehen“ (S. 5). Eine bedeutende Rolle bei der Prävention von Suiziden käme den Führungskräften in Organisationen zu, schildern Senarclens de Grancy & Haug. Diese hätten die Aufgabe, „Tendenzen einer Intoxinierung der Organisation etwa als Folge von Überlastung, Effizienzdenken, Isolierung, Mobbing und ähnlicher Faktoren zu erkennen und ihnen rechtzeitig entgegenzuwirken“ (S. 6). Führungskräfte dafür zu sensibilisieren, sei essenziell.
Im 2. Kapitel (Das Selbst töten – Grundlegendes zum Suizid) nehmen Senarclens de Grancy & Haug auf vier Seiten eine sehr kurze kulturgeschichtliche Verortung des Suizids in menschlichen Gesellschaften vor. Sie schlagen einen Bogen von Jesus Christus über Sigmund Freud, Johann Wolfgang von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) bis zu Thomas Machos „Das Leben nehmen“ (2017). Dem an schließen sich Ausführungen über die mit dem Suizid einhergehende „passage-à-l’acte“ und deren Bedeutung für suizidale Personen und deren Umfeld. Unter „passage-à-l’acte“ verstanden wird, so erklären die Autoren, der „Sprung in die Tat mit unabwendbaren Konsequenzen für den Handelnden und sein soziales Umfeld.“ Der Suizid vollende, schildern Senarclens de Grancy & Haug (S. 13), „was auf der Ebene der sozialen Beziehungen – wenn vielleicht auch nur in der Vorstellung des Suizidenten – bereits stattgefunden hat. Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, weshalb das soziale Umfeld nach Überschreiten einer bestimmten Grenze nur noch begrenzten Einfluss hat gegen den überströmenden Affekt, der den Suizid ermöglicht.“
Im 3. Kapitel (Suizidale Krisen und Suizidrisiko)erläutern Senarclens de Grancy & Haug, welche Prozesse bei der Zuspitzung von Krisen ablaufen. Sie unterscheiden akute traumatische Krisen (plötzlich ausgelöst) sowie Veränderungskrisen (lebenspraktische Entwicklungsaufgaben) und erläutern, dass Menschen den Suizid als Option der Krisenbewältigung ansehen, wenn sie keine andere Möglichkeit mehr erkennen, ihre wie auch immer geartete Krise zu „bewältigen“. Suizidale Krisen seien, so schildern die Autor*innen, „häufig nicht akut ausgelöst, sondern die Zuspitzung eines langwierigen, ungelösten (inneren) Konflikts. Mit dem Verlust einer Beziehung oder einer Arbeitsstelle fallen Stabilität, Sinnhaftigkeit und Ablenkung weg. Auch das Nachlassen oder Aufgeben der temporär erleichternden Wirkung eines Suchtmittels, der Wegfall einer Zwangssymptomatik, durch die Herausforderungen vermieden wurden, können destabilisierend wirken“ (S. 16). Angst und Anspannung nähmen kontinuierlich zu, sodass „nur noch Sprünge möglich sind, etwa von Gedanken zu Taten oder im Sinne einer Logik des ‚Ich oder Nichts‘.“ Problematisch sei, dass Menschen in emotional aufwühlenden Situationen mitunter auf einen unreifen Modus der Konfliktbewältigung zurückgriffen und „psychische und äußere Realität“ vermischten, erklären die Autor*innen. In diesem Denkmodus könnten „Todeswünsche und Suizidfantasien zur einzig möglichen Handlungsrealität werden, um dem belastenden Grundkonflikt zu entkommen“ (ebd., S. 16).
Im Hinblick auf die konkrete Entstehung von Suizidalität legen Senarclens de Grancy & Haug dar, dass Suizidalität aus Beziehungen heraus entstehe und „als intrapsychische und interpersoneller Regulationsversuch aufgefasst“ werden könne, „dem der Wunsch zugrunde liegt, eine Objektbeziehung zu verändern (Kind 1992)“ (S. 17). Bedeutsam sei in diesem Kontext auch die Aggressionsumkehr suizidaler Menschen, deren Aggression sich nicht gegen andere richte, sondern gegen das eigene Ich. Die Autor*innen erläutern, dass suizidale Menschen leicht kränkbar seien und oft unter einem geringen Selbstwertgefühl litten, „das sie nicht mit einer Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder Ansprüche integrieren können“ (S. 19). Senarclens de Grancy & Haug unterscheiden fusionäre, antifusionäre, manipulative und resignative Suizidalität, deren Konstitutionsmodi sie erläutern. Dem nach folgen Darlegungen zum Suizidrisiko und Schilderungen dessen, anhand welcher Faktoren sich eine Einschätzung dieses Risikos vornehmen lasse. Neben der Tatsache, dass es vor allem impulsive Männer (oft vereinsamt und alt) seien, die sich das Leben nehmen, benennen Senarclens de Grancy & Haug (S. 20) folgende Risikofaktoren, die sich statistisch herleiten ließen:
- Psychische Erkrankungen, vor allem Depression
- Substanzabhängigkeit und Suchterkrankung
- Geringer sozialer Status
- Soziale Desintegration
- Ehe- und Lebenskrisen
- Körperliche Gebrechen
- Suizidenten in der Familie
- Bereits einmal erfolgte Suizidversuche
- Bereits erfolgte Suizidankündigung
Diese Risikofaktoren gehen den Autor*innen zufolge „mit einer erhöhten Vulnerabilität einher, die auch bei Stress oder Druck am Arbeitsplatz zum Empfinden der Überforderung oder zu Burnout-Krisen führen können“ (S. 20). Bezugnehmend auf Lukaschek et al. (2016) wird erläutert, dass es zudem Risikofaktoren gäbe, die explizit suizidale Krisen am Arbeitsplatz auslösen können. Das sind den Autor*innen zufolge Überlastung, Stress, Versagensangst, Nacht- und Schichtarbeit, viele Überstunden, Schadstoffexposition, harte körperliche Arbeit, Monotonie, ein negatives Betriebsklima, Mobbing, Isolation, Angst vor Arbeitsplatzverlust sowie Diskriminierung (vgl. ebd., S. 20). Außerdem sei es so, dass Suizidalität in gewissen Berufsgruppen häufiger auftrete als im Durchschnitt der Bevölkerung. Als besonders gefährdet benennen Senarclens de Grancy & Haug medizinische Berufe, die Land- und Forstwirtschaft, den Polizeidienst und das Militär. Kolleg*innen und Führungskräften in Organisationen, die den Verdacht hegen, dass jemand suizidale Gedanken haben könnte, empfehlen die Autor*innen, den Personalrat einzuschalten, einen internen Coach zu beauftragen oder eine anderweitig erfahrene Person zu beauftragen, ein Gespräch mit der Risikoperson zu führen und ein Hilfsangebot zu machen. Empfohlen wird, „eine klare Sprache und klare Worte zu benutzen, die weder beschönigen noch dramatisieren“, schildern die Autor*innen (S. 24), bevor sie Fragen auflisten, die zu stellen der Klärung des Gefahrenpotenzials der Suizidalität dienen. Im 4. Kapitel (Krisenintervention) befassen sich Senarclens de Grancy & Haug mit Herausforderungen, Verantwortungen und Grenzen potenzieller Helfer*innen. Als hilfreiche Grundhaltung im Umgang mit Suizidalität benennen sie (S. 28):
- Wertfreies Annehmen des Suizids als Lösungsmöglichkeit
- Ernstnehmen von Leiden, auch wenn sie „absurd“ erscheinen
- Unterstützung der Fähigkeit zur Selbstwirksamkeitserfahrung
- Hoffnung sein statt Hoffnung geben
- Fokus auf aktive Seiten der Person
- Emotionen Raum geben
- Begrenztheit der Helfenden-Funktion/Möglichkeit anerkennen
- Angst aushalten
- Wunsch des Anderen sehen
Des Weiteren gehen die Autor*innen darauf ein, wie die Gesprächsführung im Rahmen der Krisenintervention idealerweise ablaufen, was umgesetzt und was vermieden werden sollte. Als zentralen Aspekt benennen sie u.a. die Fähigkeit, „die Gefühle und Affekte der suizidalen Person wie Hilflosigkeit, Trauer oder Wut, die diese selbst überfordern, aufzunehmen, auszuhalten und sie in annehmbarer Form zu benennen“ (S. 32). Genauso bedeutsam sei die Reflexion der eigenen Rolle bei Krisen im Arbeitskontext. Wichtig sei es, meinen die Autor*innen, „auch die eigenen Ängste, Sorgen und Vorstellungen zu den Themen Tod, Sterben und Suizid zu kennen“ (S. 33). Sie listen diverse Fragen auf, die zu stellen hilfreich sein kann, um sich darüber Klarheit zu verschaffen. Im 5. Kapitel (Präventionsmaßnahmen im Unternehmen) erfolgen konkrete Empfehlungen zur Vorbeugung suizidaler Krisen. Genannt werden u.a. die wertschätzende Teamkultur, die Bedeutung der Führungskräfte, das Benennen von Gatekeepern, das Schulen des Personals und das Angebot von Coachings. All diese Faktoren zielten letztlich darauf ab, eine Organisationskultur zu schaffen und aufrechtzuerhalten, in der Menschen Wertschätzung erfahren und Sinn in ihrem beruflichen Tun erleben. „Um den ersten, meist unbemerkt stattfindenden sozialen Tod zu verhindern, ist es wichtig, die sozialen Bindungen unter den Mitarbeiterinnen zu stärken“, erklären Senarclens de Grancy & Haug (S. 37). Zwecks dessen sei auch „die Etablierung einer positiven Fehlerkultur“ wichtig. Insgesamt käme der humanen Gestaltung der Unternehmenskultur eine hohe Bedeutung bei der Prävention von Suiziden zu, sind die Autor*innen überzeugt.
Im 6. Kapitel (Nach einem Suizid: Rechtliche Aspekte und Aufarbeitung) werden schließlich die rechtlichen Aspekte beleuchtet, die im Kontext von Suizidhandlungen zu kennen sinnvoll sind. Senarclens de Grancy & Haug erklären, dass es sich beim Suizid, der umgangssprachlich oft als „Selbstmord“ bezeichnet werde, nicht um Mord handele, „da zur Erfüllung dieses Tatbestands ein anderer Mensch getötet werden muss. Da der Suizid straflos ist, können nach deutschem Recht daher auch Beihilfe und Anstiftung zum Suizid nicht bestraft werden“ (S. 39). Aus der Sicht von Führungskräften stelle sich allerdings die Frage, so geben die Autor*innen zu bedenken, inwieweit es strafrechtliche Konsequenzen durch unterlassene Hilfeleistung haben können, wenn „die Selbstmordtendenzen im Unternehmen hätten erkannt werden können“. Strafbarkeit durch Unterlassung setze „im deutschen Strafrecht jedoch eine Garantenstellung voraus, welche nur bestimmte Berufsgruppen“ wie Ärzt*innen inne hätten. Bezugnehmend auf § 323c StGB argumentieren Senarclens de Grancy & Haug, dass bei einem „schon beendeten Suizidversuch dem Verletzten oder bewusstlosen Menschen immer zu helfen“ sei (S. 40). Die Autor*innen geben indes zu bedenken, dass Führungskräfte es vermeiden sollten, „zunächst die Klärung rechtlicher Fragen – etwa die Unternehmenshaftung – zu priorisieren“. Im Fokus stehen sollte nach dem Abklingen der Schockphase zunächst der Prozess der Aufarbeitung durch Expert*innen, die in „Traumabewältigung und Notfallpsychologie“ geschult sind. Insbesondere sollten, so wird empfohlen, „Gruppenprozesse etabliert werden, in denen über den Suizid hinaus belastende Erfahrungen wie Mobbing, Bullying, Geheimnistuerei, Misstrauen, Vetternwirtschaft und weitere erlittene Verletzungen gesprochen werden können“ (S. 40). Außerdem plädieren Senarclens de Grancy & Haug für die prospektive Erarbeitung eines Orientierungsstiftenden Rahmenplans, „der innerhalb des Unternehmens erarbeitet wurde und im Falle eines Suizides situativ angepasst werden kann (Austin und McGuinness 2012)“ (S. 41). Es sei, so ihr Fazit, absolut empfehlenswert, sich im Vorfeld umfassend mit dem Thema Suizidalität auseinanderzusetzen und zu erarbeiten, was wie durch wen kommuniziert wird und welche Prozesse bei einem Suizid oder Suizidversuch im Unternehmen eingeleitet werden.
Diskussion
Suizide lassen Mitarbeiter*innen und Vorgesetzte oft nicht nur geschockt zurück, sondern regelrecht ratlos. Fragen wie „Warum?“, „Hätte das verhindert werden können?“ und „Hat mein Verhalten dazu beigetragen?“, stellen sich Mitarbeiter*innen manches Mal. Das jedenfalls ist die Erfahrung, die der Rezensent nach dem Suizid eines Arbeitskollegen gemacht hat. Da man den Menschen, der sich das Leben nahm, nicht zu den Beweggründen fragen kann, die zum Suizid geführt haben, sind Reflexionen dieser Art hypothetisch. Sie sind aber keineswegs nutzlos. Sie können Menschen dabei helfen, ihr Verhalten zu überdenken. Sie können das Bewusstsein für die Gefahren und Bedingungs- bzw. Erleichterungsfaktoren der Suizidalität am Arbeitsplatz stärken. Auch können sie bewirken, dass Menschen in einen (selbst)kritischen Austausch gehen. Kurzum sind solche Fragen einige Bausteine unter vielen, die zur Veränderung einer ggf. toxischen Organisationskultur beitragen können. Was diesbezüglich eine Rolle spielen kann, schildern Senarclens de Grancy & Haug kompakt und verständlich. Sie sensibilisieren und informieren, ohne zu suggerieren, dass ein hundertprozentiger Schutz vor Suiziden möglich sei. Diesen wird es niemals geben. Es kann gleichwohl einiges getan werden, um Selbsttötungen bei der Arbeit bzw. im Kontext der Arbeit unwahrscheinlich(er) zu machen. Es kann einiges getan werden, um Anzeichen für suizidale Gedanken zu erkennen, um das Kollegium dafür zu sensibilisieren und um im Falle dessen, dass ein Suizid am Arbeitsplatz geschieht oder angekündigt wird, Krisenintervention zu leisten.
Ein Gefühl, dass durch Suizidalität bei Hinterbliebenen, Verwandten und Kolleg*innen aufkommen kann, ist Ohnmacht. Sinnvoll ist es, diese aufzugreifen und Menschen Hilfestellung an die Hand zu geben, damit sie erkennen, dass sie so ohnmächtig keineswegs sind. Es kann – so schmerzhaft es auch sein mag – aus einem Suizid für die Zukunft einiges gelernt werden. Es können Strukturen, Prozesse sowie die gesamte Kommunikationskultur im Unternehmen verändern werden. Was getan werden kann und warum es getan werden sollte, listet das Buch von Senarclens de Grancy & Haug gut verständlich in sehr kompakter Form auf. Von der Lektüre dürften vor allem Menschen profitieren, die noch kein Vorwissen zum Tabuthema „Suizidalität am Arbeitsplatz“ haben. Es finden sich zwar manche Fremdwörter im Text, diese werden aber alle erläutert. Wer sich eine kompakte Aufklärung über Suizidalität in Unternehmen und Organisationen wünscht, wird von diesem Essentials-Buch nicht enttäuscht sein. Potenzielle Leser*innen sollten aber wissen, dass es sich ob der Kürze der Darlegungen eher um einen Ratgeber und nicht um ein umfassendes Fachbuch handelt. Das Buch lässt sich binnen 2 Stunden lesen. Insbesondere die Darlegungen zum Suizidrisiko, die Schilderungen, die bei der Einschätzung der Gefährdung helfen sollen und die Darlegungen dessen, was Führungskräfte in Organisationen als Krisenintervention leisten können, sind nützlich. Menschen, die bereits mehrere Texte zur Suizidthematik gelesen oder sich sonst wie Wissen dazu angeeignet haben, werden im Hinblick auf die Begründungs- und Erklärungsmuster von Suiziden wenig Neues aus der Lektüre ziehen, sie können aber ggf. davon profitieren, dass ihr Handlungsrepertoire um manche Anwendungsoptionen ergänzt wird, die im Text benannt werden. Die Empfehlungen im Buch sind praxisorientiert und lassen sich ohne großen Aufwand umsetzen.
Wer sich eine tiefergehende psychosoziale, psychoanalytische und kulturelle Verordnung von Suizidalität erhofft, dürfte von „Suizidalität am Arbeitsplatz“ allerdings enttäuscht sein. Eine multiperspektivische Reflektion des Phänomens Suizid und eine Verortung im Fachdiskurs erfolgen im Buch kaum. Das verwundert auch nicht, denn die Tatsache, dass sich im Text auf gerade mal 45 Seiten Informationen zum Thema Suizidalität finden, bringt unweigerlich mit sich, dass nicht tiefer in die Materie eingestiegen werden kann. Das zu leisten ist aber auch gar nicht das Ziel dieses Essential-Titels. Das Werk eignet sich, um sich ein Überblickswissen und eine Hilfestellung im Umgang mit „Suizidalität am Arbeitsplatz“ anzueignen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wer sich tiefergehend mit psychologischen und kulturwissenschaftlichen Gründen sowie Ablaufprozessen befassen möchte, die im Kontext des Suizids eine Rolle spielen können, wird nicht umhinkommen, weitere Literatur zu sichten. Hinsichtlich der psychoanalytischen Einordnung kann Benigna Gerischs „Suizidalität“ (2012) empfohlen werden. Im Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Selbsttötungen ist Thomas Machos „Das Leben nehmen“ (2017) empfehlenswert, das von Senarclens de Grancy & Haug ebenfalls zitiert wird. Zudem bietet das Literaturverzeichnis von „Suizidalität am Arbeitsplatz“ einige Anregungen für eine potenziell lohnende Lektüre.
Fazit
Die Lektüre liefert eine praktische Hilfestellung dabei, etwaige suizidale Äußerungen von Mitarbeiter*innen zu erkennen und damit adäquat umzugehen. Die Autor*innen legen ein praxisorientiertes Werk vor, mit dessen Hilfe Personalverantwortliche ein Grundgerüst für einen Handlungs- und Präventionsplan im Kontext der Suizidprävention und -aufarbeitung ausarbeiten können. Im Text findet sich Rat für Menschen, die sich nicht nur fragen, wie sie auf Suizide reagieren können, sondern vor allem auch, wie sie dazu beitragen können, Suizide in Unternehmen unwahrscheinlicher zu machen. Das Buch ist empfehlenswert insbesondere für Führungskräfte, die ihre Sensibilität für dieses Thema schärfen und ihrer Verantwortung für den Schutz ihrer Mitarbeiter*innen gerecht werden wollen. Senarclens de Grancy & Haug tragen mit ihren Darlegungen dazu bei, Suizide im wahrsten Sinne des Wortes nicht totzuschweigen, sondern die Selbsttötung als maximal schmerzhafte Irritation und Warnung zu erkennen, auf die verantwortungsvolle Organisationen umfassend zu reagieren haben. Wie sie das leisten können, ist im Buch auf kompakte Weise dargelegt.
Literatur
Gerisch, Benigna: Suizidalität. Psychosozial-Verlag. Gießen 2012
Macho, Thomas: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp Verlag. Berlin 2017
Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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