Reiner Klingholz: Zu viel für diese Welt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.04.2021
Reiner Klingholz: Zu viel für diese Welt. Wege aus der doppelten Überbevölkerung. Edition Körber (Hamburg) 2021. 380 Seiten. ISBN 978-3-89684-286-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,80 sFr.
„Change by Desaster“ – „Change by Design“
Die Bestandaufnahmen zum Zustand der Menschheit und der Welt vollziehen sich von den Einschätzungen, dass der Mensch als vernunftbegabtes, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes und zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähiges Lebewesen in der Lage ist, ein gutes, gelingendes Leben für die Menschheit zu ermöglichen (Aristoteles), bis hin zu der Einschätzung, dass der Animal retardatum als Homo imperfectus unvollständig und unfähig ist zur Conditio Humana (siehe dazu: Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25043.php). In der Menschheitsgeschichte gibt es immer wieder Mahnungen, Aufrufe und Hau-Rucks, die sicht- und erlebbaren Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten in der Welt aufzuzeigen und zum Perspektivenwechsel aufzurufen. In der Neuzeit sind es die seit 1972 vom Club of Rome prognostizierten Entwicklungen, das ökonomische Immer-Mehr-Denken aufzugeben, das Verhältnis von Umwelt und Entwicklung neu zu denken (Brundtland-Bericht von 1987), und „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren“, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ in ihrem Bericht von 1995 zum Ausdruck bringt. Und es war im September 2015, als sich 193 Staaten auf 17 Ziele für eine globale nachhaltige Entwicklung bis spätestens 2030 einigten:
- Keine Armut
- kein Hunger
- Gesundheit und Wohlergehen
- Hochwertige Bildung
- Geschlechtergerechtigkeit
- Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
- Bezahlbare und saubere Energie
- Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum
- Industrie, Innovation und Infrastruktur
- Weniger Ungleichheiten
- Nachhaltige Städte und Gemeinden
- Nachhaltiger Konsum und Produktion
- Maßnahmen zum Klimaschutz
- Leben unter Wasser
- Leben an Land
- Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen
- Partnerschaften zur Erreichung der Ziele (https://www.projekt17.net/seventeen-goals-magazin).
Entstehungshintergrund und Autor
„Wo es keine ökonomische Sicherheit gibt, bedeuten Kinder Sicherheit, Status und Prestige“ (Nina Jablonski) – „Wenn es für die Menschen aufwärts geht, wünschen sie sich weniger Kinder“. Diese Diskrepanz ist es, die Debatten und den kontroversen Diskurs um die globale Bevölkerungsentwicklung bestimmen. Zugrunde liegt die Frage, wieviel Menschen die (‚E)eine Erde verkraften und wie Überbevölkerung, die mit dem Begriff der „Bevölkerungsexplosion“ bezeichnet wird, verhindert werden kann. Der Demographie-Experte, ehemalige Leiter des „Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung“ und Sachbuch-Autor Reiner Klingholz ( siehe auch: Sklaven des Wachstums – die Geschichte einer Befreiung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​16526.php ), zeigt Wege auf, wie einer globalen Überbevölkerung Paroli geboten werden kann. Es sind die Bevölkerungsprognosen, wie sie der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen 2016 vorlegt hat: 2030 = 8,6 Mrd. Menschen auf der Erde; 2050 = 9,8 Mrd.; 2100 = 12,7 Mrd. Wird dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten, drohen existenzielle Probleme. Wie aber kann das human, menschenwürdig geschehen?
Inhalt
Klingholz gibt in seinem Buch „Zu viel für diese Welt“ Antworten, die er in neun Kapitel aufgliedert. Im ersten Kapitel zeigt er auf, dass es eine „doppelte Überbevölkerung“ ist, die einer differenzierten Analyse bedarf. Im zweiten Kapitel verweist er mit dem Slogan “Never waste a good crisis“ darauf, wie es gelingen kann, aus (vergangenen) Fehlentwicklungen und (aktuellen) Krisen und Katastrophen zu lernen. Im dritten setzt er mit der Aussage „Fähig – aber zu dumm“ an, um auf die Defizite im menschlichen Denken und Handeln aufmerksam zu machen und den Zôon Politikon und den Homo ethicus zu beschwören. Viertens setzt er sich mit den „Negativ-Folgen“ des angeblich ökonomischen Erfolgs bei Menschen auseinander. Fünftens diskutiert er die (ebenfalls angeblichen wie realen) „Positiv-Folgen des Erfolgs“. Sechstens führt er mit dem „Trilemma des Wachstums“ die Denk- und Handlungsfallen vor. Siebtens thematisiert er mit der Frage „Panik oder Entwarnung?“ die verschiedenen Visionen und Illusionen über die Zukunft der Menschheit. Achtens warnt er: „Vorsicht: Selbstbetrug“, indem er auf die verschiedenen Fallstricke hin zum erwünschten Nachhaltigkeitsdenken und -tun aufmerksam macht. Und im neunten Kapitel schließlich fragt er: „Was tun?“.
Jeder Einzelne in der (Einen?) Welt ist gefordert: Durch persönliche Veränderung seines Konsumverhaltens, und mit dem kollektiven, lokal- und globalgesellschaftlichen Perspektivenwechsel. Es sind fünf Handvoll (25) Herausforderungen, die Klingholz zusammenfasst: Transparenz bewirken – Umweltkosten realistisch benennen – Global denken, lokal handeln – Emissionswirkungen erkennen – Bedeutung von Wäldern und Biosphären bewusst machen – öffentlichen Verkehrsraum ökologisch gestalten – Tempolimit verordnen – Strukturwandel befördern – alternative Energien fördern – CO₂-Diät verordnen – Energiesparen – Plastik vermeiden – Teilen lernen – Digitalisierung als Aufklärungspotenzial nutzen – CO₂-arm essen – Teilselbstversorgung praktizieren – Ökostrom beziehen – Dienstreisen relativieren – Autofetischismus überdenken – weniger fliegen – weniger konsumieren – klimafreundliche Politik ermöglichen – Finanzmärkte beeinflussen – Regionalität entdecken – Aktiv- und Passivsein leben.
Diskussion
Es sind keine neuen, revolutionären Gedanken und Entdeckungen, die Klingholz als Zustandsanalyse präsentiert. Es sind überwiegend Bestätigungen darüber, wie falsches, menschenunwürdiges und antipathisches Handeln zu Konsequenzen führt, die die Existenz der Menschheit gefährden. Der Tenor liegt dabei allerdings nicht auf fatalistischen und negativen Entwicklungen: „Da kann man sowieso nichts machen!“-vielmehr in den Versuchen, unangenehme Wahrheiten nicht mit dem erhobenen, pädagogischen Zeigefinger zu vermitteln, sondern eindeutig und veränderbar darzustellen und zu verdeutlichen, dass die Menschen die zahlreichen, scheinbar zunehmenden Umwelt-, Gesundheits- und Existenzkrisen nicht als Einzelphänomene betrachten (Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27036.php). Es ist das hoffnungsvolle, aktive, veränderungsbewusste Denken, das motiviert und gefördert werden muss, nicht illusionär, sondern realistisch: „Wir müssen die Weltwirtschaft, die Energiewirtschaft, … auf einen sehr treibhausgasarmen, klimaneutralen, funktionsfähigen Betrieb umstellen, und gleichzeitig das Bevölkerungswachstum auf dem Planeten reduzieren…“.
Es gibt vielfältige Ideen, Theorien und Konzepte, wie es gelingen kann, die Menschen zu überzeugen und zu motivieren, im Einklang mit der Kultur und Natur zu leben. Die US-amerikanische Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom hat nachgewiesen, dass „mehr wird, wenn wir teilen“ (Elinor Ostrom: Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11224.php). Die Sozialwissenschaftlerin Silke Helfrich nimmt den ökonomisch-ökologischen Gedanken auf, indem sie „Commons denken und leben“ ins Spiel bringt (Silke Helfrich/David Bollier), frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25797.php). Es sind Alternativen, die dem Anliegen von Reiner Klingholz entsprechen und Mut machen, umzudenken und sich individuell und kollektiv umzuorientieren.
Fazit
Es sind die zunehmend, lokal und global verbreitenden ego-, ethnozentristischen und populistischen Einstellungen und Parolen, die von Wirklichkeitsleugnern und „Vereinfachungs“-Denkern hervorgebracht werden, die zur Verunsicherung und zu Ohnmachtsgefühlen der Menschen beitragen. Ihnen entgegen zu treten mit wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen, das will auch Reiner Klingholz mit seinen realen, demographischen Analysen und Zustandsberichten leisten. Es gilt, den Homo distruens den Homo sciens entgegen zu setzen ( siehe z.B. dazu auch: Hans Lenk, Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, stw 1456, Ffm 2000, 350 S.; siehe auch: Jos Schnurer, 23. 3. 2021, https://www.sozial.de/oeffentlichkeit-als-paedagogische-praemisse.html). Es sind die intellektuellen Herausforderungen, nicht erst dann zu handeln, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist (Change by Desaster), sondern die naturgegebenen und menschengemachten Existenz- und Veränderungsprozesse intelligent und human zu managen (Change by Design).
Das Buch von Reiner Klingholz kommt zur richtigen Zeit! Es ist ein Weckruf und ein Ausrufezeichen! Es sollte im stillen Kämmerlein und auf der öffentlichen Bühne diskutiert werden, individuell, lokal und global!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.04.2021 zu:
Reiner Klingholz: Zu viel für diese Welt. Wege aus der doppelten Überbevölkerung. Edition Körber
(Hamburg) 2021.
ISBN 978-3-89684-286-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28215.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.
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