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Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie

Rezensiert von Hauke Branding, 14.05.2021

Cover Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie ISBN 978-3-8376-5463-9

Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. transcript (Bielefeld) 2021. 216 Seiten. ISBN 978-3-8376-5463-9. D: 15,00 EUR, A: 15,00 EUR, CH: 19,40 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.

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Thema

Der Text fordert ausgehend von der Analyse der Rolle und Funktion der Sorgearbeit und der Analyse des Klimawandels die Einrichtung einer solidarischen Gesellschaft, in der, im Gegensatz zum gegenwärtigen Profit- und Verwertungszwang des Kapitalismus, gelingende Sorgebeziehungen und das Ökosystem im Vordergrund stehen. Dazu werden Überlegungen aus der Care-Bewegung mit klimapolitischen Themen verknüpft und eine Care-Revolution als mögliche Strategie der gesellschaftlichen Veränderung vorgeschlagen.

Autorin

Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerkes Care-Revolution. Bis 2019 war sie Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg.

Entstehungshintergrund

Der Text entstand während der COVID19-Pandemie 2020, die zumindest zu Beginn nicht nur zu einer höheren Sichtbarkeit von Care-Arbeit geführt, sondern deutlich ins Gedächtnis gerufen hat, wie unmittelbar der Alltag aller Menschen durch und von (entlohnten wie unentlohnten) Sorgetätigkeiten geprägt ist.

Aufbau und Inhalt

Das klar strukturierte und in verständlicher Sprache formulierte Buch ist in sieben Kapitel unterteilt, in denen zu Beginn die Krisen der sozialen und ökologischen Reproduktion der Gesellschaft nachgezeichnet werden, um im Anschluss daran Handlungsmöglichkeiten und Strategien für einen Ausweg aus diesen Krisen zu diskutieren.

Winkers Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Care-Arbeit (hier werden, ebenso wie im Buch, Care-Arbeit und Sorgearbeit synonym verwendet) im Kapitalismus anders als die Güterproduktion oder produktionsnahe Dienstleistungen trotz des enormen Anteils am Gesamtarbeitsvolumen ein »Schattendasein« (S. 9) führt – seien es die unbezahlten Sorgetätigkeiten im Privaten (zumeist im Haushalt und/oder der Familie) oder die (meist schlecht) bezahlten Sorgetätigkeiten im Gesundheits-, Pflege- oder Bildungsbereich. Die Unsichtbarkeit bzw. geringe Wertschätzung vieler dieser Tätigkeiten ignoriere jedoch ein, wenn nicht das zentrale Element menschlichen Zusammenlebens. Dass Menschen Sorgearbeiten ausführen oder ihrer bedürfen, stelle das Fundament der Beziehungsweisen in der Gesellschaft dar; ohne diese Tätigkeiten bräche jedes gesellschaftliche Leben zusammen. Care- oder Sorgearbeit definiert Winker als »Gesamtheit der familiären und ehrenamtlichen Sorgearbeit für andere, die Sorgearbeit für sich selbst sowie die entlohnten Erziehungs-, Bildungs-, Pflege- und Haushaltstätigkeiten in Institutionen wie Krankenhäusern, Seniorenheimen oder Kitas sowie Privathaushalten« (S. 20), deren Ziel die Entwicklung und Erhaltung körperlicher, emotionaler und intellektueller Fähigkeiten sei. Diese Arbeit werde überproportional häufig von Frauen für wiederum keine oder unterdurchschnittliche Löhne durchgeführt. Insofern seien Frauen besonders von den Nachteilen dieser (vergeschlechtlichten) Arbeitsteilung betroffen.

Im Anschluss fährt Winker fort, die gegenwärtigen Bedingungen aufzuzeigen, unter denen sich Sorgetätigkeiten und der Umgang mit dem Klimawandel vollziehen. Im gegenwärtigen Neoliberalismus sorge der Zwang zur ständigen (Selbst-)Optimierung – auch in der Freizeit –, die Flexibilisierung sowie die Verdichtung der Arbeit dafür, dass andere Lebensbereiche zunehmend hinter der Erwerbsarbeit zurückstünden. Gleichzeitig zeichneten sich Sorgetätigkeiten durch einen starken Personenbezug aus und seien entsprechend nur sehr bedingt technisier- und rationalisierbar. Gelingende Sorgebeziehungen ebenso wie die Selbstsorge benötigten Zeit, die den Einzelnen aufgrund der Ansprüche und Sachzwänge – sei es im Haushalt, der Familie oder in den Institutionen – immer weniger zur Verfügung stünde. Das Ergebnis sei eine zunehmende Überbeanspruchung und Überforderung. Das fast schon notwendige Scheitern an diesen Ansprüchen werde trotz der strukturellen Ursachen hauptsächlich als individuelles Versagen erlebt und treffe so wiederum vornehmlich Frauen, bei denen die Haus- und Sorgetätigkeiten, die sogenannte ›zweite Schicht‹, auch nach und neben der Erwerbstätigkeit oft hängenblieben (vgl. dafür auch eine aktuelle Studie der DAK: DAK 2021).

Winker betont dagegen die gesellschaftlichen Ursachen dieses Scheiterns. Sie hält unter Rückgriff auf Karl Marx zunächst fest, dass eine effiziente Produktion ohne die Reproduktion der Arbeitskraft unmöglich sei. Im Kapitalismus würden möglichst viele qualifizierte, ausgeruhte und motivierte Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen benötigt. Allerdings müsse sich die für die Kapitalverwertung notwendige Arbeitskraft eben auch reproduzieren, das heißt: essen, sich bilden, sich pflegen, gepflegt werden, geboren werden etc. Dass dies entweder unentlohnt in den jeweiligen Haushalten oder in oft chronisch unterfinanzierten außerhäuslichen Institutionen geschehe, sei für die Kapitalverwertung nicht nur praktisch sondern unmittelbar notwendig, da sonst die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft steige und damit die Mehrwertrate entsprechend sinke. Je höher der unentlohnte Anteil an Reproduktionsarbeit, desto geringer der Wert der Arbeitskraft und damit der durchschnittlich zu zahlende Lohn. Oder umgekehrt: Je mehr für Reproduktion ausgegeben werden müsse (bspw. für Kinderbetreuung, Ausbildung etc.), desto mehr müssten die Erwerbstätigen verdienen – bei ansonsten gleichen Bedingungen nehme dann der Mehrwert ab. Weil im Neoliberalismus allerdings alle erwerbsfähigen Personen auch erwerbstätig sein sollen, gebe es für angemessene Sorgebeziehungen daher nie genügend Raum, vielmehr habe die (zeitliche) Knappheit System. Das zeige sich nicht bloß auf individueller Ebene, sondern auch auf politischer Ebene: Familien-, Sozial-, Pflege- und Gesundheitspolitik seien der Verwertungslogik ebenso unterworfen und sähen sich einer zunehmenden Ökonomisierung ausgesetzt, die eine widersprüchliche Rationalität hervorbringe: Kosteneffizienz im Care-Bereich erscheine aus Profitperspektive rational und sinnvoll, sorge aber bspw. als Unterfinanzierung im Gesundheitsbereich für eine strukturelle personelle Unterbesetzung, führe zu Fachkräftemangel und entsprechender Leistungs- und Arbeitsverdichtung und dadurch zu einer deutlich verminderten Qualität der Behandlung von Patient*innen.

Dieselbe irrationale Rationalität zeige sich auch in den gegenwärtigen Strategien, mit denen dem Klimawandel begegnet werde. Trotz der drohenden nachhaltigen und unwiederbringlichen Zerstörung der globalen Ökosysteme, dessen Teil immerhin auch die Menschen seien, griffen die bisher eingeleiteten Maßnahmen »das Gelingen der Kapitalverwertung« (S. 59) nicht an. Sich dabei lediglich auf die zukünftige Verfügbarkeit technischer Lösungen zu verlassen, sei ein »Vabanquespiel« (S. 60) – vielmehr müsse festgehalten werden, dass wenn der bislang eingeschlagene Weg nicht korrigiert werde, bis zum Jahr 2100 mit einem Temperaturanstieg von mehr als 4°C inklusive der damit verbundenen Kipppunkte zu rechnen und damit eine Klimakatastrophe nicht zu verhindern sei. Emissionen müssten daher umfassend und überall reduziert werden, sinnvoll wäre es daher, eine Perspektive einzunehmen, die auf die »Sicherung der Konkurrenzfähigkeit und (…) Rentabilität« (S. 63) verzichte. Maßnahmen, die die Zerstörung der Lebensbedingungen der meisten Menschen versuchen abzuwenden, erschienen aber innerhalb der Logik der Kapitalverwertung als irrational.

Beide Beobachtungen, »die Überbeanspruchung sowohl der unentlohnten Sorgearbeit als auch der Ökosysteme« (S. 91 f.), seien dem Kapitalismus immanent, würden sich laut Winker gegenwärtig aber zu einer Krise sozialer sowie ökologischer Reproduktion ausweiten. Als krisenhaft stellen sich diese Entwicklungen für Winker in dem Moment dar, in dem auch die Reproduktion der Arbeitskraft bzw. der Ökosysteme selbst leide und so auch die Möglichkeiten der Kapitalverwertung einschränke. Die fehlende Zeit für angemessene Sorge, die Überbeanspruchung und die hohe Belastung der Einzelnen führe zum Beispiel zu einer deutlichen Zunahme psychischer Erkrankungen (wie Depressionen, Burn-out etc.) und damit verbundener Fehltage sowie zu einer zunehmenden Desidentifikation mit der Erwerbsarbeit (siehe für eine weitere Auseinandersetzung damit, dass Kapitalismus krank macht auch Fisher 2013 oder DAK 2021). Die vor allem durch Treibhausgase verursachte Erderwärmung wiederum bringe eine ganze Reihe an Risiken für die Kapitalverwertung mit sich: So könnten sich die Bedingungen für die Nutzung von Produktionsstätten durch Hitze-, Dürre- oder Hochwasserperioden deutlich verändern, Hungerkrisen oder Zerstörung ganzer Landstriche durch häufigere oder heftigere Wetterphänomene wirtschaftliche Entwicklung oder Investitionen beeinträchtigen. Die kostenlose Übernutzung der Ökosysteme beeinträchtige aber nicht nur die Kapitalverwertung sondern auch das Leben aller Menschen – Winker fordert daher: »Verringerung der Produktion, Steigerung der Energieeffizienz, Umstieg auf nachhaltige Energieträger« (S. 91). Die steigenden Zumutungen für die Sorgearbeitenden ließen sich ebensowenig wie die Vernutzung der ökologischen bzw. stofflichen Grundlagen der Produktion innerhalb des Kapitalismus nachhaltig und sinnvoll bekämpfen – auch nicht innerhalb einer ›Green Economy‹ o.Ä.: Vielmehr sei es so, dass die »kapitalistische Krisenbearbeitung immer wieder die Faktoren [reproduziert], die die Krisen ursächlich erst hervorgebracht haben.« (S. 93) Es bedürfe daher einer Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweise und dessen grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten überwinde.

Im Anschluss diskutiert Winker die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten es überhaupt für eine solch grundlegende Veränderung gebe und stellt dabei zwei Handlungsmodi in den Vordergrund: individuelle Verweigerung und Rückzug oder kollektive (politische) Praxis. Grundsätzlich lasse sich ein Bedürfnis nach stärkerer Teilhabe und Verfügung nicht nur über das eigenen Leben sondern auch dessen Rahmenbedingungen und damit auch über die Beziehungsweisen beobachten. Eine Reduktion der individuellen Arbeitsbelastung biete die Möglichkeit, Zeit und Raum für eigene Wünsche, für Sorgetätigkeiten aber auch für gesellschaftspolitisches Engagement (bspw. in Freiwilligenarbeit) zu gewinnen. Kollektive politische Praxis, bspw. in der Geflüchtetenhilfe, Wohnraum- oder Klimaschutzinitiativen, trage vor allem der Tatsache Rechnung, »dass zur umfassenden Bedürfnisbefriedigung nicht nur die aktuelle Beseitigung unmittelbarer Missstände erforderlich ist, sondern gleichzeitig die Verfügung über die eigenen relevanten Lebensumstände.« (S. 118) Viele Menschen beteiligten sich bereits in solcherart Initiativen und arbeiteten aktiv an einem besseren Leben alle.

Eine weitere Politisierung dieser Bedürfnisse sei eine Chance für soziale Bewegungen sich entlang dieser Bedürfnisse zu vernetzen, Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln und solidarisch zu handeln. Das gute Leben, so Winker, sei nur mittels »einer konsistenten Vorstellung von einer zukünftigen Gesellschaft« (S. 130) zu erreichen. Hier kommt sie dann auch auf den von Rosa Luxemburg geprägten Begriff der ›revolutionären Realpolitik‹ zu sprechen: Ohne ein konkretes, übergeordnetes politisches Ziel – hier die »solidarische Gesellschaft« (S. 137) – bliebe »häufig nur noch eine Reformpolitik übrig, die zwar materielle Verbesserungen (…) durchsetzen kann, dabei aber unter Umständen ignoriert, dass dies auf dem Rücken anderer geschieht oder mit der Zerstörung von Ökosystemen einhergeht.« (S. 130 f.) Kleine Veränderungen und Verbesserungen seien enorm wichtig, aber sie müssten Teil einer Strategie zur Transformation des Ganzen sein. Sie wolle nicht Reform gegen Revolution ausspielen, sondern Bedingungen für eine nachhaltige Transformation schaffen, die »über den Rahmen des derzeitigen kapitalistischen Systems« (S. 137) hinausweise. Genau das sei das Ziel einer Care Revolution, die die Sorgearbeit, die sonst eine eher untergeordnete Rolle spiele, zum wesentlichen strategischen »Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung« (S. 137 f.) erkläre. Ziel dieser Transformationsstrategie »ist eine an menschlichen Bedürfnissen orientierte, radikal demokratisch gestaltete solidarische Gesellschaft« (S. 138), in der alle »freien Zugang zu dem [haben], was sie benötigen und was in arbeitsteiliger Praxis hergestellt wird.« (S. 175) Die menschlichen Bedürfnisse müssten im Zentrum gesellschaftlicher Vollzüge stehen, nicht das Profitinteresse.

Der ›System Change‹ hin zur solidarischen Gesellschaft beginne mit einer schrittweisen Transformation des Alltags. Zunächst müsse die Erwerbsarbeitszeit (möglichst bei vollem Lohnausgleich) deutlich reduziert, eine erwerbsunäbhängige Unterstützungsstruktur (wie ein bedingungsloses Grundeinkommen) sowie eine möglichst kostenlose öffentliche soziale und ökologisch nachhaltige Infrastruktur (in den Bereichen Bildung, Erziehung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität, Kultur, Wasser- und Energieversorgung, digitale Infrastruktur) aufgebaut werden. In diesen grundlegenden Bereichen müsse sodann ein Rahmen für eine weitreichende Demokratisierung bzw. Vergesellschaftung geschaffen werden, mit dem Ziel, den Menschen bspw. in Form von Care- oder Bildungsräten die Möglichkeit zu geben, aktiv an ihrer Bedürfnisbefriedigung teilzuhaben. Die beste Möglichkeit, diese Teilhabe zu organisieren, sieht Winker in kooperativen Formen der Selbstorganisation wie Räten oder Commons. Beispiele für diese Formen sieht sie in Polikliniken, Nachbarschaftszentren, alternativen Wohnprojekten oder Betrieben der solidarischen Landwirtschaft, denen eine enorme Bedeutung zukomme, insofern sie Spielräume aufzeigten, in denen (Sorge-)Arbeit gemeinschaftlich, nachhaltig und bedürfnisorientiert organisiert werde – ganz im Sinne der Devise, dass »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. (Marx 1977, hier S. 190)

Eine bedürfnisorientierte Reorganisation der Gesellschaft reduziere darüber hinaus die gegenwärtige bloß marktvermittelte Güterproduktion deutlich (u.a. auch dadurch, dass ganze Wirtschaftszweige überflüssig würden) und respektiere die Grenzen der Ökosysteme, deren Teil die Menschen sind, als Bedürfnis für sich. Die Umsetzung dieser Forderungen antizipiere also nicht bloß das gute Leben für alle sondern bringe auch eine deutliche Reduktion von Treibhausgasemissionen mit sich.

Diskussion

Das Buch bietet neben einer fundierten Analyse einen einfachen (zuweilen etwas repetitiven) Einstieg in die Thematik und entwickelt eine ganze Reihe von sehr guten Argumenten gegen die Zumutungen des gegenwärtigen Care-Regimes, die Einfallslosigkeit der gegenwärtigen Klimapolitik und die Unvernunft der neoliberalen kapitalistischen Krisenbearbeitung. Gabriele Winker schlägt, ausgehend von den immanenten Widersprüchen des Kapitalismus, konkrete Handlungsmöglichkeiten vor, die über ihn hinausweisen. Bemerkenswert ist hierbei insbesondere, dass sie dies – in guter feministischer Tradition – vom Standpunkt der Reproduktion und aus Perspektive der Alltagsvollzüge und der damit einhergehenden Bedürfnisse tut. Unter Berücksichtigung dieser Perspektive mag zwar die Tatsache, dass der Begriff der Care-/​Sorgearbeit hier so allumfassend verwandt wird, zu analytischen Unschärfen führen, sind doch die Unterschiede zwischen Krankenhauspersonal, unbezahlten Sorgearbeitenden und migrantischen Dienstleister*innen in der Pflege oder im Haushalt nicht unerheblich, doch als politischer, bündnisstiftender Begriff hat er ein enormes Potenzial. Dass Care-Arbeit ins Zentrum gesellschaftsverändernder Praxis gehört, gar der Fixpunkt einer materialistisch-feministisch-ökologischen Gesellschaftskritik sein soll, wird sehr anschaulich und nachvollziehbar argumentiert. Wenn es dabei gelegentlich so wirkt, als wären die beiden Themenkomplexe Care und Klima kurzgeschlossen worden, ist deren Analogisierung dadurch nicht weniger überzeugend – gerade, wo ihr eine materialistische Analyse zugrunde liegt (vgl. S. 91 f.). In dieser Analyse hätte die Rolle des Staates als ›ideellem Gesamtkapitalisten‹ (vgl. Engels 1973) durchaus noch etwas stärker gemacht werden können. Die Politik der EU und der Bundesregierung sowie die sie bestimmenden Sachzwänge werden zwar angerissen, aber ein Hinweis auf die Form des bürgerlichen Staates als »Staat des Kapitals« (vgl. Agnoli 1995) hätte dem zusätzliche Schärfe verliehen.

Im Rahmen der Diskussion der Transformationsstrategie und der konkreten Beispiele für eine kollektive Selbstorganisation (Care-Räte, Landwirtschaftsgenossenschaften, Polikliniken, Hausprojekte etc.) bleibt leider unklar, inwieweit bzw. unter welchen Bedingungen sich diese interessanten, aber eben auch sehr unterschiedlichen Beispiele zu einer politischen Strategie (im Sinne einer revolutionären Realpolitik) verallgemeinern lassen oder inwiefern diese selbst schon die Strategie darstellen. Auch weil die Vorstellung einer Transformation hier keineswegs als plötzlicher Umschlag, »sondern als Abfolge vieler, jeweils stark umkämpfter Schritte« (S. 14) – im Sinne einer Hegemoniebildung gegen die scheinbare Übermacht der Verhältnisse – zu verstehen ist, hätte entlang gerade dieser meist sehr problem- und gegenstandsbezogenen und vor allem lokal bzw. regional organisierten Beispiele kollektiver Organisation eine der Aporien (wohl aller) politischer Praxis stärker reflektiert werden können: Solch lokale und regionale politische Praxis reagiert (notwendig) auf Probleme, die wesentlich struktureller und abstrakter Natur sind. Die Gefahr, bei diesen Projekten stehen zu bleiben, deren bloße Aufrechterhaltung zumeist ja schon Unmengen persönlicher Ressourcen frisst, ist enorm groß und wird auch von Winker betont. Dies soll nicht im Sinne eines Plädoyers für parteipolitisch-avantgardistische Massenagitation oder gar als Aufruf zur Resignation missverstanden werden: Räume zu schaffen, in denen ein solidarisches, nicht auf Profit ausgerichtetes gemeinsames Leben zumindest angedacht werden kann, hält der Rezensent ebenso wie die Autorin für unbedingt notwendig. Gute Projekte allein machen aber leider noch keine Bewegung. Die Reflexion der angesprochenen Aporie hätte so als Ausgangspunkt für die Reformulierung der Bündnis- und Organisationsfrage – zum Beispiel im Hinblick auf die gegenwärtige Klimabewegung – dienen können.

Fazit

Das Buch ist ein gelungener Versuch, Sorgearbeit und Klimaschutz zusammen zu denken und ein konstruktives und produktives Angebot, einen breiten Sorgebegriff ins Zentrum politischen Denkens und Handelns zu rücken. Weil sich die Hoffnung auf eine nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung oder der gesellschaftlichen Organisation der Sorgearbeit, die die Debatte im Zuge der COVID19-Pandemie ausgelöst hat, leider (noch) nicht erfüllt hat, sei das vorliegende Buch allen, die im Care- aber auch im Klimaschutzbereich wissenschaftlich oder aktivistisch tätig sind, ebenso anempfohlen wie allen, die auf der Suche nach konkreten Utopien und/oder aktueller feministischer Ökonomiekritik sind. Gabriele Winkers Plädoyer für eine solidarische Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen und das Gelingen von Sorgebeziehungen im Zentrum stehen, ist aktueller denn je. Ihre Einrichtung drängt.

Literatur

Agnoli, J. (1995): Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik. Freiburg: Ca ira.

DAK-Gesundheit (2021). Quelle: https://www.zeit.de/news/2021-04/07/dak-mehr-fehlzeiten-wegen-psychischer-leiden-bei-frauen?utm_referrer=https%3A%2F%2F; aufgerufen am 20.4.2021.

Engels, F. (1973/1880): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. In: Marx, K./Ders.: Werke (MEW), Bd. 19, Berlin: Dietz, S. 210–228.

Fisher, M. (2013): Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift. Hamburg: VSA Verlag.

Marx, K./Engels, F (1977/1848): Manifest der kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke (MEW), Bd. 4., Berlin: Dietz, S. 459–493.

Rezension von
Hauke Branding
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg
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Es gibt 2 Rezensionen von Hauke Branding.

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ISSN 2190-9245