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Asmus Finzen: Schizophrenie

Rezensiert von Prof. Dr. Angelika Franz, 12.08.2021

Cover Asmus Finzen: Schizophrenie ISBN 978-3-96605-046-3

Asmus Finzen: Schizophrenie. Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2020. 3., korrigierte Auflage. 253 Seiten. ISBN 978-3-96605-046-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Wie ist zu erklären, dass ein Mensch seinen Bezug zur Realität verliert und wie können Betroffene und die mit ihnen lebenden Menschen diese Veränderung ertragen? Wie beurteilen Professionelle diesen Verlust und wie und mit welcher Berechtigung und in welcher Weise intervenieren sie darauf? Veröffentlichungen und wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem von Bleuler als Erkrankung beurteilten und als Gruppe von Schizophrenien psychopathologisch eingeordneten veränderten Verhalten und Erleben führten vor etwa einem halben Jahrhundert in Fachkreisen zu Kontroversen über diese Fragen. Erfahrungen und Positionierungen der Betroffenen selbst fanden nach und nach Gehör. Neben biologischen gewannen psychosoziale Erklärungsansätze an Gewicht. Schließlich wurden auch nicht mehr lediglich verwahrende, psychotische Menschen unsichtbar machende Formen der Versorgung und Behandlung politisch gewollt und gesetzlich verankert. Was ist davon geblieben und was hat sich fachlich und ethisch als haltbar erwiesen und welche neuen Ansätze wurden seitdem gefunden und für gut befunden? All das gibt Finzen aus seiner Sicht wieder.

Autor

Der Autor ist Psychiater. Er war von 1975 bis 1987 leitender Krankenhausarzt in Wunstorf bei Hannover (1975 bis 1987) und anschließend bis 2003 stellvertretender Leiter in Basel. Er hat u.a. sowohl die deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie als auch den Psychiatrieverlag mitbegründet.

Entstehungshintergrund

Das Buch vermittelt, mit den Worten von Finzen gesagt, die Essenz seiner Erfahrungen aus fünf Jahrzehnten der Arbeit und des Lebens mit psychosekranken Menschen. Sein zu besprechendes Buch hat einen Vorläufer mit dem Titel „Schizophrenie – Die Krankheit verstehen“. Es war bereits 1992 ebenfalls im Psychiatrie Verlag erschienen und endete mit der 8. Auflage 2008.

Aufbau

Das Buch besteht aus 22 ohne Nummerierung aufeinander folgenden Einzelkapiteln, dazu kommen ein Vor- und Nachwort, Literaturangaben, Internetadressen und ein Stichwortverzeichnis.

Der gesamten Darstellung zugrunde liegt das Bemühen von Finzen, das Regelhafte von Schizophrenie aufzuzeigen und zugleich alle psychiatrischen Begriffe während der Zuwendung zum einzelnen Kranken zu überprüfen, wie es schon Egon Bleuler für Finzen vorbildhaft intendiert und gelöst hatte. Jeder Patient gestalte sein Leiden in seiner Erscheinungsform und in seinem Wesenskern individuell aus.

Finzens Darstellung lässt sich in vier Themenschwerpunkte gliedern.

  1. Die ersten fünf Kapitel geben am Beispiel einer Krankheitsgeschichte eine thematische Einführung.
  2. Krankheitsdiagnostik, Erkenntnisquellen und das Wissen über Krankheitsentstehung und -weiterentwicklung werden anschließend in sieben Kapiteln vorgestellt.
  3. Die nächsten acht Kapitel behandeln einzelne Krankheits- und Gesundungsphasen in ihrer Abfolge nebst den Anforderungen an professionelles Handeln, ihre Behandlungsgrundsätze und -wege in der Zusammenarbeit mit den schizophren erkrankten Menschen und mit ihren Angehörigen. Die Kapitelüberschriften lauten: akute Psychose, Krise der Angehörigen, Wiederherstellung, Rückfallvermeidung, Therapieresistenz, Rehabilitation sowie die Risiken Suizidalität, Gewalt gegenüber und durch psychisch kranke(n) Menschen, Verweigerung und Zwang.
  4. In den letzten beiden Kapiteln geht es schließlich um Selbsthilfemöglichkeiten von Angehörigen und um ihre Verhaltens- und Verarbeitungsweisen und Einstellungen.

Der Autor verweist darauf, dass die Einzelkapitel getrennt lesbar sind. Das ist deshalb möglich, weil bestimmte Themenbereiche wie z.B. die medikamentöse Behandlung je nach Krankheits- bzw. Gesundungsphase neu gewendet werden.

Deshalb orientiert sich die folgende Darstellung der Inhalte nur für die genannten ersten beiden Themenschwerpunkte an Finzens Folge der Kapitel. Im Anschluss werden (Be-)handlungswege und die damit verbunden Haltungen der Professionellen, der Patienten und der Angehörigen zum Thema.

Inhalt

Einführung

Einführend charakterisiert der Autor seinen Gegenstand Schizophrenie wegen deren vielfältigen Erscheinungsformen als schwer greifbar und darüber hinaus sogar als weiterhin unverstanden. Die Bezeichnung „Schizophrenie“ (Sch) verweise auf drei Krankheiten.

  • (1). Sch als eine Krankheitsbeschreibung – und diagnostik, die darauf basiert, dass Verhaltensänderungen als Symptome beurteilt werden.
  • (2). Sch als eine bestimmte Metapher, als Diffamierung und Stigma: das Bild von der Krankheit führt zu Ablehnung und Aussonderung der an Schizophrenie erkrankten Menschen. Deren Selbstbild, psychisch krank zu sein, werde dadurch zusätzlich beschädigt (163), die Krankheitsbewältigung werde erschwert.
  • (3). Sch als eine Familienerkrankung, als katastrophale Folge der Diagnose. Angehörige leiden mit und leiden auch selbst, ihre Lebensführung und Identität sind von der Erkrankung beeinflusst. Auf Eltern und Kindern psychisch kranker Eltern liegen die Lasten des Zusammenlebens und die Sorge um die Zukunft.

Diese drei Krankheiten werden anhand einer eingangs berichteten Geschichte eines jungen Mannes, die der Autor miterlebt und mitgetragen hat, aufgezeigt. Die anfängliche psychische Veränderung des jungen Mannes erwies sich im Verlauf als schizophrene Erkrankung. Sie äußerte sich in einer mit Wing als typisch zu bezeichnenden zentralen Symptomatik, zum einen in Produktivsymptomen (bestimmte Formen von Wahn und Halluzinationen) und zum anderen in Minussymptomen, d.h. Antriebsstörungen, ein „Nicht- mehr-wollen-können“. Sie machte im genannten Fall (was nicht für jeden Fall gilt) lebenslange Bewältigungsversuche durch den Patienten und seine Familie notwendig.

Krankheitsdiagnostik und das Wissen über Krankheitsentstehung und -weiterentwicklung

Ob es sich bei Verhaltensänderungen von (jugendlichen) Patienten um ein Vorfeld der Psychose handelt, sei erst im Nachhinein klar; der fließende Übergang von Entwicklungskrisen und beginnender Schizophrenie (90f) könne verwirren. Notwendigkeit bzw. Schädlichkeit von Frühintervention müsse aus diesem Grund und wegen der gravierenden Folgen einer Krankheitszuschreibung abgewogen werden.

Die von E. Bleuler Schizophrenie genannte Erkrankung wird unter Rückgriff auf Bleulers zugrundeliegende Konzeption, die Symptome und die daneben bestehenden intakten Funktionen differenzierter als im Überblick erläutert. Finzen betont, dass zwar der Name der Erkrankung erfunden wurde, aber nicht die Tatsache der Erkrankung selbst. Die weitere Beschreibung der Krankheitsphasen orientiert sich an Conrad. Im Zusammenhang mit der Erstellung der Diagnose kritisiert Finzen einen „reduktionistischen, lediglich klassifizierenden“ Zugang. An den neuen Klassifikationssystemen – er nennt hier das DSM IV –, hebt er positiv die Bedeutung der Einbeziehung der Zeitperspektive hervor. Deswegen und aufgrund eines jeweils verschiedenen neurobiologischen Hintergrunds (89) lehnt Finzen eine Einteilung nach Untergruppen der Schizophrenie ab. Den Schizophrenie-Spektrumstörungen gibt er den Status einer Pseudo-Diagnose (88). Er referiert Ergebnisse bedeutender Verlaufsstudien, die zumeist vor Einführung moderner psychiatrischer Behandlungsverfahren erstellt wurden (105). Sie besagen, grob zusammengefasst: Bei etwa 1/3 der Patienten heilt Schizophrenie symptomfrei aus, ein weiteres Drittel erlebt immer mal wieder aufflammende Symptomatik, und das letzte Drittel chronifiziert, doch auch für die letzte Gruppe gibt es aufgrund veränderter Therapiekonzepte noch Besserungstendenzen. Solche Ergebnisse nehmen der Erkrankung den Charakter der Unheilbarkeit. Somit entscheide die Diagnose nicht über die Prognose (145). Obwohl prinzipiell mit dem Recovery-Konzept einverstanden, sieht Finzen darin manche „Überschwänglichkeit“ (107).

Zwei Wissenszugänge zur Klärung der Erkrankung werden ausgeführt und beurteilt:

  • Hören und Miterleben, was der Erkrankte und seine Angehörigen in Gesprächen, in Psychoseseminaren und anhand veröffentlichter Erfahrungsberichte oder in literarischen Werken mitteilen. Glücklicherweise, urteilt Finzen, habe die professionelle Sichtweise, nicht mit Patienten über ihre psychotischen Inhalte zu reden, eine Änderung erfahren.
  • Empirisch Forschen: Psychosoziale und biologische Faktoren erklären nicht die Tatsache der Erkrankung, sie würden lediglich Auslösung und Verlauf von Sch klären. Gleichzeitig konstatiert er bei der Erforschung biologischer Faktoren Fortschritte durch Untersuchungsmethoden und Einzelbefunde.

Der Wissensstand wird im Vulnerabilitätsstressmodell (Zubin/​Spring, 1977) dargestellt (das Modell führe Einzelfaktoren zusammen, erfülle aber den theoretischen Stellenwert eines Krankheitsmodells nicht) sowie in dem auf dieser Basis von Ciompi 1984 formulierten biopsychosozialen Dreiphasenmodell der Entwicklung schizophrener Psychosen.

Behandlungsgrundsätze und (Be-)Handlungswege – die Parts von Professionellen, Erkrankten und Angehörigen in bestimmten Krankheitsphasen

Nachdem die einzelnen Krankheits- und Wiederherstellungsphasen charakterisiert worden sind, geht es Finzen um die in den Phasen jeweils geeigneten (Be-)handlungswege. Und zwar um Therapie mit Psychopharmaka, die in bestimmten Krankheitsphasen dominiere und dort angepasst zu gestalten sei; um Psychotherapie, die „leider“ (146) nicht die Rolle spiele, die ihr zukomme; um psychosoziale Hilfen wie Soziotherapie, Alltagsstrukturierungshilfen und Teilhabeermöglichung und um verschiedene Formen von Selbsthilfe. Als Grundsatz fordert Finzen u.a., die Behandlung zu individualisieren und über sie zu verhandeln.

Psychopharmakotherapie

Bei der Psychopharmakotherapie müsse die heikle Balance zwischen dem Recht auf Freiheit und der Verpflichtung der Gesellschaft zur Fürsorge gewahrt werden (215). Da Menschen mit Schizophrenie aus medizinischer Sicht eine Krankheit haben (s. o.), könne man mit medizinischen Mitteln helfen. Eine Ausnahme macht Finzen für persistierende Negativsymptome wie Apathie und Störungen des Wollens; hier sei Soziotherapie als strukturiertes Behandlungsmilieu angezeigt; andernorts schlägt er vor, zwecks Vermeidung sekundärer Negativsymptomatik niedrig dosiert mit Neuroleptika zu behandeln, jedoch nicht mit atypischen, deren diesbezüglichen Wirkungen er skeptisch gegenübersteht (195). Auch eine Milieutherapie könne nicht regelmäßig auf Psychopharmaka verzichten, ebenso Soteria nicht (167). 

Psychopharmakotherapie, die anders als bei Medizinern in der öffentlichen Meinung einen schlechten Ruf (214) habe, benötige eine vertrauensvolle Beziehung als Voraussetzung. Sie erfordere Zeit und Geduld, um wahrnehmen zu können, worunter die an Schizophrenie Erkrankten leiden (162). Vor einem Neuroleptikaeinsatz seien Beobachtungstage einzuhalten.

Aufgeklärte Freiwilligkeit (auch über die negativen Folgen von Dauermedikation wie z.B. Spätdyskinesien) sei Voraussetzung für medizinisches Handeln den Patienten gegenüber (151). Zusammenarbeit und Kooperation als Ziel einer kontinuierlich zu leistenden Arbeit („ Konkordanz“ statt „Compliance“) fordert Finzen einerseits aus Respekt vor dem Anliegen von Patienten (denn Nebenwirkungen seien real) und andererseits, um der Pharmakotherapie überhaupt zum Erfolg verhelfen zu können. Patienten sei entgegenzukommen. Das macht er an Beispielen deutlich, in denen schließlich mal der Patient und mal der Arzt richtig gelegen haben. Kompromisse sind zu schließen, „soweit wir dies verantworten können“ (215). Um welche Abwägungen es dabei geht, soll am Beispiel der Rückfallprophylaxe ausgeführt werden. Für sie fordert Finzen immer eine medikamentöse Behandlung: Erkrankte hätten die übergroße Hoffnung, dass sie nur eine einmalige, lebensgeschichtlich einzuordnende Krise durchmachen. Wenn hingegen der Arzt im Gegensatz zum Patienten nicht davon ausgehen kann, dass die Krankheit ausheilt, bleibe ihm nur davor zu warnen, auf Medikamente zu verzichten. Falls Kranke aber auf ihrer Sicht bestünden, könne er sich einer „Probe aufs Exempel kaum entziehen“ (185). Besser als einen Abbruch der Behandlung zu riskieren sei es, einen Absetzwunsch engmaschig ambulant zu betreuen. Allerdings macht Finzen sich keine Illusionen, unzureichende Nachbehandlung sei „leider“ (185) häufig.

Die Nicht-Akzeptanz von Psychopharmakotherapie wird häufig auch an fehlender Krankheitseinsicht festgemacht. Von fehlender Krankheitseinsicht im Sinne eines kognitiven Defizits zu sprechen, beurteilt Finzen mal als unangemessen (z.B. bei einem Überwältigtsein durch Leiden), mal als angemessen (z.B. beim Wahn). Eine fehlende Einsicht sieht er zudem nicht als unveränderbar an. Deshalb schlägt vor, um sie zu ringen.

Dass Drehtüreffekte wegen mehrmaliger Rückfälle eintreten, habe Gründe im Abbruch der medikamentösen und der weiteren ambulanten Therapieangebote, aber auch in einem gestörten Hilfesuchverhalten. Patienten, die behandlungsbedürftig (weil krank), aber behandlungsunwillig und dabei friedfertig seien, könnten eigene Bedürfnisse aufgrund der „Minimisierung“ ihrer Bedürfnisse nicht erkennen, sie seien zufrieden im Elend.

Selbsthilfe – die Kompetenz von Patienten

Die Notwendigkeit medikamentöser Behandlung sieht Finzen auch gebunden an Einstellungen zu Symptomen und an die zunehmende Kompetenz von Patienten, das Auftreten ihrer Symptome an Bedingungen ihres Lebens geknüpft sehen zu können. Zudem hätten sich die Einstellungen der Psychiater verändert. Symptome seien nicht nur als Ärgernis, sondern als Teil der Biografie zu verstehen (154). Das gelte z.B. für persistierende Produktivsymptome wie Stimmenhören oder Wahn. Auch wenn er quälend sei, sollte ein systematisierter, über lange Zeit zur Identität gewordener Wahn nicht unterdrückt werden (ansonsten drohe Suizidgefahr (203)). Im Gegenteil: es solle Hilfe angeboten werden, mehr oder weniger integriert damit leben zu können.

Vulnerabilität wahrnehmen zu lernen sei ein Beitrag zur Rückfallprävention, denn in der Phase der Wiederherstellung (177) gehe es um eine Gratwanderung zwischen Überstimulierung und Unterstimulierung. Rückfallanzeichen wie z.B. ein angespannt- feindseliges Familienklima (Leff und Vaughn) seien zu beobachten, ohne aber dabei „das Gras wachsen“ zu hören. Finzen macht zudem Vorschläge zur Diäthetik des Lebens – z.B. aktives Aufsuchen von Lebenssituationen, die guttun.

Die Förderung des Selbsthilfepotenzials sei durch Psychoedukation, Psychoseseminare und Selbsthilfegruppen möglich. Psychoedukation versteht er als Aufklärung über die Erkrankung, die Fingerspitzengefühl erfordere. Darüber hinaus diene sie der Stigmabewältigung.

Psychotherapie und psychosoziale Hilfen

Psychotherapie als Konfliktbearbeitung und Analyse könne im Intervall zwischen Krankheitsepisoden möglich oder notwendig sein (182). Darüber hinaus sei psychotherapeutische Hilfe in Form von empathischer Zuwendung, Unterstützung und Führung, sowie Training (181) wichtig.

Rehabilitation sei indiziert, wenn Behandlungen nicht weiterführen. Dabei könne es nur noch darum gehen, den durch Krankheit und deren Folgen behinderten Menschen zu helfen, damit besser zu leben und Einschränkungen durch Training und psychosoziale Hilfen zu minimieren. Das könne gezielt erst nach ausreichender Stabilisierung begonnen werden. Berufliche Wiedereingliederung habe im Vergleich mit der (auch nicht vollständig erreichbaren) psychosozialen Rehabilitation geringere Chancen und sei Abbild der Arbeitsmarktsituation. Deshalb gelte es, positive soziale Merkmale von Erwerbsarbeit durch andere Formen der Beschäftigung zu erzielen.

Risiken: Suizidalität, Gewalt, Verweigerung und Zwang,

Die Suizidgefahr, ein häufiges Begleitphänomen von Psychoseerkrankungen, ist, wenn sie akut ist, ein Grund für sofortige Klinikeinweisung. Aber Finzen sieht in dauerhafter Einschließung keine Garantie. Und Suizidgefährdung sei nicht nur als ein Krankheitssymptom zu verstehen. Sie müsse besprochen und bearbeitet werden.

Psychisch Kranke erfahren Gewalt durch Dritte, aber umgekehrt gefährden sie auch andere. Dass Gewalt durch Patienten nicht häufiger als bei Gesunden vorkommt, sei die geläufige Argumentation von Psychiatern gewesen, das treffe aber nicht für psychisch kranke Menschen zu, die unbehandelt sind, in Armut leben und Suchtprobleme haben (213).

Bezogen auf Einleitung einer Zwangsbehandlung erörtert Finzen das Dilemma, in das Angehörige geraten (216). Die gesetzlichen Möglichkeiten seien nicht ausreichend hilfreich und die ethischmoralischen Grundlagen keineswegs eindeutig. Der Position, sich für ein Leben in Krankheit selbst entscheiden zu können, stellt er gegenüber, wie unerträglich es für Angehörige und Professionelle sei, tatenlos zu sein, obwohl sie um die Konsequenzen einer Nichtbehandlung und um Hilfemöglichkeiten wissen.

Angehörigenselbsthilfe

Die Angehörigen werden Thema im Rahmen der Einführung der Kapitel zu Ursachenforschung, Behandlungsgrundsätzen, Krankheitsbeginn, Rückfallvermeidung und Zwangsbehandlung sowie am Schluss des Buches in den Kapiteln „mit den Kranken leben“ und „Angehörigenselbsthilfe“.

Vor dem Hintergrund, dass professionelle Helfer in erster Linie den Kranken verpflichtet seien, sieht Finzen eine Aufgabe auch darin, Selbsthilfe von Angehörigen zu unterstützen. Selbsthilfe sei in Form von Selbsthilfegruppen und Psychoedukation realisiert. Aufklärung über die Art der Erkrankung zu erhalten sei ein berechtigtes Interesse der Angehörigen. Ihnen diese zu verweigern, sei nicht durch Schweigepflicht geboten. Zu wissen, dass eine Erkrankung vorliege, entlaste zwar. Es erfordere aber eine Akzeptanz dessen, was ist, und berge auch zu recht eine Mitverantwortung für die Zukunft. Ihnen für die Krankheitsentstehung eine Schuld zuzuschreiben, verbiete sich hingegen. Finzen hat das praktische Anliegen, sowohl Handlungsrichtlinien mitzugeben (z.B. einem Erkrankten Hilfe anzubieten, aber nicht stellvertretend für ihn zu handeln) und diese zu erklären (z.B., dass Störungen des Wollens nicht wegtrainiert werden können), als auch die Selbstsorge der Angehörigen zu fördern.

Diskussion

Die Rezension kann die Vielfalt des Wissens und der Erfahrungen nicht abbilden, die in diesem Buch veröffentlicht werden.

Der Autor bezeichnet sein Buch selber als professionellen- und angehörigenlastig. Er sieht Sch als eine Krankheit, verzichtet aber darauf, die damit verbundenen Implikationen genauer anzugeben; so wirkt die Darstellung zu fehlender Krankheitseinsicht verkürzt. Wirkungsstudien von Medikamenten werden nicht diskutiert, sorgfältige Überlegungen macht er hingegen zum wegen der (Neben-)Wirkungen gezielten und sparsamen Einsatz von Medikamenten. Er gibt der medikamentösen und der psychosozialen Hilfe und der Selbsthilfe gleichermaßen Gewicht. Da legt allerdings das Buchcover mit den zwei sich überschneidenden, an der Schnittstelle glühenden Drähten eine falsche Spur. Die Gestaltung der Psychoedukation sowie die Paradigmen und Verfahren innovativer Psychiatrie werden nicht ausführlich zum Thema. Finzen überlegt z.B., ob sich hinter dem Ansatz des Need-adapted-Treatment eine Selbstverständlichkeit verbergen könne (237), er wird damit aber diesem theoretisch fundierten und methodisch ausgefeilten Ansatz nicht gerecht.

Er bezeichnet sein Buch zudem als ein persönliches Buch. Das zeigt sich gelegentlich an Bewertungen, wie „leider“ oder „glücklicherweise“. Finzen macht auch deutlich, wie viel es ihm abverlangt, wenn er sein Wissen um Hilfe nicht wirksam einsetzen kann (z.B. bei medikamentöser Therapie). Und er vermisst, dass bestimmte Hilfsangebote (wie Psychotherapie) ausreichend angeboten bzw. genutzt werden. Auch berichtet er von Erfahrungen mit psychisch Kranken in seinem privaten Umfeld. Allerdings handelt es sich in der Eingangsgeschichte, entgegen seiner Ankündigung im Vorwort, nicht um einen Verwandten (dieser wird erst später Thema).

Der Autor wählt, wenn keine bestimmte Person gemeint ist, immer die männliche Form, ohne seine Wahl zu begründen. Um der Einheitlichkeit des Textes willen, hat sich die Rezensentin dem angepasst.

Fazit

Das Buch soll kein Lehrbuch sein, und ist es auch nicht. Es versetzt zumeist nicht in die Lage, das präsentierte Wissen von seiner methodischen Entstehung und vom damit verbundenen fachlichen Evaluationsprozess her kennenzulernen. Der Autor teilt seine Erfahrungen aus der Begegnung und Arbeit mit an Schizophrenieerkrankten Menschen mit und die Fragen und Lehren, die er daraus zieht. Klar und sparsam mit Fachbegriffen erklärt und mit Beispielen veranschaulicht, erläutert Finzen die vielfältige Symptomatik und die vielfältigen Verläufe einer schizophrenen Erkrankung. Und er stellt dar, dass ihre Ursache trotz aller Forschungsbemühungen nicht geklärt ist. Er macht deutlich, dass unterschiedliche Behandlungsmethoden wie Psychopharmakotherapie und (neu entstandene) psychosoziale Angebote hilfreich sein können, wenn sie angeboten und angenommen werden. Er zeigt auf und begrüßt, dass Angehörige und die Patienten selbst an Bedeutung gewonnen haben, es wird ihnen zugetraut, Aufgaben für ihre eigene Gesundung übernehmen zu können. Sie werden zu Partnern, mit denen kooperiert wird. Kompetenzen werden ihnen aus Respekt, aber auch aus Pragmatismus, damit Hilfe gelingt, eingeräumt. Dass Behandlungsentscheidungen Dilemmata beinhalten können, macht er deutlich. Es geht für Professionelle auch um Folgen ihres Handelns, um Fragen der Ethik, um verantwortungsvolles Handeln vor allem gegenüber den Kranken und ihren möglicherweise verbauten oder verpassten Lebensmöglichkeiten.

Finzen hält die Utopie der Gesundung aufrecht, passt sich aber zugleich der Realität des Machbaren an. Er sieht die Grenzen, die die Krankheit setzt an und nimmt Unzulänglichkeiten der Versorgung wahr. Er weist nach, dass auch gegenüber einer Erkrankung wie Sch eine pessimistische Haltung unangebracht sei. Das Stigma der Unheilbarkeit sei falsch. Und ebenso die Stigmatisierung, die daraus resultiert, dass Angehörige (so wie früher auch wissenschaftlich untermauert wurde) fälschlich als Verursacher der Erkrankung (siehe die sog. schizophrenogene Mutter) gesehen werden. Beides behindere den Gesundungsprozess. Sein Buch ist ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich für Gesundwerdung einzusetzen.

Rezension von
Prof. Dr. Angelika Franz
Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden
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Es gibt 9 Rezensionen von Angelika Franz.

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Zitiervorschlag
Angelika Franz. Rezension vom 12.08.2021 zu: Asmus Finzen: Schizophrenie. Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2020. 3., korrigierte Auflage. ISBN 978-3-96605-046-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28237.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.


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