Martin Wendisch: Kritische Psychotherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Herbert Breger, 09.07.2021

Martin Wendisch: Kritische Psychotherapie. Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft. Hogrefe AG (Bern) 2021. 496 Seiten. ISBN 978-3-456-85989-7. 59,95 EUR.
Thema
In diesem Sammelband behandeln 27 Autoren in 36 Beiträgen (davon 12 vom Herausgeber selbst) Psychotherapie unter den verschiedensten Blickwinkeln und Aspekten; die Analyse der Einflüsse der Gesellschaft auf die Psychotherapie steht im Vordergrund. Der Herausgeber hat eine ganze Reihe renommierter Autoren wie etwa den Philosophen Jürgen Mittelstraß als Beiträger gewonnen.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel:
- „Neoliberale Gesellschaft“,
- „Neoliberale Wissenschaft“,
- „Gesellschaftliche Bereiche“,
- „Perspektiven integrierter Heilkunde“ sowie
- „Ausblick: Hoffnung auf Erneuerung?“.
Die Corona-Krise hat die Brisanz und Aktualität der Thematik verschärft.
Inhalt
Giovanni Maio legt dar, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu einem Druck in Richtung auf Standardisierung, planmäßige Beherrschung des Therapieprozesses, dokumentierbare Parameter führt. Es findet daher nicht weniger statt als eine sukzessive Umerziehung aller Heilberufe; die Kunst des Verstehens des Patienten wird zurückgedrängt oder abgeschafft. Jürgen Kriz untersucht die Monokultur in der deutschen Psychotherapie; 99 Prozent der einschlägigen Professuren sind mit Verhaltenstherapeuten besetzt. Kriz zeigt die unausgesprochenen Voraussetzungen der Prüfverfahren zur Beurteilung der Effektivität einer Therapie. Michael B. Buchholz widmet sich der Novelle des deutschen Psychotherapiegesetzes. Behandlungsergebnisse haben vor allem mit der Qualität der Arbeitsbeziehung von Therapeut und Patient zu tun; das therapeutische Tun ist nicht mit Begriffen wie Intervention oder Technik zu beschreiben, sondern mit Begriffen wie Hoffnung, Glauben an das Wirken des Therapeuten, Überzeugtsein des Therapeuten von seiner Methode. Freilich steht dem der Einfluss der Pharma-Industrie entgegen: Das Interview des damaligen Gesundheitsministers Seehofer („Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt sind, haben nichts zu entscheiden“) ist auf YouTube abrufbar. Rainer Krause und Jenny Kaiser erörtern Schwierigkeiten der Untersuchung des therapeutischen Prozesses und weisen insbesondere auf die von der Forschung bisher unterschätzte Rolle des Schweigens hin.
Michael Geyer zeigt an Hand der Geschichte des Psychotherapeuten-Berufs, dass es heute ebenso schwer wie früher ist, dem Zeitgeist und den Machtverhältnissen zu widerstehen. Ralf Lankau betrachtet die Digital-Technik als eine Technik der Gegen-Aufklärung; man spricht neutral von „Digitalisierung“, aber es geht um Unternehmen und deren Geschäftsfelder. Erfahrungsgemäß wird jede
Technologie, die für Überwachung und Kontrolle genutzt werden kann, auch wirklich dafür genutzt, unabhängig von der Rechtslage.
Christoph Butterwegge analysiert die Einkommensverteilung und die Umwandlung Deutschlands in eine reine Marktgesellschaft mit sozialer Eiseskälte; durch Hartz IV hat sich das Land in eine Gesellschaft der Angst entwickelt; die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Hartz-IV-Empfängern und prekär Beschäftigten ist auffällig. Gisela Bergmann-Mausfeld und Rainer Mausfeld
behandeln neoliberale Herrschaftstechniken; die systematische Verwandlung von Realangst in Binnenangst sowie der meritokratische Zirkelschluss der Erfolgszuschreibung gehören dazu. Eine Kultur der Verantwortungslosigkeit bei politischen Entscheidungsträgern wird ergänzt durch ein hohes Maß an Scham und Selbstkritik bei den unteren Klassen der Gesellschaft. Klaus-Jürgen Bruder stellt fest, dass die Gewöhnung an Krieg das ist, was sich vor unseren Augen abspielt. Unsere Regierungen haben kein Interesse an Entspannungspolitik, sondern schicken in viele Länder Soldaten und neuerdings ein Kriegsschiff ins chinesische Meer.
Tobias von der Recke erläutert die Konzeption von Haim Omer zur Bearbeitung familiärer Probleme, bei der es um mehr elterliche Präsenz und weniger professionelle Unterstützung geht. Silke Schwarz und David Martin thematisieren verschiedene Einflüsse von Familie und Schule auf die Kindergesundheit. Die kognitive Entwicklung von Kindern steht mit der Zeit in Beziehung, die sie draußen gespielt haben. Das Talentpotenzial oppositionell agierender Jungen mit großem Autonomieanspruch wird oft verkannt. Die Offenheit für moralische und pädagogische Intuition wird in der aktuellen Forschung noch zu wenig als Quelle der Erkenntnis beachtet. Joachim Klosterkötter beschreibt neue Entwicklungen zur präventiven Psychiatrie und Psychotherapie: 18 Millionen Menschen erfüllen mindestens einmal im Jahr in Deutschland die Kriterien voll ausgeprägter Krankheit. Günter Zurhorst kritisiert, dass die soziale Dimension trotz Lippenbekenntnissen in der Regel ausgeklammert wird. Frühe psychosoziale Belastungen erhöhen das Risiko für Krankheiten aller Art, bis hin zu 20 Jahre früherem Tod. Die Lebenserwartung verbessert sich drastisch, wenn soziale Ungleichheit verringert wird. Leo Nefiodow und Simone Nefiodow weisen darauf hin, dass in den USA das Gesundheitswesen 2024 der größte Arbeitgeber sein wird.
In je zwei Aufsätzen stellen Werner Geigges und Ottmar Leiß einerseits und Martin Wendisch andererseits das Krankheitsverständnis und das Wirkungsverständnis einer integrierten Medizin beziehungsweise einer integrierten Psychotherapie gegenüber. Dabei ist ein geistes- und bewusstseinswissenschaftlich inspiriertes Verständnis von Medizin vorausgesetzt.
Diskussion
Ulrich Kutschera wirft in seinem Beitrag über „Sexualität und Gender aus Sicht der Evolutionsbiologie“ der Psychologie und Soziologie (insbesondere der Genderforschung und Freuds Theorie frühkindlicher Sexualität) Unwissenschaftlichkeit vor, weil der Begriff der Sexualität anders verwendet wird als von den Biologen schon lange vorher definiert (nämlich als Verschmelzung von Keimzellen, also stets auf Fortpflanzung bezogen). Mir scheint es selbstverständlich, dass sich die Begrifflichkeit eines Objektbereichs sinnvollerweise aus den Bedingungen und Problemlagen dieses Objektbereichs ergeben. Oder soll es auch unwissenschaftlich sein, wenn ein Psychologe von Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung spricht, obwohl doch die Physik den Begriff der Wärme schon lange vorher anders definiert hat?
Fazit
Der Sammelband stellt ein Handbuch der kritischen Psychotherapie dar. Dabei stehen die mannigfaltigen Einflüsse der Gesellschaft im Vordergrund. Die Beiträge sind zwischen 5 und 25 Seiten lang und informieren die Leser*innen knapp und präzise. Die außerordentliche Vielfalt der Aspekte macht das Handbuch zu einer Fundgrube beim Lesen und zu einem nützlichen Nachschlagewerk. Der Rezensent möchte das Buch jedenfalls wärmstens empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Herbert Breger
Mailformular
Es gibt 1 Rezension von Herbert Breger.
Zitiervorschlag
Herbert Breger. Rezension vom 09.07.2021 zu:
Martin Wendisch: Kritische Psychotherapie. Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft. Hogrefe AG
(Bern) 2021.
ISBN 978-3-456-85989-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28247.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.