Stephan Lorenz (Hrsg.): In Gesellschaft Richard Sennetts
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 02.03.2022

Stephan Lorenz (Hrsg.): In Gesellschaft Richard Sennetts. Perspektiven auf ein Lebenswerk.
transcript
(Bielefeld) 2021.
229 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5309-0.
D: 30,00 EUR,
A: 30,00 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema und Autor:innen
Richard Sennett bereichert seit Jahrzehnten als Soziologe und öffentlicher Intellektueller die gesellschaftlichen Zeitdiagnosen. Die Autor:innen nehmen das Werk von Sennett in den Blick und diskutieren dessen aktuelle Relevanz, das auch heute noch nicht an Aktualität verloren hat. Sie widmen sich jeweils einem zentralen Thema seiner Arbeiten – Charakter, Öffentlichkeit, Kultur, Demokratie, Stadt, Arbeit, Soziale Arbeit, Schreiben, Pragmatismus und Ethik – und liefern damit ein wichtiges Referenzwerk der deutschsprachigen Sennett-Rezeption.
Herausgeber ist Stephan Lorenz, außerplanmäßiger Professor für Soziologie an der Universität Jena.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation ist in elf Kapitel differenzierter Länge untergliedert und wurde von verschiedenen Autor:inen geschrieben. Es schließt sich ein Nachwort mit einem Dank an.
Im ersten Kapitel, vom Herausgeber verfasst, „Erkundungen“ wird das Lebenswerk Sennetts herausgearbeitet, indem er betont, dass Sennetts ethische Überlegungen primär in der alltäglichen Praxis der Menschen, in kollektiven Werten und einheitsstiftenden Gefühlen zu finden seien.
Hartmut Rosa ist der Autor von Kapitel zwei „Charakter“. Für Sennett beginne die Charakterbildung ganz eindeutig in der Hand, nicht im Kopf, wobei es der Entwicklung der sozialen wie der materiellen Dimension bedürfe. Sennetts Gesamtwerk könne man wie eine umfassende Kulturverfallsdiagnose interpretieren, die von der Sorge um den menschlichen Charakter motiviert sei.
Rainer Winter nimmt im folgenden Kapitel die „Öffentlichkeit“ in den Blick. Sennett kommt zum Schluss, dass die Tyrannei das Alltagsleben durchdringe und psychologische Kategorien die Wahrnehmung der Gesellschaft bestimmten.
Mit „Kultur“ sind die Ausführungen von Jörn Lamia überschrieben. Wenn sich Bürger:innen wie moderne Konsument:innen verhielten, wäre das problematisch, weil man sich als bloße:r Konsument:in von politischen Problemen abwenden könne, wenn sie ihm zu schwierig oder zu unangenehm würden.
Der „Demokratie“ wendet sich Vincent August in seinem Kapitel zu. Es bestehe die Besorgnis, dass der Ausnahmezustand durch Corona dazu genutzt werden könnte, über mehr Kontrolle und Überwachung der Bürger:innen zu gelangen und sie zur Normalität führen könnte. Die intime Gesellschaft und ihr narzisstischer Individualismus könnten dazu genutzt werden, kollektive Handlungsräume einzuschränken, die notwendige Bedingung für freiheitliche Gesellschaften sei.
Mit der „Stadt“ setzt sich Frank Eckhardt in seinen Ausführungen auseinander. Die Stadt sei für Sennett ein Ort, an dem sich die Gesellschaft beobachten ließe. So beschrieb er den Wegzug von Weißen, wenn Afroamerikaner in ihre Nachbarschaft zögen, als soziale Homogenisierung und Isolation, die sich auf das Leben der Menschen auswirke. Wer das Zusammenleben von Weißen und Schwarzen verbessern wolle, müsse strukturelle Bedingungen verbessern, die sich in Schule, Arbeitsmarkt, Staat und Gesellschaft verorten ließen.
Das nächste Kapitel zum Thema „Arbeit“ hat Alexandra Scheele verfasst. Unter dem Begriff Flexibilität, so Sennett, entstünde ein neues Kontrollregime, das die ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen verschleierte. Die Beschäftigten würden ihrer Möglichkeiten zur Gestaltung ihres eigenen Lebens beraubt, da es keine Sicherheit mehr gäbe, dass einmal erworbene Qualifikationen langfristig Bestand hätten.
Mit der „Sozialen Arbeit“ setzen sich die Ausführungen von Albert Scherr und Holger Ziegler auseinander. Sozialer Arbeit käme dann eine Bedeutung zu, wenn problematische gesellschaftliche Zustände zu problematischen Verhaltensweisen führten, die einen anderen, gesellschaftlich akzeptierten Umgang mit den jeweiligen Lebensbedingungen bewirkten. Soziale Ungleichheiten bestünden nicht allein in einem Mangel an materiellen Ressourcen, sondern darin, dass die Benachteiligten die Bedingungen gesellschaftlicher Wertschätzung nicht erfüllen könnten. Soziale Probleme der Lebensführung stünden in einem Zusammenhang mit relativer Deprivation, geringer sozialer Anerkennung und einer unzureichenden sozialen Grundlage für die Entwicklung von Selbstachtung.
Über das „Schreiben“ berichtet Alexander Weinstock in seinem Kapitel. Sennett orientierte sein Handwerk des Schreibens an Techniken der fiktionalen Erzählliteratur. Er schrieb drei Romane, die vom Autor näher beschrieben werden.
Mit dem „Pragmatismus“ beschäftigt sich Magnus Schlette. Zentral für das Verständnis Sennetts sei der pragmatische Erfahrungsbegriff, der auf dem organischen Schaltkreis von Reiz und Reaktion beruhe. Er betonte des Weiteren, dass mit dem Bedeutungsverlust des handwerklichen Könnens und seiner kooperativen Kooperation eine die politische Kultur gefährdende Wirklichkeitsverarmung einherzugehen drohe.
Das letzte Kapitel von Ruth Großmaß nimmt die „Ethik“ in den Blick. Drei zentrale Themenstränge beschäftigten Sennett in seinen Werken, die Stadt als Raum, in dem und durch das soziales Leben strukturiert werde, die psychischen Effekte von Orten sowie die Frage, wie sich unter der Bedingung der Moderne ein Leben organisieren ließe, das man nicht nur ertragen, sondern gut finden könne. Seine Denkprozesse wechselten zwischen Essay, Sozialgeschichte und Rückgriffen auf Empirie.
Diskussion
In diesem Band wird das Wirken und Schaffens des US-amerikanisch-britischer Soziologen Sennett vorgestellt und dezidiert diskutiert. Es ist ein umfangreiches Schaffen, das von verschiedenen Autor:innen in den Blick genommen wird. Es wird immer wieder mit Schriften anderer renommierter Soziologen verglichen und in Beziehung gesetzt. Die Beiträge sind alle gut aufeinander abgestimmt und von einer seltenen wissenschaftlichen Tiefe durchdrungen.
Fazit
Ein empfehlenswertes Buch, das allerding nur speziell von Soziolog:innen verstanden werden kann, sodass nur eine eingeschränkte Leser:innenschaft angesprochen wird. Die Herausforderung, so die Autor:innen, bestehe gegenwärtig darin, zur Verantwortung zu ermächtigen sowie individuelles Handeln im Zusammenspiel institutioneller und struktureller Aspekte zu sehen. Sennett hätte diesen Weg konsequent beschritten und sei deshalb heute mit seinen Werken und Überlegungen aktueller denn je.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 02.03.2022 zu:
Stephan Lorenz (Hrsg.): In Gesellschaft Richard Sennetts. Perspektiven auf ein Lebenswerk. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8376-5309-0.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28263.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.
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