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Anna Henkel (Hrsg.): Verantwortung

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 27.09.2021

Cover Anna Henkel (Hrsg.): Verantwortung ISBN 978-3-8376-5112-6

Anna Henkel (Hrsg.): 10 Minuten Soziologie. Verantwortung. transcript (Bielefeld) 2021. 206 Seiten. ISBN 978-3-8376-5112-6. D: 16,99 EUR, A: 16,99 EUR, CH: 21,90 sFr.
Reihe: 10 Minuten Soziologie - 5.

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Thema und Herausgeberin

Der Begriff der Verantwortung ist die Verpflichtung, für etwas einzustehen und die Berechtigung, zum Zwecke der Erfüllung einer Aufgabe oder in einem eingegrenzten Funktionsbereich selbstständig zu handeln. Verantwortung des Konsumierenden für Nachhaltigkeit, Verantwortung von Unternehmen im internationalen Kontext, gesellschaftliche Verantwortung angesichts neuer Technologien. Die Autoren dieses Bandes nehmen die Verantwortung von Wissenschaft, Politik und Konsumierenden in den Blick und zeigen aus soziologischer und interdisziplinärer Perspektive auf, wie sie mit Macht, Kultur, Materialität und Moral zusammenhängt.

Herausgeberin ist Anna Henkel, Professorin für Soziologie an der Universität Passau.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist in einzelne Kapitel differenzierter Länge, die nicht nummeriert sind und von verschiedenen Autor*innen geschrieben wurden, gegliedert.

Im ersten Kapitel „10 Minuten Soziologie: Verantwortung“ von der Herausgeberin verfasst, wird davon ausgegangen, dass es uns möglich ist, für sich und das Gemeinwesen vernünftig zu handeln und damit Verantwortung übernehmen. Die Herausforderung bestehe darin, zu Verantwortung zu ermächtigen sowie individuelles Handeln im Zusammenspiel institutioneller und struktureller Aspekte zu sehen. Der Band lade zum Nachdenken über Verantwortung ein.

Das folgende Kapitel von Peter Fonk setzt sich mit der „Sozialethik. Transformationen des Verantwortungsbegriffs “ auseinander. Der hier gebrauchte Begriff von Verantwortung reflektiert, dass er durch einen Verlust zwischenmenschlicher Unmittelbarkeit in wichtigen Handlungs- und Entscheidungsprozessen konfrontiert ist, der nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch neue Risiken und Unsicherheiten schaffe. Dabei gehe es nicht mehr nur um individuelle Zurechenbarkeit, sondern zunehmend um die Frage nach gerechten oder ungerechten Strukturen. Dass wir unter Erfolgsdruck stünden, sei nicht dem Markt geschuldet, es seien unsere eigenen Einkommens- und Gewinninteressen.

Der Titel des Kapitels von Molte Rehbein ist die „Historische Perspektive. Verantwortung zwischen Wissenschaft und Politik“. Diese Ausführungen diskutiere die Frage der Verantwortung von Wissenschaft in der Gesellschaft sowie der Verantwortung von wissenschaftlich Agierenden aufgrund ihrer Profession, ihres grundsätzlich geschützten Status und ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Es wird die Frage gestellt, ob Wissenschaftler moralisch verantwortlich seien für die unbeabsichtigten Folgen ihrer Entdeckungen. Die Verantwortungsfrage in der Wissenschaft werde zunehmend kollektiviert und institutionalisiert.

Thorsten Benkel schreibt ein Kapitel über „Systemtheorie. Moral als Verantwortungsdiebstahl“. In den Ausführungen soll gezeigt werden, dass moralische Ansprüche gegenwärtig nicht mehr als verbindliche Klammern des gesellschaftlichen Zusammenlebens fungierten, sondern nur von subjektiver Geltung seien. Deshalb wird zunächst auf die Ambivalenz moralischer Geltungen verwiesen. Moralisch agieren hieße, an Werten und Überzeugungen teilzuhaben, die die beste Option seien, weil sie den Geist der Gemeinschaft bewahre.

Ein weiteres Kapitel verfasst Martina Moletzky „Struktirationstheorie: Die Rekrutierung von Geflüchteten“. Es gehe bei Asylsuchenden vor allem um die Integration in den Arbeitsmarkt als wichtige Voraussetzung für die Reduktion fiskalischer Kosten und den sozialen Frieden. Allerdings läge hier eine doppelte Benachteiligung vor und zwar ausgedrückt durch einen späteren Arbeitsmarkteintritt, durch schlechtere Arbeitsbedingungen und durch das Arbeiten auf einem niedrigeren bzw. abgewerteten Qualifikations- und Lohnniveau. Es wird die These aufgestellt, dass die Einstellung von Geflüchteten weniger Ausdruck unternehmerischer Verantwortung sei, sondern eher von gesellschaftlichen Machtverschiebungen.

Mit „Sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung“ ist der Beitrag von Bernhard Stahl überschrieben. Eine These lautet, dass der Erfolg des Begriffes Verantwortung in seiner Vielschichtigkeit läge und dass die Mitglieder der politischen Elite sehr Verschiedenes darunter fassten. In der Debatte um den Verantwortungsbegriff zugunsten von Waffenlieferungen ließen sich drei Aufladungen zeigen: Verantwortung übernehmen für „nie wieder Auschwitz“, für die neue zugeschriebene Größe Deutschlands und für eine höhere Einflusssicherung.

Die Autorin des Bandes, Anna Henkel, schreibt einen Beitrag zur „Systemtheorie. Selbstmedikation – die Verantwortung des mündigen Patienten“. Es stelle sich die Frage, wofür der mündige Patient in der Selbstmedikation Verantwortung übernehme? Ein hoher Grad an Standardisierung und eine Verlässlichkeit sozialer, komplexer Strukturen schaffe die Bedingungen dafür, dass dem mündigen Bürger eine Verantwortung für Risiken und Kosten zuschreibbar werde und ebenso dafür, dass Pharmaka zu Konsumgütern werden, die zu konsumieren der mündige Patient die Freiheit habe.

Matthias Meitzler widmet sich in seinen Ausführungen der „Körpersoziologie“ und es wird die Frage gestellt, was Körperautonomie im Kontext individueller Persönlichkeitsentfaltung bedeute. Indem die Körpersoziologie Körperlichkeit als sozialwissenschaftliche Basiskategorie zu fassen versuche, sei die Soziologie mehr als eine spezielle Soziologie. Das Resümee des Autors ist, dass Menschen nicht nur die Freiheit, sondern auch die Verantwortung zukomme, was ihrem Körper guttut und was nicht.

„Wirtschaftsethik“ steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Annekatrin Meißner. Sie debattiert über die Weiterverschiebung der Verantwortung z.B. bei Umweltverschmutzung, die auf dem Verursacherverständnis von Verantwortung begründet sei, die als Folge einer Handlung entstehe, für den es einen Urheber gäbe. Strukturelle Ungerechtigkeit entstehe als Resultat von Handlungen vieler Individuen und Institutionen, die ihre eigenen Ziele und Interessen verfolgten.

Diego Compagna setzt sich mit dem „Postkolonialismus“ auseinander. Er geht davon aus, dass Risiken und unerwünschte Folgen der reichen Industrieländer in die armen Länder ausgelagert würden, der sich als eine Dominanz des Westens gegenüber der Natur, der Welt manifestiere. Beim Postkolonialismus gehe es vorrangig um das herrschaftsförmige Verhältnis, das sich aus der Domestizierung der Natur westlicher Kulturen in einer machtförmigen Subjekt-Objekt-Beziehung niederschlage.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit dem „Sozialkonstruktivismus“, das von Johannes Frederik Burow geschrieben wurde. Als soziale Roboter werden hier Roboter verstanden, die dazu konzipiert würden, um mit Menschen interagieren zu können. Er betrachtet Spielzeugroboter als soziale Wesen, die von Kindern wahrgenommen und imitiert würden. Da die Wirklichkeitsproduzenten der menschlichen Entwickler nach wie vor männlich dominiert würden, werden die smarten Roboterspielzeuge als fremde Männer in die Kinderzimmer gelassen.

Das letzte Kapitel dieses Bandes ist den „Science and Technology Studies“: „Die Datafizierung von Alltagspraktiken“ von Tanja Schneider, Klaus Fuchs und Simon Moyer vorbehalten. Der Prozess der Datafizierung des Alltags ließe sich über die Kundenkarten im Supermarkt beschreiben. Die Verantwortung läge bei allen Beteiligten, wenn sie auch unterschiedlich verteilt wäre.

Diskussion

Es ist ein bewundernswert komplexes Anliegen des Buches, das einen Begriff aufgreift, den der Verantwortung, der in der Soziologie speziell noch nie so detailliert diskutiert wurde. Wissenschaftlich tiefgründig analysiert wird hier versucht, die Verantwortung und deren Folgen nach dem Verursacherprinzip zu fassen. Das reicht von der Strukturationstheorie der Geflüchteten über die Sozialkonstruktivistische Außenpolitik bis zur Körperlichkeit und der Datenanhäufung der Kundenkarten und den Spielzeugrobotern, die aufgegriffen und theoretisch in den Blick genommen werden. Eine wirklich sehr interessante Publikation, die zudem ohne Redundanz auskommt und sehr konzentriert die Probleme erörtert und erklärt. An jedem Kapitelende wird in komprimierter Form zusammengefasst, was die wesentlichen Aspekte des Beitrages sind.

Fazit

Ein sehr empfehlenswertes Buch, das nicht nur speziell an Soziolog*innen gerichtet ist, wenn es auch soziologisch stark argumentiert. Es ist ein Buch, das alle aufrütteln soll an die spezifische Verantwortung und deren Folgen zu denken. Die Herausforderung, so die Herausgeberin, bestehe gegenwärtig darin, zu Verantwortung zu ermächtigen sowie individuelles Handeln im Zusammenspiel institutioneller und struktureller Aspekte zu sehen. Hierbei gehe es nicht nur um individuelle Zurechenbarkeit, sondern vor allem um die Frage nach gerechten oder ungerechten Strukturen und darum, wie jeder Einzelne zur Verantwortung steht und ob er sich der Konsequenzen seines Handelns bewusst wird. Die Reihe „10 Minuten Soziologie“ sollte weiter verlegt werden, denn mit ihr gelingt es, so wichtige Begriffe wie „Verantwortung“ in den Fokus zu nehmen und wissenschaftlich konkret zu betrachten.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 205 Rezensionen von Gisela Thiele.

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ISSN 2190-9245