Winfried Witjes: Sozialstrukturvergleich Deutschland, Österreich, Schweiz
Rezensiert von Dr. phil. Alexander Akel, 07.03.2022

Winfried Witjes: Sozialstrukturvergleich Deutschland, Österreich, Schweiz.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2021.
108 Seiten.
ISBN 978-3-339-11954-4.
D: 65,80 EUR,
A: 67,70 EUR.
SOCIALIA - Studienreihe Soziologische Forschungsergebnisse - 156.
Thema
Bücher auf dem Gebiet der einzelfallbezogenen Sozialstrukturanalyse füllen ganze Regale. Vergleichend angelegte Literatur, die den Unterschieden wie Gemeinsamkeiten der Sozialstruktur in mehreren Ländern nachgeht, ist dahingegen rar gesät. Winfried Witjes bearbeitet dieses Desiderat in seinem Buch „Sozialstrukturvergleich Deutschland, Österreich, Schweiz“ unter besonderer Berücksichtigung der Beschreibung wie Analyse sozialer Ungleichheit. Es richtet sich v.a. an Studierende zu Beginn ihres Studiums der Sozial-, Erziehungs- oder Kulturwissenschaften. Vorkenntnisse sowohl der Soziologie als auch der Sozialstrukturanalyse werden nicht vorausgesetzt (Buchrücken).
Autor
Dr. Winfried Witjes ist als Sozialwissenschaftler an der Technischen Universität Dortmund tätig.
Aufbau
Neben einem Vorwort und einem Literaturverzeichnis gliedert sich das Buch in acht inhaltliche Kapitel:
- Einleitung (Sozialstruktur als grundlegende Kategorie der Soziologie)
- Historische Genese der Sozialstruktur in modernen Gesellschaften im 19. Jahrhundert
- Entwicklung und Zusammensetzung von Bevölkerungen
- Private Formen der Lebensführung
- Bildungssysteme
- Arbeitsmarkt und Erwerbsarbeit
- Einkommen und Armut
- Sozialstruktur und soziale Ungleichheit
Inhalt
In der Einleitung unterbreitet Winfried Witjes eine Bestimmung von „Sozialstruktur“, worunter er in Anlehnung an Anthony Giddens „die grundlegenden, relativ dauerhaften Gliederungen und Zusammenhänge definiert, in denen die Mitglieder einer Gesellschaft eingebunden sind. Die Sozialstruktur bildet deren tragende Konstruktion“ (S. 9). Zu den tragenden Bestandteilen gehörten die strukturelle Zusammensetzung einer Bevölkerung, ihre Untergliederung nach den Merkmalen Alter, Geschlecht, Lebensform, Bildungssystem, Arbeits- und Erwerbsverhältnisse sowie Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sozialstrukturanalysen richteten sich dabei v.a. auf die Problematik der sozialen Ungleichheit, die in modernen und ausdifferenzierten demokratischen Gesellschaften im Widerspruch zum Gleichheitsversprechen stünde.
Die Sozialstruktur in Deutschland, Österreich und der Schweiz habe im 19. Jahrhundert, das im Zeichen der Industrialisierung stand, tiefgreifende Veränderungen erfahren. Der damit verbundene Siegeszug kapitalistischer Produktionsweise und die Herausbildung einer in „Proletariat“ und „Bourgeoisie“ dichotomisierten Klassengesellschaft, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, die Durchsetzung und Herausbildung staatlicher Bildungssysteme und die Etablierung des traditionell-bürgerlichen Familienmodells habe massive Veränderungen in der Sozialstruktur der Bevölkerungen in jenen Ländern hervorgerufen. So sei im Zeitraum von 1820 bis 1900 die Gesamtbevölkerung in Deutschland von 24,9 Millionen auf 54,4 Millionen, in Österreich von 3,4 Millionen auf 6,0 Millionen und in der Schweiz von 2,0 Millionen auf 3,3 Millionen angestiegen. Der Anteil der Stadtbevölkerung sei im Zeitraum von 1850 bis 1910 in Deutschland von 6 Prozent auf 35 Prozent, in Österreich von 6 Prozent auf 16 Prozent und in der Schweiz von 5 Prozent auf 21 Prozent angewachsen.
Während mit Blick auf die Entwicklung und Zusammensetzung von Bevölkerungen zwischen 1960 und 2020 in Deutschland die EinwohnerInnenzahl lediglich um 15 Prozent und in Österreich um 27 Prozent stieg, verzeichnete die Schweiz hier einen sehr hohen Zuwachs von 65 Prozent aufgrund des jährlichen Geburtenüberschusses. Zudem sei hinsichtlich des demographischen Wandels die Bevölkerung in den drei Ländern erheblich gealtert. So sank der Anteil junger Menschen von 24 Prozent auf 15 Prozent und der Anteil alter Menschen stieg von 18 Prozent auf 21 Prozent. Bei der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte verzeichnete die Schweiz sowohl 2008 (30,6 Prozent) als auch 2018 (37,5 Prozent) im Vergleich zu Deutschland (2008: 19,0 Prozent, 2018: 25,5 Prozent) und Österreich (2008: 17,4 Prozent, 2018: 23,7 Prozent) die höchsten Anteile.
Was das traditionell-bürgerliche Familienmodell betrifft, so seien in den drei untersuchten Ländern erhebliche Veränderungen zu beobachten. „Der normierte und sozial kontrollierte Zusammenhang seiner Bestandteile und deren Abfolge: Liebe – Heirat – Sexualität – Kinder – löste sich allmählich auf. Die einzelnen Bestandteile wurden sozusagen frei kombinierbar. […] Ermöglicht und begünstigt wurde dies durch die Wohlstandssteigerung in den Nachkriegsjahrzehnten, durch Bildungsreformen, Demokratisierung und Liberalisierung in den 1960/1970er Jahren wie auch durch die beginnende Frauenemanzipation“ (S. 53 f.).
Mit Blick auf die Bildungssysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz liefert der Autor den Nachweis für einen in allen Ländern bestehenden sozial selektiven Hochschulzugang. So hätten Kinder aus AkademikerInnenfamilien sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz eine sechsmal so hohe Chance auf ein Studium als Kinder aus Nicht-AkademikerInnenfamilien. In Österreich sei die Benachteiligung weniger ausgeprägt mit einem Größenverhältnis von 3:1. Zudem seien junge Menschen mit Migrationsgeschichte ebenso benachteiligt, was den Hochschulzugang betrifft. In Deutschland und Österreich betrage das Größenverhältnis jeweils 2:1, in der Schweiz dahingegen nahezu 4:1. Auch die Studien-Abschlussquoten fallen nicht sonderlich überragend aus. So beendeten 2018 in der Schweiz 55 Prozent ihr Studium erfolgreich. In Österreich habe diese Quote lediglich 41 Prozent und in Deutschland sogar nur 35 Prozent betragen.
Im Zeitraum von 2000 bis 2018 verhielten sich die Erwerbslosenquoten in den drei untersuchten Ländern auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Frauen waren durchgängig häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen als Männer. Wenn Frauen erwerbstätig sind, dann allerdings häufiger als Männer in Teilzeit. In Deutschland, Österreich und der Schweiz war die Erwerbslosigkeit bei AusländerInnen doppelt so hoch im Gegensatz zu InländerInnen. „Gründe dafür dürften die geringeren Qualifikationen sein, daneben aber auch die weiterhin bestehenden Vorbehalte von Arbeitgebern“ (S. 85).
Die Einkommensverteilung verhielt sich in den drei Ländern ähnlich. Das reichste Zehntel ihrer jeweiligen Bevölkerung besäße ungefähr mehr als ein Viertel des Gesamteinkommens, während das ärmste Zehntel lediglich über mehr als drei Prozent verfüge. Zwischen 2008 und 2018 sei nahezu jede fünfte Person mit Armut und Ausgrenzung konfrontiert gewesen. Kinder und Jugendliche seien mit etwa 20 Prozent besonders davon betroffen.
Die Herausarbeitung der sozialstrukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz werden differenziert nach den Kriterien der Verteilungs- und Chancengleichheit (Stefan Hradil). Hinsichtlich der Ungleichheit in den drei Ländern arbeitet Winfried Witjes u.a. folgende Gemeinsamkeiten heraus (S. 95 f.):
- Ein überholtes Sonderschulsystem, das weniger leistungsstarke und „problematische“ SchülerInnen aus den Regelschulen exkludiert, was zu ihrer Diskriminierung und Benachteiligung auf ihrem Bildungsweg führt
- Hohe soziale Selektivität beim Zugang zum Gymnasium: Ungefähr die Hälfte der SchülerInnen hat Eltern mit akademischer Qualifikation, weniger als 10 Prozent der SchülerInnen mit Eltern ohne einen Berufsabschluss besuchen ein Gymnasium
- Kinder von „bildungsarmen“ Eltern haben daher auch geringe Chancen zur Aufnahme eines Studiums, was ebenfalls für Kinder mit Migrationsgeschichte gilt
Hinsichtlich der Ungleichheit in jenen Ländern arbeitet der Autor u.a. folgende Unterschiede heraus (S. 96 f.):
- Die in der Schweiz lebende Bevölkerung weist den höchsten Bildungsstand auf, zurückzuführen auf die im Vergleich höchsten Investitionen in Bildung
- Deutschland hat das am wenigsten ungenutzte Potenzial an erwerbsfähigen Personen
- In Österreich gibt es die geringste Ungleichheit beim Einkommen
Diskussion
Der im Buch durchgeführte Sozialstrukturvergleich zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz ermöglicht einen niedrigschwelligen Zugang zur Sozialstrukturanalyse, der an einigen Stellen gleichwohl zulasten methodischer Sauberkeit geht. Die Kapitel wirken zuweilen willkürlich gesetzt, die Vergleichskriterien sind nicht immer eindimensional, disjunkt und erschöpfend (etwa „Eltern mit Hochschulabschluss“ und „Eltern ohne Berufsabschluss“, S. 61 und S. 68, ähnlich auch auf S. 81). Zudem stellt sich die Frage, ob eine Teilzeitbeschäftigung, die bereits ab 99 Prozent der regulären Vollarbeitszeit beginnt, erst unterhalb von 50 Prozent als atypische Beschäftigung gilt (S. 75). Schließlich wäre ein gründlicheres Lektorat des Textes vor Drucklegung zu empfehlen gewesen.
Fazit
Winfried Witjes hat mit seinem Buch über den Vergleich der Sozialstrukturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht nur ihre Unterschiede wie Gemeinsamkeiten herausgearbeitet, sondern auch eine kurzweilige Einführung in die Sozialstrukturanalyse vorgelegt. Der zu Beginn erwähnte Anspruch wurde eingelöst: Die verständliche Lektüre des Buches kommt ohne soziologische oder sozialstrukturanalytische Vorkenntnisse aus. Neben der o.g. genannten Zielgruppe eignet es sich auch für die Anwendung im Bereich der Ausbildung und des Studiums bei der Polizei im Fach Soziologie.
Rezension von
Dr. phil. Alexander Akel
B.A. Politikwissenschaft/Philosophie, Leitung der externen Koordinierungs- und Fachstelle der Partnerschaft für Demokratie beim Verein für Völkerverständigung e.V. der Hansestadt Warburg, Lehrbeauftragter für Politik und Soziologie an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) in Kassel
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