Claus Otto Scharmer: Theorie U - von der Zukunft her führen
Rezensiert von Prof. Dr. Paul Brandl, 12.08.2021

Claus Otto Scharmer: Theorie U - von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2020.
480 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0347-9.
D: 59,00 EUR,
A: 60,70 EUR.
Reihe: Management.
Der Autor
C. Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachusetts Institutes of Technology und Gründer des Presencing Instituts in Cambridge, MA; er lehrt an der Helsinki School of Economics und Berater in globalen Unternehmen, internationalen Institutionen und NGOs. Seine Führungskräfteprogramme bei Daimler, Fujitsu und PricewaterhouseCoopers wurden international ausgezeichnet.
Thema und Zielsetzung
Das Buch soll Führungskräften, Beratern und Entscheidern helfen, Ideen, Experimente und persönliche Praktiken und Vorgangsweisen zu entwickeln, die den Wandel von Unternehmen erleichtern und unterstützen.
Finanzkrise, Klimawandel, Flüchtlingsströme und Fundamentalismus – Im Zeitalter mit zerstörerischen Wandel stößt die Denkweise des maximalen Konsums und von Einzelinteressen an seine Grenzen. Der Zustand organisierter Verantwortungslosigkeit produziert Ergebnisse, die niemand wirklich will. Wer unter diesen Bedingungen führen will, muss die Blickrichtung ändern: von der Bekämpfung der gegenwärtigen Probleme hin zu einem „Erspüren“ der zukünftigen Möglichkeiten. Damit wird auch ein Bewusstseinswandel hin zu Gemeinwohl und Ökosystem-Bewusstsein verbunden sein – nicht nur für Personen, sondern auch für Teams und Organisationen. Der „Trick“: Man wechselt in den Bezugsrahmen der Zukunft und versucht von dort aus den zukünftig angestrebten Zustand zu realisieren – eine lösungsorientierte Vorgangsweise, indem man von der Zukunft in die Gegenwart geht. Daher auch Scharmers Leitspruch: Wie sich eine Situation entwickelt, hängt davon ab, wie man an sie herangeht.
Inhaltlicher Überblick
In den Vorworten, den Danksagungen und der Einleitung gehen die Autoren von den Beobachtungen zum Aufstieg von Achtsamkeit und Spiritualität, der Disruption, des Absencing und zur institutionellen Inversion sowie zur Aktivierung globaler Felder aus. Als Bild dient das Social-Presencing Theater, die Reintegration von Geist und Materie sowie die auf die Zukunft gerichtete Aktionsforschung. Der zerstörerische Wandel, der Landschaft der Pathologien und einem „blinden Fleck der Zukunft“ aus. Sie gehen von einem Eisbergmodell auf drei Ebenen aus: Sichtbar sind der ökologische, der soziale und der spirituell-kulturelle Abgrund. Darunter stellen sie die dazugehörigen Problembereiche von den begrenzten Ressourcen über das Konsumproblem bis zu den Betroffenen ohne Mitspracherecht. Darunter stellen sie vier Lösungsmuster vor:
- 1.0 staatszentriert mit Hierarchie und Kontrolle im Sinne des traditionellen Bewusstseins
- 2.0 freie Marktwirtschaft mit Wettbewerb und Egosystem
- 3.0 soziale Marktwirtschaft mit Netzwerken und Verhandlung sowie Stakeholder-Bewusstsein
- 4.0 generative Gemeinwirtschaft – Sehen und Handeln vom Ganzen her – Ökosystem-Bewusstsein
Der blinde Fleck der Zukunft ist das „Ding“ auf das man sich konzentrieren muss, ein Bild das aus einem kreativen Prozess hervorgeht. Man kann sich auf auf den Prozess des Malens konzentrieren oder die Entwickler bei der Arbeit beobachten. Schließlich geht es um ein Handeln von der entstehden Zukunft her.
Im Teil I geht es um die Begegnung mit dem blinden Fleck unterteilt in 7 Kapitel:
- Angesichts des Feuers
- Der Weg zum U
- Vier Ebenen des Lernens und der Veränderung
- Organisationale Komplexität
- Gesellschaft im Umbruch
- Philosophische Grundlagen
- An der Schwelle
Zum Schluss gilt es die Schwelle in die Zukunft überschreiten zu wollen.
Im Teil II erfolgt das Eintreten in das U-Feld wiederum in sieben Kapiteln:
- Downloading – Runterladen
- Seeing – Hinsehen
- Sensing – Hinspüren
- Presencing – Gegenwärtigung
- Crystallizing – Verdichten
- Prototyping – Erproben
- Performing – In die Welt bringen
Das Ausgehen von der Zukunft heißt auch über bestehende Konventionen hinauszugehen und auch Konflikte in Kauf zu nehmen. Eine Anlehnung an das Service Design?
Im Teil III heißt es „Presencing – eine soziale Technik für tief greifende Innovation“ wiederum in sieben Kapitel:
- Die Grammatik des sozialen Feldes
- Denkendes Handeln
- Kommunikatives Handeln
- Organisationales Handeln
- Globales Handeln
- Den Funken des In-die Welt-Kommens sozialer Realität fangen
- Prinzipien und Praktiken des Presencing für tief greifende Innovations- und Veränderungsprozesse (24 Prinzipien)
Das Arbeiten auf drei Ebenen wird eindrucksvoll vorgestellt und sichtbar gemacht.
In einem abschließenden Kapitel betont der Autor mehrmals, dass eine Qualifizierung entlang der U-Theorie Sinn macht und notwendig ist. Dazu werden unter der Überschrift „U.School“ Überlegungen angestellt, wie ein bewusstseinsbasierter Systemwandel praktisch machbar sein kann. Die Beantwortung der Frage erfolgt in mehreren Gedankengängen und fordert die LeserInnen auf, eigene Gedanken einzubringen.
Diskussion
Ich kenne die U-Prozedur von der OE-Werkstatt von Fritz Glasl/Trigon und hatte dieses Instrument in den letzten Jahren etwas aus den Augen verloren. Das Buch von Anfang bis zum Ende zu lesen, geht nur in mehreren Anläufen. Einen Überblick zu verschaffen war mir anfangs wichtig, das Ansetzen auf der persönlichen Ebene ist für mich der Schlüssel zum Beschreiten des in der U-Theorie vorgezeichneten Weges. Bei der Lektüre entstanden auch viele Impulse und Gedankenanstöße, auch wenn ich mich nicht zu den „Öko-Freaks“ zähle. Die wesentlichsten Erkenntnisse für mich: „Veränderung braucht Zeit“, „Es gilt in der Sprache der KlientInnen zu sprechen“ und „Es gilt win-win-Lösungen für die Beteiligten zu entwickeln“. Es wäre eine lohnende und äußerst Reizvolle Aufgabe in Umsetzung des Buches Lernformate zu entwickeln, die ein Umdenken auf den drei Ebenen (personell – betrieblich – fördern. Wie könnte ein „Zukunftsgymnasium“ – Unterstufe und Oberstufe jeweils aufbauend ausgerichtet – aussehen? Wie könnte ein entlang der Theorie U gestalteter Studiengang aussehen?
Fazit
Das relativ umfangreiche Präludium (24 Seiten) in Form der Vorwörter für die erste und letzte Auflage und ebenso die beiden Danksagungen scheinen etwas überschießend und ließen sich inhaltlich in den Normaltext eingliedern. Abgesehen von dieser Kritik ist nach der Lektüre dieses Buches klargestellt, dass eine „Weiter So“-Strategie im Bereich der Weiterentwicklung sozialer Dienstleister sowie auch der Organisationsentwicklung bzw. dem Change Management auf Dauer wenig erfolgversprechend erscheint – ebenso auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene. Es braucht für eine erfolgversprechende Weiterentwicklung eine Neuausrichtung, die über eine zurückschauende Vorausschau hinausgeht, eine neue kulturelle und mentale Ausrichtung der Personen, der Organisationseinheit bzw. des Unternehmens – jedenfalls ein längerdauernder Prozess. Daraus entwickelt sich eine neue Basis für die Rollen und Aufgaben der Führungskräfte sowie in weiterer Folge des Verhaltens aller Mitglieder. Einer der wesentlichsten Ansatzpunkte ist eine entsprechende Qualifizierung der Führungskräfte und MitarbeiterInnen. Die Publikation ist – weil in dieser Auflage wesentlich leichter lesbar – eine profunde Unterstützung für alle UmdenkerInnen unter den OrganisationsentwicklerInnen. Ob die Ausfaltung in dieser epischen Breite notwendig ist, sei dahingestellt; jedenfalls braucht es für weniger sprachlich versierte Personen noch eine Reduktion auf mehrere leicht verdauliche Happen. Der inhaltlich Wurm muss schließlich dem Fisch schmecken.
Rezension von
Prof. Dr. Paul Brandl
war Professor für Organisationsentwicklung und Prozessmanagement an der FH Oberösterreich, Department für Sozial- und Verwaltungsmanagement und ist Berater insbesondere für die prozessbasierte Optimierung und Neugestaltung von sozialen Dienstleistern
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