Mohamed Amjahid: Der weiße Fleck
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 07.12.2021
Mohamed Amjahid: Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken. Piper Verlag GmbH (München) 2021. 2. Auflage. 224 Seiten. ISBN 978-3-492-06216-9. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 21,50 sFr.
Thema
Amjahid berichtet aus seiner Lebensrealität heraus über strukturellen Rassismus und weiße Privilegien und stellt die Frage „Und nun?“. Beschrieben wird, wie das System weißer Privilegien wirkt und „was man als Gemeinschaft oder als Individuum konkret tun kann, um Racial Justice, also Gerechtigkeit zwischen allen Menschen, herzustellen“. (S. 9)
Autor
Mohamed Amjahid ist Journalist, Buchautor und Moderator. Er war Redakteur beim ZEITmagazin und wurde u.a. mit dem Alexander-Rhomberg-Preis und dem Nannen-Preis ausgezeichnet. Amjahid ist Fellow im Thomas-Mann-House in Los Angeles.
Entstehungshintergrund
Nach seinem Sachbuch-Debüt „Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein“ (2017) ist dies sein zweites Sachbuch.
Aufbau
Das rund 200-seitige Buch gliedert sich in die neun Kapitel und schließt mit Literaturempfehlungen sowie einem Glossar.
- Vorsicht, zerbrechlich!
- Opferolympiade
- Oder soll ich es lassen?
- Die Neuerfindung der Welt
- Was willst du eigentlich, Mohamed?
- Refugee Porn
- Erinnerungsüberlegenheit
- Tödliche Vernunft
- Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln
Inhalt
Die Einleitung beginnt mit dem Satz „Mein Name ist Mohamed, und ich mache mir große Sorgen um meine körperliche Unversehrtheit, meine Existenz, mein Leben in Deutschland, in Europa, im sogenannten Westen.“ (S. 7). Das Buch bietet „Input für die antirassistische Debatte im deutschsprachigen Raum. Es beschreibt sowohl auf strukturell-institutioneller als auch auf persönlicher Ebene, wie das System weißer Privilegien überhaupt wirkt, wie tief es in unser Leben eingedrungen ist – und was man als Gemeinschaft oder als Individuum konkret tun kann, um Racial Justice, also Gerechtigkeit zwischen allen Menschen, herzustellen“ (S. 9).
Kapitel 1 „Vorsicht, zerbrechlich“ und Kapitel 2 „Opferolympiade“ legen die Verhaltensmuster privilegierter Menschen offen. Weiße Menschen, so die These, leben zumeist in einem sozialen Umfeld, „das sie vor Race-basiertem Stress schützt. Weiße sind demnach daran gewöhnt, dass ihr Weißsein gar nicht erst thematisiert wird. Sie existieren im Diskurs nicht als rassifizierte Personen, gar als homogen wahrgenommene Gruppe.“ (S. 16). White Fragility wird definiert als der „innere Zustand weißer Menschen, bei dem schon ein Minimum an Racial-Stress unerträglich werden kann.“ (S. 17).
Kapitel 3 „Oder soll ich es lassen?“ beschäftigt sich mit Lage innerhalb verletzbarer Gruppen. Mohamed Amjahid stellt sich folgende Fragen: „Was macht der strukturelle Rassismus mit der Community of Color in Deutschland? Wie geht es uns dabei, tagtäglich physischen und verbalen Angriffen aufgrund unserer Hautfarbe und Herkunft ausgesetzt zu sein? Wie wird dabei unsere Psyche, unser Blick, unser Verhalten (vor allem untereinander) beeinflusst?“ (S. 54).
Kapitel 4 „Die Neuerfindung der Welt“ hinterfragt, wie Wissen respektive Informationen produziert werden. Der Autor konstatiert, dass viele Begriffe der Rassismusdebatte zwar von „nichtweißen Autor*innen erdacht, weiterentwickelt oder aus anderen Sprachkreisen ins Deutsche übertragen [wurden].“ (S. 80). Diese nicht-weißen Quellen dann aber nicht zitiert würden, u.a. aufgrund der Argumentation „Weiße hören Weißen eher zu“.
In Kapitel 5 „Was willst du eigentlich, Mohamed?“ werden Entscheidungsräume betrachtet. Die Eltern von Mohamed Amjahid kehren 1995 mit ihren Kindern nach Marokko zurück als er sieben Jahre alt war. Die drei Kinder sind nicht begeistert. Der siebenjährige Mohamed fragt seinen Vater: „Warum hast du uns nach Afrika verschleppt?“. Der Vater antwortet mit einem Witz, seine Mutter erklärt, „dass es mit dem deutschen Rassismus zusammenhänge.“ (S. 101f). Der Autor führt aus „Bis zu meinem Abitur und meiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 2007 war ich einfach nur wütend, dass ich vermeintlich und im Vergleich zum fortschrittlichen Deutschland in Marokko weniger Bildungs- und Aufstiegschancen hatte. … Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich diese Zeilen hier gar nicht tippen könnte, wenn sich meine Eltern dafür entschieden hätten, in Deutschland zu bleiben, sehr hoch ist. … Ich würde heute meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich an meinem Geburtsort Frankfurt am Main höchstwahrscheinlich auf der Haupt- oder Sonderschule gelandet wäre.“ (S. 102).
Das Kapitel 6 „Refugee Porn“ beschäftigt sich mit Flüchtlingspornografie, ein Phänomen, das seit 2015 in Deutschland und anderen europäischen Ländern erkennbar ist. Die Zahl der Such-Nachfragen auf Pornographie-Plattformen mit Begriffen wie „Flüchtling“ oder „Refugee“ steigt. Videos zeigen Flüchtlinge oder Pornodarsteller*innen, die Flüchtlinge spielen. Arabische Männer werden als gewalttätig, arabische Frauen als besonders unterwürfig dargestellt. Z. B. spielen Darstellerinnen hungrige geflüchtete Frauen, die vom weißen Mann gedemütigt werden. Sex gegen Essen. Arabische Männer werden dagegen als besonders gewalttätig dargestellt. Die Zuschriften, die Mohamed Amjahid nach einer Veröffentlichung von Rechercheergebnissen auf „ZEIT ONLINE“ bekommt, sind Beschimpfungen: „Ich würde die Ehre des weißen Mannes beschmutzen. Es seien nämlich Mohameds wie ich, die diese Videos überhaupt anschauten. … Echte Deutsche würden so etwas dagegen niemals tun.“
Kapitel 7 „Erinnerungsüberlegenheit“ setzt sich mit der Dekonstruktion der deutschen Erinnerungskultur auseinander. Amjahid kritisiert „weiß-deutsche Institutionen“, die sich mit „Verweis auf Erinnerungskultur profilieren wollen.“ Amjahid weiter „Einerseits bleiben deutsche Geschichte und ihre Kontinuität im europäischen Kontext als bei Weitem unaufgearbeitet, andererseits wird schon behauptet, dass 'dieses Kapitel abgeschlossen' sei. In diesem Spannungsfeld wird deutsche Erinnerungskultur zur deutschen Erinnerungsüberlegenheit.“ (S. 147).
Die Enttarnung der „Tödlichen Vernunft“ ist Schwerpunkt des Kapitels 8. Amjahid fokussiert auf die deutsche respektive europäische Vernunft und stellt die Frage „Kann Vernunft etwas Schlechtes sein?“ und beantwortet dies mit „Ich würden sagen: ja. Das krasseste Beispiel, wie die europäische Vernunft zum – diplomatisch ausgedrückt – Nachteil des Rests der Welt eingesetzt wurde, ist der Kolonialismus.“ (S. 154).
Kapitel 9 „Lifestyle-Tipps für Süßkartoffeln“ bietet konkrete Anleitung zum antirassistischen Denken für den Alltag und das eigene gesellschaftspolitische Engagement und spricht 50 Empfehlungen aus (S. 176ff), beispielhaft:
- Man sollte als Individuum zunächst anerkennen, dass es so etwas wie weiße Privilegien und eine damit verbundene mächtige Struktur gibt.
- Reden Sie mit anderen weißen Menschen über weiße Privilegien.
- Respektieren Sie die Selbstbezeichnung von Angehörigen von Minderheiten.
- Sprechen Sie nie für Menschen, die sich in anderen Positionen befinden als Sie. Geben Sie also das Mikrofon, das Sie vielleicht in den Händen halten, einfach weiter.
Diskussion
Das Buch bietet über Anekdoten und Analysen umfängliche Denkanstöße, um über rassistische Gewalt, weiße Privilegien und Andersmachung von verletzbaren Minderheiten zu reflektieren. Der „Blinde Fleck“ – also das Unsichtbare, das „Nicht-Hinschauen“ der weißen Mehrheitsgesellschaft – wird offengelegt. Mohamed Amrid geht dann noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur darstellt, wie das System weißer Privilegien wirkt, sondern gibt 50 konkrete Hinweise („Lifestyle-Tipps“) für einen antirassistischen Alltag. Das Buch bzw. die Beispiele rütteln wach, erzeugen manchmal „fast automatisierte“ Verteidigung und sind eine empfehlenswerte Anleitung zum antirassistischem Denken und – noch wichtiger – Handeln.
Fazit
Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag in der Auseinandersetzung mit rechtsextremem Gedankengut und struktureller Diskriminierung. Die Sichtbarmachung des „Weißen Flecks“ ist wichtig – hier verweise ich auf die Widmung auf der abschließenden Buchseite: das Gedenken an jene neun Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau von einem Rechtsextremisten ermordet wurden. Mohamed Amjahid schließt das Buch mit dem Satz „Rassismus tötet“.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
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Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 07.12.2021 zu:
Mohamed Amjahid: Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken. Piper Verlag GmbH
(München) 2021. 2. Auflage.
ISBN 978-3-492-06216-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28280.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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