Gitta Scheller, Sigurður Rohloff (Hrsg.): Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Michael Bertram, 03.02.2022
Gitta Scheller, Sigurður Rohloff (Hrsg.): Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit. Ein Lehr- und Praxisbuch. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 279 Seiten. ISBN 978-3-7799-6318-9. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thematische Einordnung
Zweifellos zählt Pierre Bourdieu zu den einflussreichsten europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Seine Konzepte – vor allem: Kapital, sozialer Raum, Feld und der hier zentrale Habitus – haben auf der Ebene der Theorie zur weiteren Bearbeitung alter geisteswissenschaftlicher Probleme beigetragen. Gleichzeitig integrierte er zahlreiche große Ansätze der Soziologie – Bourdieu selbst bezieht sich auf Marx, Weber, Durkheim, Elias und andere –, verband ‚das Große’ der Gesellschaft mit dem konkreten Alltag, den Praktiken, der Akteure. Ferner war Bourdieu immer auch ein kreativer und pragmatischer Feldforscher und bediente sich verschiedener methodischer Möglichkeiten, Erkenntnisse zu generieren: ethnologische Praxisrekonstruktionen, das statistische Verfahren der Korrelationsanalyse, Bildinterpretrationen, qualitative Interviews – zeitlebens war er am „hartnäckigen Charakter empirischer Wirklichkeit“ (Blumer) interessiert.
Dadurch, dass er die Kultursoziologie mit der Soziologie sozialer Ungleichheit zusammenführte und in diesem Zusammenhang – in deutlicher Abgrenzung zum seinerzeits populären Existenzialismus Jean-Claude Satres –, auch die Frage individueller Freiheit im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen empirisch erforschte, wurde er auch zum Impulsgeber macht- und herrschaftskritischer Denktraditionen. Aus all diesen Gründen und wegen seinem breit gefächerten Interesse für theoretische sowie empirischen Gegenstände wird Bourdieu nach wie vor in vielen ‚Binderstrich-Sozíologien’ und über die Grenzen ‚seiner’ Disziplin hinaus aufgegriffen, diskutiert, angewendet und weiterentwickelt.
Auch für Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit dürfte es noch einige Schätze zu heben geben. Das betrifft sowohl die vorgelegten Konzepte als auch die Bourdieu eigene Arbeitsweise (in Bezug auf methodisches Vorgehen) sowie schließlich die so repräsentierte Perspektive auf Gesellschaft und Mensch. Und tatsächlich – eine Rezeption findet statt (u.a. Neuman 2008, Schmidt 2014, Wendt 2018: 94–103). In diesen Kanon stimmt der nun vorgelegte Sammelband mit ein, wobei ihn auszeichnet, dass er explizit als Lehr- und Praxisbuch gedacht ist. Ob es sich dabei um ein geeignetes Vorgehen handelt, die Bourdieu-Rezeption in der Sozialen Arbeit (weiter) voranzubringen? Wir wollen sehen.
Herausgeberin und Herausgeber
Dr. Gitta Scheller war an der HAWK Hildesheim/​Holzminden/Göttingen beschäftigt. Informationen zur aktuellen hauptberuflichen Tätigkeiten werden im Buch im Verzeichnis der Autor:innen nicht gegeben.
Dr. Sigurður Rohloff ist Professor für Sozialwissenschaft und soziologische Grundlagen der Sozialen Arbeit an der HAWK Hildesheim/​Holzminden/Göttingen.
Aufbau und Inhalt
In das Konzept des Bandes fließt nicht ‚nur’ der didaktische Anspruch ein, ein Lehr- und Praxisbuch zu sein. Gleichzeitig leitet sich seine inhaltliche Ausgestaltung aus dem aktuellen Stand der Diskussion in der Disziplin Sozialer Arbeit ab. Diese „Forschungsbefunde und Forschungslücken“ werden, nebst einer knappen Einführung in die Konzepte des Habitus und des Geschmacks, von Gitta Scheller offen gelegt (S. 10–38). Sie identifiziert vier größere Themenkomplexe, die von einer Reihe von Fragestellungen eingekreist werden. Die sich an die Einführung anschließenden Teile des Sammelbandes entsprechen diesen Eingrenzungen und werden im Rahmen von jeweils zwei Aufsätzen bearbeitet:
Zugänge zum Studium der Sozialen Arbeit und Passungen zur Fachkultur
Lena Loge interessiert sich dafür, wie „die Studien(fach)wahl eingebettet [ist] in übergeordnete Mechanismen sozieler Ungleichheit und welches Erklärungspotenzial … dabei das Habituskonzept von Bourdieu (1982) [hat], auch mit Blick auf die Dimension von Geschlecht“ (S. 40). Und: „Welche habitus- und milieuspezifischen Zugänge (vgl. Vester 2001) zur Sozialen Arbeit finden sich unter den Studierenden“ (ebd)? Die von ihr empirisch erforschten Einzellfälle zeigen, dass entsprechende Zugänge vielfältig sein können. Ein verbindendes Element sei, nach Loge, der „Wert von Gemeinschaft, kooperative[r] Handlungsmuster und ein besonderer Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen (S. 50; Hervorh. i. O.).
„Der Beitrag [von Kerstin Heil u.a] geht den Fragen nach, wie Lebenswege von Studierenden der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaft verlaufen, wie sich Studierende das Studium aneignen und wie diese Prozesse mit sozialer Ungleichheit und mit Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung verbunden sind“ (S. 53). Die Befunde, die sich auf ein aktuelles Forschungsprojekt – „STHAGE, Studienabbruch, Habitus und Gesellschaftsbild“ – beziehen, stellen einen Zusammenhang her zwischen der sozialstrukturellen und soziokulturellen ‚Herkunft’ der Studierenden und der Phase ihres Studiums. Die exemplarisch dargestellten „Fälle zeigen … auf, dass die Gesellschaftsbilder von Studierenden innerhalb einer Fachkultur nicht homogen sind. Deutlich wird vielmehr, dass in Verbindung mit dem eigenen Milieu und Habitus unterschiedliche gesellschaftliche Entwürfe konkretisiert werden, die auch die Studienfachwahl, den Zugang zur Fachkultur und zu den Studienstrategien und damit kulturelle (Nicht-)Passungen maßgeblich beeinflussen“ (S. 77). Daraus wird geschlussfolgert, dass es eine „Habitussensibilität“ seitens der Lehrenden (1), eine weitere Konturierung des Konzeptes des „professionellen Habitus“ (2) sowie weiterführende Forschungen zu den milieuspezifischen (Vor-)Prägungen von Sozialarbeitenden und den entsprechenden Konsequenzen (3) brauche (vgl. ebd, S. 77 f).
Habitussensibilität als ‚neue’ Professionalität? Überlegungen zu einer habitussensiblen Praxis in der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit ist (auch) Beziehungsarbeit. Im Arbeitsbündnis treffen (mindestens) zwei Subjekte aufeinander, die jeweils auf der Grundlage eines geprägten und prägenden Habitus miteinander versuchen zu interagieren, zu kooperieren. Dabei können sich Prozesse und Effekte von (Macht-)Verschleierung, Übertragung, Missbrauch, Instrumentalisierung, Missverstehen uvm. ereignen. Dieses ‚kleine Einmaleins’ Sozialer Arbeit nimmt Stefanie Massah zum Anlass, um „auf Spurensuche“ zu gehen (S. 84) und der „Bedeutung des Habituskonzeptes für die Professionalität in der Sozialen Arbeit“ (ebd.) nachzuspüren. Zusammengenommen sind es drei Einsichten, die ihre umfangreiche Literaturstudie zu Tage fördert:
- Die Autorin setzt sich mit dem Konzept der „symbolischen Gewalt“ auseinander, das man, wenn man so will, als eine konsequentere, machttheoretisch – und insofern auch (herrschafts-)kritisch – gewendete Lesart der für Bourdieu so zentralen Praktiken der Distinktion verstehen könne. Daraus folgt: „Einerseits muss das derartige grundsätzliche Verstehen des Gegenübers in Fleisch und Blut der*des Sozialarbeiter*in übergehen und damit selbst inkorporiert und damit zu einem Teil des professionellen Habitus werden“ (S. 104).
- Auch konfliktreiche Situationen und Konstellationen, die zwischen Angehörigen einer Profession – hier der Sozialen Arbeit – verlaufen, könnten mit Rückgriff auf das Konzept des Habitus analysiert werden, insb. da eine vermeintlich geteilte Vorstellung von Professionalität offenkundig (die Autorin berichtet von eigenen Erfahrungen) praktisch an seine Grenzen stoßen würde (vgl. 105 ff.).
- Gleichzeitig hätte sich sich das Habituskonzept – man muss ergänzen: in Verbindung mit den weiteren zentralen Begrifflichkeiten Bourdieus (v.a. sozialer Raum, Kapitalien und Feld) – als besonders leistungsfähig herausgestellt, wenn es darum geht, ein Verstehen zu realisieren, dass gleichermaßen Verhalten und Verhältnisse ein- und aufeinander bezieht (vgl. S. 107 ff.).
Im zweiten Beitrag dieses Teils fragt Martin Schmidt in Anlehnung an eine Formulierung Bourdieus (2002), ob es sich bei einer „Habitussensiblen Beratung in der Sozialen Arbeit“ um eine „unlösbare Aufgabe“ handelt. Er bezieht dabei die grundlegenden Merkmale habitussensibler Beratung auf machtkritische und lebensweltorientierte Beratungsansätze, indem er Parallelen nachzeichnet und die Erweiterungspotenziale einer habitussensiblen Perspektive umreißt; vor allem Erkenntnisse der auf Deutschland bezogenen Milieuforschungen (Vester u.a. 2015) kommen dabei ergänzend zum tragen. Im Wesentlichen geht es darum, „das Verständnis für die Anliegen heterogener Zielgruppen durch eine soziologische Perspektive [zu] erweitern“ (S. 114). Der (selbst-)reflexive, praktische Gebrauch des Habituskonzepts soll ein „soziologisches Verstehen“, ein „Entschlüsseln symbolischer Gewalt“ sowie die „Vermittlung sozialer Strukturen“ (S. 126–130) ermöglichen. Habitussensibilität, wie sie hier entwickelt wird, holt ‚die’ Gesellschaft gewissermaßen an den Beratungstisch. Martin Schmidt schlägt somit eine Tür auf, diese sozialen Situationen – die erfahrungsgemäß leider von Studierenden und Fachkräften (!) allzu oft als gesellschaftlich isoliertes Ereignis gedeutet und mittels Rezeption vor allem psychologischer Konzepte bearbeitet wird – mit dem größeren gesellschaftlichen Kontext, d.h. den milieuspezifischen Semantiken und Kapitalausstattungen, in Relation zu setzen.
Die Bewohner*innensicht auf das eigene Wohngebiet und Plädoyer für eine Blickfelderweiterung der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit
Felix Leßke und Jörg Blasius gehen in ihrem Beitrag „der Frage nach, wie die Wahrnehmung der eigenen Nachbarschaft sozialräumlich verortet werden kann“ (S. 145). Zentrale Bezugspunkte sind dabei Bourdieus Arbeiten zum sozialen und physischen Raum. ‚Harte’ Daten, wie Lage und Infrastruktur der verglichenen Wohngebiete werden mit der Subjektivität der Bewohnenden, die in Interviews ermittelt wurde, statistisch in Verbindung gebracht; methodisch wird dazu auf die Korrelationsanalyse zurückgegriffen. Wenngleich in der theoretischen Hinleitung vom Habitus die Rede ist, stellt diese empirische Untersuchung eher eine (implizite) Anwendung des Geschmack-Konzeptes dar, welches sich in die Formulierung der (wertenden) Wahrnehmung hineinlegen lässt. Bourdieus Vorstellungen von sozialen und physikalischen Räumen finden so, ohne an dieser Stelle detaillieren zu wollen, eine (weitere) empirische Verifikation.
Sigurður Rohloff macht sich sodann zum „Ziel, die Idee einer sozialraumorientierten Sozialen Arbeit zu entfalten, die Bourdieus Ausführungen zu Habitus und Geschmack berücksichtigt“ (S. 166), weil er der Auffassung ist, dass das in der Sozialen Arbeit etablierte Konzept des Sozialraums Gefahr läuft, hinter den selbst formulierten Ansprüchen Sozialer Arbeit – hier insb. soziale Gerechtigkeit und Menschenrechtlichkeit –, zurückzubleiben (vgl. ebd.). Nachdem verschieden Raumkonzepte dargestellt und diskutiert wurden, wird die Frage angedeutet, ob sich sozialer Raum auch als Menschenrecht verstehen lassen könnte. Nachdem der vorangestellte Beitrag (s.o.) ferner aus der Perspektive Sozialer Arbeit beurteilt wurde, geht es, das Kernstück dieses Aufsatzes, um „Interventionen im Sozialen Raum“: „Wie gelingt es nun Menschen, sich im Raum zu verwirklichen? Gelingt es allen in gleicher Weise? Und benötigen einige die professionelle und systematische Unterstützung durch die Praxis der Sozialen Arbeit“ (S. 180)? Einige Antworten:
- „Ohne konfliktbehaftete Positions-, Klassenkämpfe und milieubedingte Auseinandersetzungen und Verständigungsprobleme würde eine solche Umsetzung des Rechts auf Stadt mit oder ohne Soziale Arbeit nicht gewährleistet sein“ (S. 181).
- „Das Rollenbewusstsein der sozialarbeiterischen Akteur*innen innerhalb einer solchen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, wo es um macht- und Raumverteilungsfragen geht, kann sich an solchen Fragestellungen schärfen und reflektiert werden (ebd.).
- „Die verschiedensten Rollen, welche Akteur*innen der Sozialen Arbeit innerhalb der beschriebene Auseinandersetzungen eingenommen werden können, befinden sich zwischen Solidarisierung, Anwaltschaft, Parteilichkeit, Kontrolle, Vermittlung und Intermediation“ (ebd.).
Geschmackliche Vorlieben von Sozialarbeiter*innen: Welche Musik-, Kleidungsstile und Fotomotive sie (nicht) mögen, was sie für Kunst halten und was das mit der Praxis der Sozialen Arbeit zu tun haben könnte.
Ob „Menschen, die im sozialen Sektor arbeiten und insbesondere in der Profession der Sozialen Arbeit tätig sind, besondere geschmackliche Präferenzen herausgebildet haben und wie diese sich innerhalb ihrer Gruppe, bzw. ihres professionellen Feldes, differenzieren lassen“ (S. 192 f.), interessiert Rohloff im vorletzten Beitrag. Er verbindet damit „die Hoffnung, dass sich durch die Analyse verschiedener geschmacklicher Systeme, neben dem reinen Erkenntnisgewinn, auch ein reflektierteres Verständnis zu den in diesen Professionen vorhandenen milieuspezifischen Unterschieden und habituellen Wahrnehmungen dieser Unterschiede gewinnen lässt“ (S. 193). Die quantitativen Befunde, welche mittels Korrelationsanalyse dargestellt werden, sind nicht repräsentativ und werden vom Autor als „deskriptive Tendenzbestimmung“ (S. 202) ausgewiesen. Faktoren wie Hobbies, Lieblingsessen, Musik, Kleidungsstil usw. wurden erhoben, korreliert und in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gebracht. Rohloff kommt zu dem Ergebnis, „dass der an freier Kreativität und Kunsterlebnis orientierte Geschmack eine entscheidende Rolle bei der gesellschaftlichen Transformation zu mehr geschmacklicher Omnivorizität, einem reflektierten Umgang mit geschmacklicher Diversität und insgesamt zu einer von sozialen Statusfragen stärker befreiten Kunst- und Kulturpraxis der Gesellschaft beitragen kann“ (S. 220), was die Grundüberzeugung dieses Sammelbandes – nämlich diejenige, dass die Konzepte Geschmack und Habitus verstärkt zum Gegenstand von Studium und Praxis werden sollten – bestätigt (vgl. ebd.).
Im letzten, sehr umfangreichen, Beitrag wählt Gitta Scheller einen qualitativen Zugang zu ausgewählten ästhetischen Präferenzen von Sozialarbeitenden – ergänzt durch einen Exkurs, besorgt von Rohloff. Das Erkenntnisinteresse bezieht sich dabei auf „Schemata der Bewertung“ bestimmter Motive sowie die damit (ggf.) verbundenen Bezüge zu sozialen (Herkunfts-)Milieus, Distinktionsstrategien und -richtungen und Bewegungstendenzen im sozialen Raum (vgl. 230 f.). Wie schon im Beitrag von Rohloff (s.o.) kann es sich dabei nur um „eine erste Vorsondierung“ handeln, um „erste Erkenntnisse über ästhetische Einstellunen von Sozialarbeitenden“ zu gewinnen (S. 234). Dazu gehören u.a.:
- „dass sich das Gros der Antworten der befragten Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen nach den Kritierien von Bourdieu als populärer Geschmack interpretieren lässt“ (S. 245); außerdem,
- dass es in der Bewertung eines fiktiven Bildes eines Obdachlosen keine Unterschiede zwischen Sozialarbeitenden und anderen im Feld Beschäftigten gäbe, dass aber
- innerhalb der Gruppe der Sozialarbeitenden differenzierte Bewertungen, darüber ob ein solchen Motiv Kunst sein könne, zu finden waren (vgl. 247).
Gitta und Rohloff kommen zu dem Schluss, dass es keinen eindeutig identifizierbaren sozialarbeiterischen Geschmack gebe (vgl. 267.), dafür aber ein sozialarbeiterischer Habitus existent sei. Auch die auf Bourdieu aufbauenden Vorannahmen bzgl. Distinktionsbestrebungen könnten nicht ohne Weiteres auf das Feld der Sozialen Arbeit übertragen lassen.
Diskussion
Pierre Bourdieus Arbeiten für Studium und Praxis erschließen – diesen Anspruch zu formulieren ist ebenso mutig wie nötig. Denn: Bourdieus Werk ist komplex und vielschichtig; einzelne Gedanken werden teils über Dekaden hinweg weiterentwickelt (das Konzept des Habitus mag hier den Prototypen darstellen), in neue theoretische Kontexte gestellt oder auch verworfen; hinzukommt der mitunter große Umfang einzelner Veröffentlichungen und eine Sprache, die vielen Lesenden wohl Einiges an Mühe, Fleiß und Durchhaltevermögen abverlangen dürfte. Kurz: einen selbstständigen Zugang zum Werk zielführend zu gestalten, kann man, vorsichtig formuliert, mindestens als anspruchsvolle Aufgabe betrachten. Bedenkt man nun, dass die Exegese anspruchsvoller (Grundlagen-)Literatur – leider! – nicht unbedingt zum Selbstverständnis und praktischer Selbstverständlichkeit einer relevanten Anzahl der Studierenden Sozialer Arbeit zählt und dass die Berufspraxis häufig unter erheblichem zeitlichen und emotionalen Druck vollzogen werden muss, im Rahmen dessen regelmäßig auch die Konsultation einschlägiger Fachzeitschriften auf der Strecke bleibt, fragt man sich, wie man die Ideen und Ansätze Bourdieus für die Soziale Arbeit erschließen kann.
Ein ambitioniertes Vorhaben also. Was leistet der Band in dieser Hinsicht?
Positiv ist herauszustellen, dass der Veröffentlichung ein klares Konzept zugrunde liegt. In der Einleitung werden Desiderate formuliert, die sich in der Gliederung des Bandes widerspiegeln und in den einzelnen Beiträgen ausgestaltet werden. Dies sowie die durchweg gute Lesbarkeit werden einer Verwendung in der Lehre sicher zuträglich sein. So empfiehlt sich der Band tatsächlich als roter Faden etwa für die systematische Bearbeitung in Seminaren. Die Fragen zur Vertiefung am Ende alle Aufsätze bestärken diesen Eindruck ebenfalls.
Weiterführende Leseempfehlungen zu relevanten Primär- und Sekundärquellen hätten diesen positiven Eindruck abrunden können. Diese fehlen leider. Aus Gesprächen mit Studierenden weiß ich, dass insb. kommentierte Empfehlungen hilfreich dabei sein können, erste Zugänge herzustellen, da es für bestimmte Anliegen – z.B. eine vertiefende Beschäftigung mit dem Habituskonzept o.Ä. – nur bedingt sinnvoll ist, etwa die „feinen Unterschiede“ in Gänze durchzuarbeiten, sondern einzelne Kapitel aus verschiedenen Publikationen zu lesen und zu vergleichen, um einen fokussierten Überblick, auch über Entwicklung eines Konzeptes, zu erhalten.
Sieht man sich den Inhalt der vorgetragenen Überlegungen an, zeigt sich, dass jedenfalls einige Beiträge anschlussfähig sein werden zu Konzepten und Verfahren, die sich in der Sozialen Arbeit etabliert und bewährt haben. So lässt sich etwa der von Martin Schmidt vertretenen Position mitgegangen werden, wonach die Habitussensibilität eine fruchtbare Ergänzung für das Konzept der Lebensweltorientierung darstellen kann; sicherlich können auch die gängigen Verfahren einer verstehenden (Fall-)Diagnostik (vgl. u.a. Hochuli Freund/​Sprenger/​Gahleitner 2020, Buttner 2020, Wendt 2020) bereichert werden; dass dies auch die Sozialraumarbeit betreffen kann, wird von Rohloff überzeugend dargestellt.
Fragt man weiterhin nach der Praxisrelevanz des Habituskonzeptes, fallen außerdem zwei weitere, miteinander verbundene Aspekte auf:
- Man bekommt beim Lesen den Eindruck, dass das Potenzial des Habituskonzeptes im Wesentlichen darin besteht, die mit ihm einhergehenden Implikationen reflexiv – d.h. bewusst – in die eigenen (professionellen) Deutungs- und Bewertungsschemata zu integrieren. Wird der Habitus jedoch nicht lediglich als Denk- und Wahrnehmungsschemata, sondern auch als Handlungsmuster begriffen, was Bourdieu tut, dann drängt sich der Körper als Ort und Medium sozialen Handelns in den Fokus der Betrachtung. Aus der (Körper-)Soziologie ist bekannt, dass Körper eine gewisse Resistenz gegen Wissensbestände haben können, die lediglich die kognitive Ebene berühren. Oft handeln Menschen, ohne sich explizit im Vorfeld Gedanken über diese Handlungen zu machen. Wenn wir mit Unvorhergesehenem konfrontiert werden und spontan (re-)agieren müssen, passiert dies 'einfach', der Körper 'macht'. Und gerade in der Praxis Sozialer Arbeit sind die professionellen Akteure regelmäßig in solche 'prekären' Situationen involviert, in denen ad hoc reagiert werden muss. Diese materialisierte Dimension des Habitus verdient mehr Aufmerksamkeit im disziplinären Diskurs. Hier einen Beitrag zu leisten, verpasst der Sammelband leider.
- Wenn der Habitus u.a. auch eine materialisierte Komponente aufweist, muss sich die Lehre fragen, wie sie im Hinblick auf die Herausbildung eines professionellen Habitus Prozesse der 'Materialisierung' von Professionalität initiieren und begleiten kann. Vor diesem Hintergrund wird sich ein professioneller Habitus nur bedingt erlesen oder andiskutieren lassen. Die am jeweiligen Campus und der Profession insgesamt kultivierte Lehr-, Lern- und Arbeitspraxis sind in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen: wie gestalten sich die Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden sowie in der Studierendenschaft untereinander? Welche Kapitalien haben Wert und wie werden sie ausgespielt (gibt es ein sozialarbeiterisches Kapital?)? Wie werden physische und soziale Räume arrangiert? Welche Sprache wird gesprochen? Welches Arbeitspensum wird erwartet und toleriert? Wie werden größere und kleinere Machtkämpfe ausgetragen? Usw. usf. – Derartige Fragen, in denen die Studierenden und Praktizierenden als körperlich-handelnde Akteure gedacht werden, die mit spezifischen Wissensbeständen und symbolischen Ordnungen 'hantieren' müssen und diese so (wieder-)herstellen oder (kurzfristig) neu ordnen oder auch langfristig transformieren, werden in Zukunft für die Lehre Sozialer Arbeit von Bedeutung sein müssen. – Aber auch zum jetztigen Stand der Diskussion hätte man von einem Lehr- und Praxisbuch mehr erwarten können; Anregungen zur Gestaltung der Lehre wären interessant und möglich gewesen: das Erproben einer habitusreflexiven, multiperspektivischen (Einzel-)Fallarbeit zum Beispiel oder die Durchführung und diskursive Reflexion von Sozialraumanalysen, wie sie hier für die disziplinäre Forschung vorgeschlagen werden, wären einige, durchaus naheliegende Möglichkeiten gewesen; dabei könnte es sich um athentische (Lern-)Erfahrungen im Feld und gleichzeitig um die systematische Aneignung von Räumen handeln – und wieso das Ganze nicht am eigenen Campus oder auch in den Räumen der Hochschule durchführen?
Trotz dessen sei abschließend auf die Beiträge dieses Bandes hingewiesen, die sich mit der empirischen Beschreibung und Analyse des sozialarbeiterischen Feldes befasst haben. Ohne die Befunde im Einzelnen würdigen zu wollen, deuten die Aufsätze an, dass das Feldkonzept noch einiges an Potenzial für Disziplin und Profession bereit hält. Wenn man sich Bourdies Analysen zu den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern ansieht, könnte mit diesem Konzept auch eine theoretische und empirische Alternative zur häufig in der Disziplin bemüten Interpretation von Sozialer Arbeit als gesellschaftlichem System (i.d.R. auf Niklas Luhmann aufbauend) entworfen werden. Auch wenn die Disziplin hier noch am Anfang steht, kommt den Herausgebenden der Verdienst zu, diese Tür (etwas weiter) aufgestoßen zu haben.
Fazit
Der Sammelband macht sich zur Aufgabe, die Konzepte Geschmack und Habitus für die Lehre und Praxis Sozialer Arbeit zu erschließen. Obwohl einige Verkürzung in Bezug auf das Habitus-Konzept festgestellt werden und die konkrete Gestaltung von Lehr- und Lernarrangements konkreter hätte ausfallen können, kommt der Band seinem Anspruch nach. Für den Einsatz in der Lehre ist er durchaus geeignet und auch Praktizierende werden Impulse für die Reflexion des eigenen professionellen Handelns finden.
Außerdem werden interessante (Forschungs-)Perspektiven entwickelt, sodass abzuwarten bleibt, ob und wie die betreffenden Beiträge in Fachkreisen aufgenommen werden. Zu wünschen ist es allemal.
Literatur
Bourdieu, P.: Eine unlösbare Aufgabe; in: Bourdieu, P. u.a. (Hg.):Das Elend der Welt, Konstanz 2002: 779–823
Buttner, P.: Soziale Diagnostik im psychiatrischen Arbeitsfeld; in: forum SOZIAL 4/2020: 43–46
Hochuli Freund, U., Sprenger, R., Gehleitner, S. B.: Instrumente und Verfahren Sozialer Diagnostik. Überblick, Beispiele, Bedeutung; in: forum SOZIAL/4/2020: 24–28
Neumann, S.: Kritik der sozialpädagogischen Vernunft. Feldtheoretische Studien, Weilerswist 2008
Schmidt, M.: Habitussensibilität. Eine neue Anforderung an professionelles Handelns, Wiesbaden 2014
Vester, M. u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2015
Wendt, P.-U.: Soziale Arbeit. Ein Lehrbuch, Weihheim/​Basel 2018
Wendt, P.-U.: Verstehen; in Wendt, P.-U. (Hg.): Soziale Arbeit in Schlüsselbegriffen, Weinheim/​Basel 2020: 225–229
Rezension von
Michael Bertram
B.A. Soziale Arbeit, M.A. Soziologie/Politikwissenschaft
Beruflich in der Sozialen/politischen Arbeit mit geflüchteten Menschen tätig
Lehrbeauftragter an der Hochschule Magdeburg-Stendal
Mailformular
Es gibt 22 Rezensionen von Michael Bertram.
Zitiervorschlag
Michael Bertram. Rezension vom 03.02.2022 zu:
Gitta Scheller, Sigurður Rohloff (Hrsg.): Habitus und Geschmack in der Sozialen Arbeit. Ein Lehr- und Praxisbuch. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6318-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28292.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.