Willi Jasper: Faust oder Mephisto?
Rezensiert von Prof. Dr. Eckhard Jesse, 19.01.2022
Willi Jasper: Faust oder Mephisto? Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2021. 184 Seiten. ISBN 978-3-8012-0572-0. 20,00 EUR.
Thema
Der Autor sieht Europas Intellektuelle heute in einer Krise. Sie fehlen bei Debatten zu relevanten Themen, ob es nun um die Zukunft der EU geht oder um die Pandemie. Er konstatiert damit eine Krisendiagnose. Der Titel spielt auf Goethes Werk „Faust“ an. Faust repräsentiere die antiintellektuelle Seite der Macht, Mephisto“ hingegen den kritischen Geist.
Autor
Prof. Dr. Willi Jasper, Jahrgang 1945, lehrte von 1994 bis 2010 Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Er verfasste Biografien über Ludwig Börne, Gotthold Ephraim Lessing und Heinrich Mann. In den 1970er Jahren gehörte der Chefredakteur der „Roten Fahne“ dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD/AO) an.
Aufbau und Inhalt
Die Schrift umfasst 13 eher lose aneinandergereihte, nicht weiter untergliederte Kapitel. Der Großessay verzichtet auf Anmerkungen. Er enthält aber ein Namensregister sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis:
- Eingangs schildert Jasper unter dem Titel „Geist und Tat: eine Spurensuche“ die Rolle von Intellektuellen in der Vergangenheit. Vorbilder sind ihmEmil ZolaundHeinrich Mann.
- Im nächsten Abschnitt („Europa unterm Brennglas“) wird die gegenwärtige Schwäche der Intellektuellen auf das 20. Jahrhundert zurückgeführt, das „Jahrhundert der Ideologien“ (S. 16). Europa braucht Intellektuelle angesichts folgender Probleme: Vormarsch der Rechtspopulisten; Auseinanderfallen der EU durch den Brexit; neoliberale Wirtschaftspolitik; Schwächen des Kapitalismus; ungleiche Vermögenverteilung und Lebenschancen.
- Der dritte Abschnitt („Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne?“) erwähnt den Sonderweg Deutschlands, der aufgegeben werden müsse.
- Unter dem Titel „Faust, Mephisto und die Deutschen“ schildert Jasper im zweitumfangreichsten Abschnitt die Dichotomie zwischen Geist und Macht, bezogen vor allem auf Deutschlands Intellektuellengeschichte.
- „Exil und Transnationalismus“: Der Autor bekennt sich zur transnationalen Idee wie zu „Volksfronten“, so der Titel des nächsten Kapitels. Für ihn sind „Volkfrontbündnisse“ mehr als kommunistisch beherrschte Zusammenbeschlüsse.
- Der siebte Abschnitt („Kant und Heinrich Mann“) kritisiert „Gegenintellektuelle“ (S. 62) wie Ernst Jünger und Friedrich Sieburg, die versucht hätten, den Nationalsozialismus salonfähig zu machen.
- Willy Brandt sei, so die These im nächsten Abschnitt „Willy Brandt und die ‚linke‘ Tradition“, weithin die Versöhnung von Geist und Macht gelungen.
- Im Kapitel 9 („Flüchtlingskrisen und ‚Leitkultur‘“) plädiert Jasper für Multikulturalismus, im nächsten („Europa – ‚ein jüdischer Ort‘“) für ein positives Verständnis des Judentums.
- Der elfte Abschnitt („Die Intellektuellen und der Medienwandel“) bewundert vor allem Jürgen Habermas als „deutschen Meisterdenker“ (S. 120), der sich „dem Medienwandel nicht angepasst“ (S. 123) habe.
- Im umfangreichsten Kapitel („Was habt ihr uns noch zu sagen?“) beklagt Jasper das Fehlen öffentlicher Intellektueller wie Hannah Arendt und Ralf Dahrendorf.
- Und das letzte („Ein Ausblick: Zukunft und Solidarität – sind das noch EU-Themen“), das drittlängste, plädiert für mehr Einfluss der Intellektuellen: „Das neue Europa braucht für seine humanen und sozialen Projekte mehr denn je den freien und einklagenden Geist der kritischen Intellektuellen, der zu Politik und Gesellschaft gehört wie die Zivilisation zur Kultur“ (S. 162).
Diskussion
Der Verfasser breitet vor allem seine – durchaus interessanten – Lesefrüchte aus. So erhellend diese vielfach auch sein mögen, so leidet darunter die Systematik der Schrift. Dem Leser wäre eher mit einer chronologisch angelegten Intellektuellengeschichte Europas gedient, wie sie Dietz Bering vor einem Jahrzehnt für Deutschland vorgelegt hat (Bering 2010).
Fazit
Bei der Studie handelt sich nicht so sehr um eine zusammenhängende Geschichte der Intellektuellen, sondern eher um die Kompilation vielfach disparater Aspekte. Die Breite der Themen geht mitunter auf Kosten der Tiefe. Und ob die These von der Krise der Intellektuellen wirklich so stimmt?
Literatur
Bering, D. (2010). Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin.
Rezension von
Prof. Dr. Eckhard Jesse
Em. Prof. für Politische Systeme, politische Institutionen im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz (1993-2014) für die Schwerpunkte Demokratie- und Extremismusforschung.
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Zitiervorschlag
Eckhard Jesse. Rezension vom 19.01.2022 zu:
Willi Jasper: Faust oder Mephisto? Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte. Verlag J.H.W.Dietz
(Bonn) 2021.
ISBN 978-3-8012-0572-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28294.php, Datum des Zugriffs 05.12.2024.
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