Sarah Lippe: Autismus und Preteaching
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 22.06.2021
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Sarah Lippe: Autismus und Preteaching. Einfluss des Preteachings auf herausforderndes Verhalten von Schülerinnen und Schülern aus dem Autismus-Spektrum - eine Pilotstudie an Förderschulen in Schwaben.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2021.
262 Seiten.
ISBN 978-3-339-12290-2.
D: 96,80 EUR,
A: 99,60 EUR.
Reihe: Sonderpädagogik in Forschung und Praxis - 49.
Thema
Im inklusiven Schulsystem lernen Kinder eines Einzugsgebietes, unabhängig von Sprache, möglicher körperlicher oder geistiger Einschränkungen in der Schule gemeinsam. In der Praxis können Lehrkräfte und Eltern an systemische Grenzen und Schwierigkeiten stoßen. Lehrkräfte benötigen Handwerkszeug, das über die psychiatrische Erklärung einer Diagnose (hier im Buch steht die sog. Autismus-Spektrum-Störung im Mittelpunkt) hinausgeht. Im Rahmen einer Prä-Post Untersuchung wurde das ‚Preteaching‘ von ausgewählten Fertigkeiten (bestehend aus Social Storys und Coaching) evaluiert. Die Komplexität des nicht so erwarteten Verhaltens erfordert Maßnahmen, die sowohl das soziale Verständnis fördern als auch die Kinder in der Handlungsplanung unterstützen und neue Fähigkeit gezielt einüben. Dabei geht die Autorin auch darauf ein, wie wichtig das Verstehen der neuropsychologischen Unterschiede von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben und denen, die unter neurotypischen Bedingungen leben, ist. Nur wer versteht kann lernen und zielgerichtet handeln.
Autorin
Sarah Lippe ist Studienrätin und promovierte 2021. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte an der LMU München im Curriculum Pädagogik bei Verhaltensstörungen (Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung), dazu gehört auch die Zusatzqualifikation P-ASS (Pädagogik bei Autismusspektrumstörungen).
Entstehungshintergrund
Diese Dissertation im Dr. Kovač GmbH Verlag in Hamburg, ein Fachverlag für wissenschaftliche Studien erschienen und zwar in der Schriftenreihe aus dem Gebiet Sonderpädagogik & Heilpädagogik in der Rubrik „Sonderpädagogik in Forschung und Praxis“ erschienen. Diese Reihe enthält 49 Titel.
Aufbau
Das Buch ist im Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 258 Seiten, die sich in vier Teile und zahlreiche Unterkapitel gliedern.
- Teil I: Einführung in die Problemstellung,
- Teil II: Autismus-Spektrum in der Pädagogik,
- Teil III: Theoretischer Hintergrund,
- Teil IV: Empirischer Untersuchung
- Literaturverzeichnis (S. 177–240)
- Tabellenverzeichnis
- Verzeichnis der 43 Abbildungen
- Abkürzungsverzeichnis sowie ein Anhang.
Inhalt
Neben der Einführung in die Problemstellung und der Beschreibung des Phänomens Autismus in der Pädagogik schließt sich der theoretische Hintergrund, insbesondere die neuropsychologischen Hintergründe zu Schülerinnen und Schülern mit Autismus Spektrum Störung in der Förderschule, an. Grundlage bildet die Klassifikation sowie die Kernsymptome im Schulalter, dazu gehören die sog. Theory of mind, die exekutiven Funktionen und die zentrale Kohärenz. Dieser Teil schließt mit der Prävalenz und möglichen Komorbiditäten.
Darauf aufbauend wird die Relevanz ausgewählter Lern- und Wissenstheorien sowie sozial-emotionaler Entwicklungstheorien unter Berücksichtigung neurologischer Besonderheiten bei Schülerinnen und Schülern (SuS) mit Autismus-Spektrum für die Interaktion im inklusiven Unterricht skizziert. Die Autorin wählte folgende Voraussetzung des Lernens aus a) Motivation als Lernzugang im Kontext und b) Aufmerksamkeitssteuerung für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum- Störung. Daran schließen sich ausgewählte Erkenntnisse zu neuronalen Besonderheiten in der Informationsverarbeitung für SuS aus dem Autismus-Spektrum für Lernen im schulischen Kontext an. Dies sind die
- Verarbeitung sensorischer Reize,
- neuronale Korrelate des Arbeitsgedächtnisses in der Informationsverarbeitung sowie
- die Affektregulation, Reaktionshemmung und Zeitverarbeitung bei Lernprozessen.
Dieses Unterkapitel schließt mit der Wahrnehmung und Interpretation sozial- emotionaler Hinweisreize und ihrer Bedeutung für den Interaktionsprozess. Konkret sind dies die Wahrnehmung der Emotion in der sozialen Interaktion, die Emotions- und Stressregulierung sowie sozial-reaktives Verhalten als zentrale Variable der schulischen Inklusion.
Der dritte Teil schließt mit den theoretischen Hintergründen und dem aktuellen Forschungsstand zu schulischen Prozessen unter Berücksichtigung der neurologischen Besonderheiten von Schülerinnen und Schüler mit Autismus Spektrum Störung. Ausgeführt werden schulische Voraussetzungen und Herausforderungen bei Kindern mit Autismus Spektrum Störung in Bayern. Die hier ausgewählten pädagogische Präventionsmaßnahmen und ihr Einfluss auf die sozial-emotionale Entwicklung werden vertieft: Preteaching ermöglicht einen reizreduzierten Lernzugang für Kinder aus dem autistischen Spektrum, zum einen mit sog. Social Stories (Carol Gray) als kognitiver Zugang zu sozial-emotionalem Wissen und zum anderen durch die Förderung der exekutiven Funktionen mittels anleitendem Coaching.
Bei empirischen Untersuchungen (Teil IV) werden gezielte Erfahrungen über die Realität gesammelt, systematisiert und dann auf den Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Untersuchung angewendet (S. 95–160). Zahlreiche Abbildungen stellen die Ergebnisse dar und knappe Zusammenfassungen erläutern diese. Literaturverzeichnis und Anhang nehmen mit 81 Seiten fast ein Drittel des Buches ein.
Diese Untersuchung schließt mit der Einordnung in den aktuellen Forschungsstand. Festzuhalten ist, dass die Ergebnisse zum Großteil mit der bestehenden Forschung übereinstimmen. Grundschullehrerin und -lehrer weisen bei vorhandenen Vorerfahrungen des gemeinsamen Unterrichts positivere Einstellung zur Inklusion auf, zeigen mehr Motivation und einen höheren Wert in der Selbstwirksamkeit. Das bezieht sich vor allen Dingen auf Sonderpädagog*innen. Die hier vorgelegten Daten bieten nach Aussage der Autorin klare Anhaltspunkte für zukünftige Forschungen in dieser Domäne.
Diskussion
Die Welt für Kinder aus dem Spektrum ist komplex. Ziel ist, die inklusive Beschulung zu unterstützen, in dem gezielt pädagogisch gehandelt wird, um Hürden abzubauen. Untersucht wurden mögliche Fördermaßnahmen, die in unterschiedlichen Settings angewendet werden können. Effekte sind, dass als herausfordernd wahrgenommene Verhaltensweisen reduziert werden und sozial-reaktive Verhaltensweisen aufgebaut werden konnten.
Im „Schluss“ wird zwar darauf verwiesen, dass Lehrinnen und Lehrern von Fortbildungen signifikant profitieren und die hier vorgelegte Arbeit einen Impuls in die richtige Richtung darstellt, dennoch ist mir der Fokus auf das maladaptive Verhalten der Schüler*innen aus dem Spektrum zu einseitig. Gezieltes pädagogisches Handeln liegt im Aufgabenbereich der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sind Adressaten, sie sind aber nicht verantwortliche Akteure. Lehrkräfte brauchen Handwerkszeug, mit unterschiedlichen Handlungsweisen umzugehen. Wichtig ist, das Verhalten zu verstehen. Im ersten Schritt geht es um das Verstehen der neuropsychologischen Unterschiede von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben und denen, die unter neurotypischen Bedingungen leben. Die Autorin erläutert die Rolle des theory of mind, der exekutiven Funktionen und der zentralen Kohärenz.
Kurz wird auch das Thema Mobbing angerissen. Studien zu Mobbingerfahrungen zeigen, dass Kinder, die unter den Bedingungen von Autismus leben, nicht selten psychische, emotionale und körperliche Übergriffe erleiden. Diese Erkenntnisse müssen unbedingt in die Ausbildung von Lehrkräften einfließen, da stimme ich der Autorin vollumfänglich zu!
Die Autorin hat vertiefend den aktuellen Forschungsstand zu Mädchen aus dem autistischen Spektrum mit Schwerpunkt auf den schulischen Kontext betrachtet. Bei den meisten Studien sind Mädchen unterrepräsentiert. Es wird vermutet, dass die Symptomatik von Mädchen seltener identifiziert wird, ein Grund dafür könnte ein erhöhtes funktionales Sozialverhalten sein. Die Autorin fand heraus, dass einige Studien darauf hinweisen, dass Mädchen qualitativ unterschiedliche Stereotypien zeigen, die nicht registriert werden. Oftmals werden Mädchen zu spät, falsch oder überhaupt nicht diagnostiziert, manche werden eher als schüchtern oder zurückhaltend eingestuft oder es kommt zu Fehldiagnosen wie soziale Angststörung, vermeidbare Persönlichkeitsstörung oder Borderline Persönlichkeitsstörung (S. 91). Diese Erkenntnisse bilden wichtige Hinweise für Professionell Tätige in verschiedenen Arbeitszusammenhängen z.B. in der Diagnostik und -wie hier beforscht- im Schulwesen.
Die hier untersuchte Methode des Preteaching, insbesondere durch individuelle Social Stories und Coaching führt zu signifikanten Verbesserungen im Bereich der sozialreaktiven Verhaltensweisen. Die Autorin hält es für sehr wünschenswert, sich in Deutschland an Schulen in Kanada oder Finnland zu orientieren, in der Kinder mit Autismus Spektrum Störung im Regelschulsystem beschult werden. Mit ihrer Forschungsarbeit – viele weitere müssen folgen – möchte sie zu dieser Entwicklung beitragen.
Alle Lehrerinnen und Lehrer, nicht nur die Sonderpädagog*innen, tragen durch ihre Haltung, Verantwortung zu übernehmen und durch die Gestaltung der Umgebung maßgeblich dazu bei, wie Inklusion gelingen kann. Erläutert werden neurobiologische Erkenntnisse zu Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, das ist wichtig und sinnvoll, denn nur wer die Lebensbedingungen Betroffener aus dem Autismus Spektrum versteht, kann lernen, Unterricht und die Umgebung zielgerichtet und passend zu gestalten. Im Zwei-Wege-Ansatz (beispielsweise zu finden in der TEACCH®-Philosophie) ist ein fester Bestandteil einer tragfähigen Bildung/​Begleitung/​Unterstützung die Anpassung der Umgebung, sie ist der erste Schritt und erst im zweiten Schritt geht es um die Erweiterung der individuellen Möglichkeiten der Schülerinnen und Schülern. Hier kann das Preteaching genannt werden, es ermöglicht einen reizreduzierten Lernzugang für Kinder aus dem autistischen Spektrum, zum einen mit sog, Social Stories als kognitiver Zugang zu sozial-emotionalem Wissen und zum anderen durch die Förderung der exekutiven Funktionen mittels anleitendem Coaching.
Sarah Lippe ist Studienrätin und Lehrbeauftragte, dazu gehört die Zusatzqualifikation P-ASS (Pädagogik bei Autismusspektrumstörungen). Überraschend war für mich ihr Sprachgebrauch. Defizitorientierte Begrifflichkeiten aus der Medizin wie z.B. „Störung“ oder „maladaptive Verhaltensweisen der Kinder“ stigmatisieren einseitig und sollten nicht zum Handwerkszeug von Pädagogisch Tätigen gehören. Hier wäre eine größere Bewusstheit wünschenswert gewesen, gerade im Hinblick auf das Ziel der Inklusion.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine interessante Veröffentlichung von Andrea Platte hinweisen: Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 178 Seiten. ISBN 978-3-7799-6497-1. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR. (Rezension hierzu wird bei socialnet veröffentlicht)
Dem Fazit der Autorin, orientiert an Schirmer 2019 stimme ich vollumfänglich zu: Inklusion ist mehr als nur „dabei zu sein“ – das gilt für alle im System gleichermaßen.
Fazit
Im inklusiven Schulsystem lernen Kinder eines Einzugsgebietes, unabhängig von Sprache, möglicher körperlicher oder geistiger Einschränkungen in der Schule gemeinsam. In der Praxis können Lehrkräfte und Eltern an systemische Grenzen und Schwierigkeiten stoßen. Lehrkräfte benötigen Handwerkszeug, das über die psychiatrische Erklärung einer Diagnose (hier im Buch steht die sog. Autismus-Spektrum-Störung im Mittelpunkt) hinausgeht. Im Rahmen einer Prä-Post Untersuchung wurde das ‚Preteaching‘ (bestehend aus Social Story und Coaching) von ausgewählten Fertigkeiten evaluiert. Die Komplexität des gezeigten Verhaltens erfordert Maßnahmen, die sowohl das soziale Verständnis fördern als auch die Kinder in der Handlungsplanung unterstützen und neue Fähigkeit gezielt einüben.
Das Buch ist wie folgt aufgebaut: Im ersten Schritt der Pilotstudie geht es um das Verstehen der neuropsychologischen Unterschiede von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben und denen, die unter neurotypischen Bedingungen leben, darauf folgt die Umsetzung in die Praxis von Schule. Manko ist, dass der Fokus allein auf dem Kind liegt, die Möglichkeiten zur Übernahme von Verantwortung bei der Gestaltung des Schulalltags, die alle Lehrerinnen und Lehrer haben, hätten ausführlicher besprochen werden können. Wertvoll sind die Hinweise zum Thema Mobbing, dem zu wenig Beachtung in Schule geschenkt wird und die Ausführungen zu Mädchen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, sie werden oft nicht erkannt bzw. fehldiagnostiziert.
Die Ergebnisse zeigen auf, dass sich das Klassenklima und die Beziehung zu Gleichaltrigen verbessern sowie Belastungen reduziert werden konnten. Eine zentrale Rolle spielt die Haltung der Lehrkräfte. Sie hat einen großen Einfluss auf den Schulalltag und auf gelingende Arbeit. Die Erkenntnisse aus der Pilotstudie bilden einen Baustein, viele weitere müssen folgen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 22.06.2021 zu:
Sarah Lippe: Autismus und Preteaching. Einfluss des Preteachings auf herausforderndes Verhalten von Schülerinnen und Schülern aus dem Autismus-Spektrum - eine Pilotstudie an Förderschulen in Schwaben. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2021.
ISBN 978-3-339-12290-2.
Reihe: Sonderpädagogik in Forschung und Praxis - 49.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28321.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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