Michael Schulte-Markwort: Seelenleben
Rezensiert von Dipl. Päd. Sabine Kamp-Decruppe, 17.05.2021

Michael Schulte-Markwort: Seelenleben. Einblicke in die jugendliche Psyche. CARLSEN Verlag GmbH (Hamburg) 2020. 143 Seiten. ISBN 978-3-551-25230-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Thema
„Das Buch versammelt Fallgeschichten von Kindern und Jugendlichen, die wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung waren.“ (S. 54) Es zeigt auch, dass sie wie alle anderen sind. Niemand kann sich sicher sein, das ihm oder ihr das nicht passiert. Oft wird deutlich, dass es zu lange gedauert hat, bis jemand die richtige Hilfe bekommt.
Seelenleben lädt ein, eine Expedition in die jugendliche Psyche zu unternehmen. Wer teilnimmt, wird mehr verstehen von anderen – und sich selbst. (aus dem Vorwort S. 1)
Autor
Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, und ist Gründer und Supervisor der Praxis Paidion – Heilkunde für Kinderseelen.
Weitere Mitwirkende sind: Nina Grützmacher ist Fotografin für emotionale, ganzheitliche Portrait-Fotografie. Außerdem hat mitgearbeitet Sina-Valeska Kriesel und erwähnen möchte ich wegen des tollen Layouts, Grafik und Illustrationen: Katharina J. Haines
Entstehungshintergrund
Ende März erschien ein Interview mit dem Psychiater Michael Schulte-Markwort im Berliner Tagesspiegel, wo er auf die Frage nach der Entstehung antwortete: „Wir wollten etwas tun gegen die Selfie-Kultur in unserer Klinik…die Fotografin Nina Grützmacher hat mit allen, die es wollten, Fotos gemacht, immer nach demselben Schema: weiße T-Shirts vor weißer Wand, 250 Schwarz-Weiß-Fotos in einer Stunde. Daraus hat sie für die Jugendlichen, die sie fotografiert hatte, jeweils vier ausgesucht. …Da mein Ansatz von Kinder – und Jugendpsychiatrie partizipativ ist, bekamen Kinder und Jugendliche, von denen keine Bilder im Buch sind, die Aufgabe, über sich selbst zu schreiben, Überschrift: Ich.“
So entstand dieses Buch.
Das sehr lesenswerte Interview findet man auf der Tagesspiegel-Seite unter dem Suchbegriff „Schulte-Markwort“.
Aufbau
Nach Vorwort und Erläuterungen zum making-of enthält das Buch zwanzig Selbstbeschreibungen von PatientInnen der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie im Alter von neun bis siebzehn Jahren.
Auf jede Selbstbeschreibung folgt ein persönlicher Brief des Autors an die Patientin (das Verhältnis von Mädchen zu Jungen beträgt 2:1), danach ordnet er das Krankheitsbild ein. „Was ist noch normal, was nicht?“ (S. 38) „So verliert die Kinder- und Jugendpsychiatrie ihren Schrecken, den sie vielleicht auch heute noch hat.“(S. 8)
Die Collagen aus den jeweils vier Porträtaufnahmen von weiteren sechsunddreißig Jugendlichen sind ganzseitig abgedruckt oder in die Texte eingebaut; hier befinden sich auch einige Zitate von anderen Fotografierten („Ich seh traurig aus, aber das ist OK“- Nadine S. 59).
Der Autor ergänzt am Ende des Buches, wie es einigen der vorgestellten Jugendlichen weiter erging.
Der hintere Buchumschlag beinhaltet zwei eng bedruckte Seiten mit Hilfsangeboten.
Das Buch ist grafisch sehr geschickt aufgemacht, die Struktur ist stets erkennbar, gleichzeitig visualisiert es die Beschreibungen der Mädchen und Jungen: Sieht sich jemand als Schildkröte, so wird eine kleine Schildkröte in den Text gefügt.
Die Farbgebung verdeutlicht, welchen Text man liest: die Selbstbeschreibungen sind in schwarzer, die Briefe des Autors in blauer Schrift. Seine Krankheitseinordnungen befinden sich in rosa, zusätzliche hilfreiche Erläuterungen in blauen Kästen.Die Schwarz-Weiß-Fotos sind häufig farbig hinterlegt.
Das Buch wirkt dadurch sehr lebendig, fast wie ein Tagebuch.
Inhalt
Anfangs scheinen die Selbstbeschreibungen noch ‚einfache Fälle‘ zu sein, nach und nach werden die Geschichten/​Selbstbeschreibungen jedoch immer härter.
Manche Jugendliche sind erst kurz, z.B. eine Woche, auf der Station, andere schon Monate. Die Texte sind so, dass ich einen Fragenkatalog zumindest als Anregung dahinter vermute.
Fünf Eigenschaften über mich? Mich beschreiben in zehn Wörtern? Die Jungen und Mädchen können das, und sind offen und reflektiert: „Was ich überhaupt nicht habe, ist Vertrauen. Wenn ich ehrlich bin, aus meiner Sicht hat niemand mein Vertrauen verdient. Ich wünsche mir jemanden, dem ich voll vertrauen kann. Vielleicht sollte ich mir einen neuen Freund suchen. Oder ein Tier. Das gibt keine Widerworte. Eine Ratte fände ich gut. Die könnte auf mir herumklettern.“(S. 46)
Fast alle beschreiben, als welches Tier sie sich sehen „Wenn ich ein Tier wäre, würde ich gerne ein Affe sein. Alles find ich an denen toll, sie sind schlau, sie sind klug, sie können gut klettern. Angst hab ich vor nichts und niemandem. Nur vor Krokodilen.“ (S. 26)
Die Briefe des Psychiaters Schulte-Markwort an die Patienten sind voller Wertschätzung, persönlichem Respekt und auch der Bitte, die Hilfe anzunehmen, welche die therapeutische Begleitung bietet. Seine Versprechen bleiben realistisch und lassen die Jugendlichen nicht aus der Verantwortung. Meist enden sie mit einem Appell wie: „Nimm dein Leben weiter in deine eigenen Hände, dann wirst du gut zurechtkommen.“ (S. 16) oder „Sei also geduldig mit dir, wir jedenfalls haben die Zeit, die du brauchst.“ (S. 85)
Ergänzend zur Einordnung der Krankheitsbilder finden sich praktische Hinweise wie „woran merke ich, das ich Hilfe brauche“ (S. 38), „was ist eine Therapie“(S. 28) und „bin ich nach einer Therapie wieder gesund?“ (S. 127) usw.
Diskussion
Auch wenn sich das Buch rasch lesen lässt, das Bewältigen ist schwerer. Sätze wie „… ich hasse Schule normalerweise…Ich wurde von der zweiten bis zur vierten Klasse jeden Tag zusammengeschlagen.“ (S. 55) ließen meinen Atem stocken und mich hilflos und traurig werden.
Was für ein Los (er-)tragen diese Jugendlichen? Was tut unsere Gesellschaft und was lässt sie zu – was nicht getan wird?
Beeindruckt hat mich die Hoffnung und Perspektive der Jugendlichen und ihre, meist sehr realitätsnahen Wünsche nach Familienleben, Beruf und/oder Studium. Jemand, der nur reich sein will, bleibt die Ausnahme. Sowohl die Fotos, die Selbstbeschreibungen wie die Antworten des Autors beeindrucken durch ihre Offenheit, Wahrhaftigkeit und Schönheit.
Durch die Stimmen der Jugendlichen spricht es Jugendliche an, vielleicht auch die welche gerade selbst hilfebedürftig sind.
Fazit
Das Buch gibt einen sehr persönlichen Einblick in die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es ist ein mutiges Vorzeigeprojekt der sich zeigenden Mädchen und Jungen. Daneben hat es einen hohen Informationswert für alle: Betroffene, Angehörige, Fachpersonal im engeren und weiteren Sinne, vor allem auch für Eltern und Lehrpersonal.
Rezension von
Dipl. Päd. Sabine Kamp-Decruppe
Mediatorin, Mitarbeiterin im Psychosozialen Dienst der Friesenhörn GmbH
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