Tilmann von Brand, Gerhard Eikenbusch et al.: Digitales Lesen
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 14.01.2025

Tilmann von Brand, Gerhard Eikenbusch, Brigitte Mues: Digitales Lesen. Grundlagen – Perspektiven – Unterrichtspraxis_. Klett-Kallmeyer (Hannover) 2023. ISBN 978-3-7727-1504-4. D: 29,95 EUR, A: 29,95 EUR.
Thema
Die Lesekompetenz gilt als Schlüssel für die Partizipation am digitalen Leben. Ihre Bedeutung hat sich unbestritten im Zeitalter der Digitalität für Lehr- und Lernprozesse enorm gesteigert. Dies evoziert enorme Herausforderungen für den schulischen Unterricht im Allgemeinen und den Deutschunterricht im Besonderen. Denn digitale Texte sind ein virtuelles, flüchtiges Abbild elektronisch gespeicherter Daten, verbunden mit unterschiedlichen Symbolsystemen sowie Interaktionen und Algorithmen, die in ihren Wirkungen von Schülerinnen und Schülern im medialen Sozialisationsprozess zunächst einmal begriffen und sodann kompetent genutzt werden müssen. Ferner gilt es zur kritischen Einschätzung digitaler Texte ein Verständnis dafür zu generieren, wie solche Texte produziert werden. Das von einem Team um den Rostocker Deutschdidaktiker Tilman von Brand erarbeitete Handbuch „Digitales Lesen“ widmet sich auf der Basis der aktuellen Leseforschung vielfältigen Bereichen des Lesens in digitalen Medien und untersucht, wie die Förderung der digitalen Lesekompetenz im Deutschunterricht konsequent erfolgen kann.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Tilman von Brand, geb. 1974, lehrt und forscht seit 2013 als Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Rostock. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Literaturdidaktik, historisch-politisches Lernen sowie die Methodik des Deutschunterrichts mit besonderem Fokus auf Individualisierung, Differenzierung und Inklusion. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Praxis Deutsch“ und Autor zahlreicher Standardwerke der Deutschlehrkräfteaus- und -weiterbildung.
Dr. Gerhard Eikenbusch, geb. 1952, war Lehrer für Deutsch und Erziehungswissenschaft, Schulleiter, Lehrerfortbildner und Schulentwickler. Er war Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Pädagogik“, Mitglied der Jury des „Deutschen Schulpreises“ und Lehrbeauftragter an der Universität Rostock. Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher zur Qualität und Entwicklung von Schule und Unterricht, ferner hat er an der Erarbeitung von Lehrplänen und Bildungsmedien mitgearbeitet und Romane (auch für Jugendliche) veröffentlicht.
Brigitte Mues arbeitet als Redakteurin und Autorin in den Bereichen Bildungsmedien für Deutsch, Geschichte und Informationstechnologie, ferner publiziert sie pädagogische und didaktische Fachliteratur.
Ergänzt wird das Buch durch kürzere Gastbeiträge der Fachdidaktikerinnen und -didaktiker Prof. Dr. Jan Boelmann, Dr. Kristina Koebe, Dr. Jens Liebich, Prof. Dr. Florian Radvan und Andrea Wagener, die im vierten Kapitel mehrere Unterrichtsmodelle vorstellen.
Aufbau und Inhalt
Nach einer kurzen Einleitung des Autorenteams ist das Buch in vier Kapitel gegliedert:
- „Lesen“ im 21. Jahrhundert – neue Anforderungen an eine zentrale Kulturtechnik
- Was wir (nicht) über digitale Leseprozesse wissen
- Digitales Lesen im Deutschunterricht
- Modelle für den Unterricht
Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und der Hinweis auf ergänzende Download-Materialien runden den Band ab.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den neuen Anforderungen an die Kulturtechnik Lesen im gewandelten digitalen Umfeld. In fünf Teilkapiteln wird die zentrale These des Autorenteams entfaltet: „Wir alle lesen mehr als je zuvor.“ (S. 9). Die Schriftkultur werde durch die Nutzungsbedingungen der elektronischen Geräte, zudem aber auch durch die spezifischen Erscheinungsformen von Texten im Internet massiv beeinflusst. Wie der Distanz- bzw. Hybridunterricht in der Corona-Pandemie gezeigt habe, bestehen große Herausforderungen für die schulische Bildung in der digitalen Welt. Dabei müsse Lernenden ein Grundwissen über die gewandelte, multimodale Weise des Lesens vermittelt werden, um aufzuzeigen, wie sich durch digitale Medien das Wesen von Texten, aber auch die Form der gesellschaftlichen Kommunikation verändern wird respektive bereits verändert hat, etwa durch die Loslösung des Texts vom materiellen Träger Papier.
An relevanten Beispielen wird diese Fluidität der Textmerkmale verdeutlicht: „Statt […] eine Information als Text visuell auszugeben, ist sie unter Einsatz von Text-to-Speech-Technologie auch als auditive Sprachnachricht möglich“ (S. 23). Zudem werden verschiedene digitale Textformate, u.a. PDF und ePub, in ihrer Funktionalität beleuchtet. Besonders das Internet habe den Paradigmenwechsel in der Lesekultur beschleunigt: „Jeder Leseakt unterscheidet sich durch die Verlinkung mit anderen medialen Angeboten, Lesen wird so zur Interaktion zwischen Lesenden und der netzartigen Struktur“ (S. 51). Mehrere neue Parameter des digitalen Lesens werden daher ausführlich thematisiert: Hypertext-Struktur, Multimodalität und Multimedialität, Interaktivität sowie Algorithmen und Big Data, ferner Konnektivität und Kollektivität sowie Referenzialität. Insgesamt geht es dem Autorenteam dabei um das Aufzeigen von relevanten Kompetenzen, die besonders an Lernende vermittelt werden müssen, einerseits explizit in der Performanz: „Bevor eine Lehrkraft Schülerinnen und Schüler mit Recherchen im Internet beauftragt, ist es unbedingt empfehlenswert, diese über äußere Einflüsse auf die Suchergebnisse aufzuklären und ihnen Verhaltensoptionen an die Hand zu geben. Es erfordert zentral auch Anwenderwissen, um die Suchergebnisse angemessen einzuschätzen.“ (S. 69). Andererseits steht aber auch die Schulung von Problembewusstsein im Fokus: „Schlussendlich ist es die Konnektivität, die die gesellschaftliche Trieb-, aber zugleich auch Sprengkraft der Digitalisierung ausmacht. […] Wie schützt man sich und andere oder zieht Grenzen? Themen konkret: Persönlichkeitsrecht, Urheberrecht, Ethik, technische Schutzmechanismen, Strafrecht bei (Cyber-)Mobbing und Hatespeech u.a.m.“ (S. 72). Im abschließenden Teilkapitel „Ermutigung zur Aneignung von digital literacy“ treten die Autoren einer „Digitalisierung des gesamten Lernprozesses“ (S. 80) entgegen und plädieren hingegen für einen reflektierten und bewussten Einsatz elektronisch-digitaler Medien im Kontext der Kulturtechnik Lesen.
Im zweiten Kapitel werden als Erstes wesentliche Erkenntnisse der deutschdidaktischen und der internationalen Leseforschung zum digitalen Lesen respektive zu entsprechenden Leseprozessen folgendermaßen zusammengefasst: „in der Forschung bietet sich dazu […] ein heterogenes Bild“ (S. 86). Einen ähnlichen Befund arbeiten die Autoren heraus für eine Definition von „digitalem Lesen“, die zwischen technischer Akzentsetzung einerseits und der Perspektive auf den Leseprozess changiert. Es wird in der Folge dargestellt und kritisch diskutiert, welche Rolle dem Lesemedium für den Leseprozess und für das Verstehen von Texten zukommt, ob sich Unterschiede zwischen digitalem und analogem Lesen erkennen lassen, was einige ältere Studien suggerierten. Das ausführlich und plausibel begründete Fazit von Brand, Eikenbusch und Mues lautet: „Es gibt keine generellen und situationsabhängigen Vor- oder Nachteile digitalen Lesens im Vergleich zum Lesen von Printmedien.“ (S. 101). Daran anknüpfend werden die Auswirkungen der sich verändernden Lesegewohnheiten für den Einzelnen, die Schule und die Gesellschaft beleuchtet und zur Zurückhaltung bei Generalisierungen aufgefordert, da „digitale Leseprozesse ein komplexer und ständig in Bewegung und Veränderung befindlicher Forschungsgegenstand sind“ (S. 155). Zwei wesentliche Ergebnisse des Kapitels lauten:
- „Leser verarbeiten digitale Texte kognitiv – anders“ (S. 131)
- „Die Anpassung des eigenen Lesens an das Lese-Ideal einer Gruppe kann zu struktureller Vereinheitlichung der Leseridentitäten führen.“ (S. 143)
Das dritte Kapitel mit der Überschrift „Digitales Lesen im Deutschunterricht“ thematisiert differenziert und sehr systematisch, wie sich digitales Lesen mit den vorhandenen schulischen Strukturen im Deutschunterricht umsetzen lässt und welche Potenziale und Ansatzpunkte hierzu bestehen. Dazu besteht das Kapitel aus drei unterschiedlich komplexen Unterkapiteln:
- Voraussetzungen für digitales Lesen im Deutschunterricht prüfen und schaffen
- Lehr- und Lernprozesse über digitales Lesen gestalten
- Die Veränderung der digitalen Weltbilder beobachten
Als Erstes geht es den Autoren darum, die Voraussetzungen für digitales Lesen zu klären und für die konkrete Unterrichtsarbeit schrittweise zu diagnostizieren bzw. zu optimieren. Sowohl Gelingensbedingungen als auch konkrete pädagogische Herausforderungen werden intensiv erläutert und die Rolle der Deutschlehrkraft als zentrales Kriterium der Nachhaltigkeit und der Effizienz herausgearbeitet: „Erst wenn für Lehrkräfte die Sinnhaftigkeit und das Potenzial für Alltagsbewährung einer neuen Praxis erfahrbar werden, bestehen Chancen, diese Praxis neben oder anstelle der alten zu verankern.“ (S. 208)
Als Zweites konturiert das Autorenteam wesentliche Aspekte einer „Didaktik digitalen Lesens“ (S. 213), indem es die Handlungsdimensionen bei Lehr- und Lernprozessen auf der Prozessebene, der Subjektebene und der sozialen Ebene in Anlehnung an das in der Deutschdidaktik etablierte Mehrebenenmodell der Leseförderung nach Cornelia Rosebrock und Daniel Nix herausstellt und die Kompetenzvermittlung entsprechend zuordnet. Auf Prozessebene seien dies folgende Leitkompetenzen:
- „flüssig lesen lernen
- Umgehen mit Textquellen, Navigation, Textformaten, neuen Texttypen und Lernszenarien
- Bewerten und Reflektieren
- Aufgaben bewältigen (Aufgabenmanagement)“ (S. 225).
Als letzten Aspekt betonen von Brand, Eikenbusch und Mues die Offenheit des Entwicklungsprozesses. Viele Fragen und Gestaltungstendenzen im Bereich des Lehrens und Lernens mit digitalen Medien seien noch unabgeschlossen, dies gelte explizit auch für das digitale Lesen, da die technische Entwicklung noch zahlreiche Unwägbarkeiten bereithalte.
Das abschließende vierte Kapitel, das umfangreichste des Buchs, stellt zahlreiche Modelle für den Deutschunterricht vor, die konkrete Anregungen für den schulischen Unterricht zum digitalen Lesen beleuchten und jahrgangsstufenbezogen sind. Dabei wird gezeigt, welches jeweilige Wissen, welche Lernvoraussetzungen und welche Kompetenzen erforderlich sind, um unterschiedliche Textformen wie literarische Texte, klassische Sachtexte oder Social-Media-Texte zu erschließen. Es finden sich Ausführungen und Modelle mit der Angabe von konkreten Intentionen, von Unterrichtsschritten für eine gezielte Lernprogression sowie von lerngruppen- und altersspezifischen Modifikationsmöglichkeiten zu folgenden Lerngegenständen:
- Digitales Lesen (u.a. Cloud-Computing, Cookies, Bilderdarstellung, digitale Datenverarbeitung, Hypertext, Recherche mit Suchmaschinen)
- Was ist ein digitaler Text?
- Ein Word-Dokument lesen (und schreiben)
- Für eine Buchvorstellung recherchieren
- YouTube
- Computerspiele lesen
- Vom WebQuest zur freien Recherche
- Ein Nachrichtenmagazin analog und digital
- Online lesen – strategisch lesen
- Das Kleingedruckte bei Social-Media-Plattformen prüfen
- Wikipedia nutzen
- Fake und Fakt im virtuellen Raum
- Digitale Editionen
- Literatur im digitalen Raum (am Beispiel von Juli Zehs Roman „Unterleuten“)
Diskussion
In der Einleitung des Buchs benennt das Autorenteam konzise die Herausforderung, vor der Lehrkräfte gegenwärtig beim Ankommen der Digitalität in der schulischen Realität stehen: „Es gilt für den Deutschunterricht vielmehr, das Lesen mit digitalen Medien als eine die Lebenswelt und die Entwicklung junger Menschen wesentlich prägende Erfahrung anzuerkennen und es so in ihre Lernprozesse zu integrieren, dass sie es kompetent und zielgerichtet nutzen können, um sich und ihr Weltwissen adäquat weiterzuentwickeln.“ (S. 7) Insofern richtet sich der Band vorrangig an unterrichtende Lehrkräfte, die sich auf den Wandel der Kulturtechnik Lesen nolens volens einlassen und zeitgemäße didaktische Unterrichtskonzeptionen planen und durchführen. Diese Zielgruppe erhält viel Input und zahlreiche praxistaugliche Beispiele. Dies wird verknüpft mit der wiederholt vom Autorenteam artikulierten Skepsis über zu einseitig-euphorische Modellierungen, die vor Technikbegeisterung rein das Digitale dem Analogen vorziehen. Die Haltung zur veränderten Lesekultur ist facettenreich, vom „ungestümen Aufbruchswillen in ein digitales Zeitalter“ (S. 7) bis zu einem vorsichtig-konservativen Herantasten an neue Möglichkeiten der Texterschließung.
Aufgrund der hohen Fachexpertise der Autorinnen und Autoren adressiert der Band aber auch in Lehre und Forschung tätige Deutschdidaktikerinnen und -didaktiker, die sich theoretisch mit dem Leseverhalten und der Lesesozialisation unter den Bedingungen der rasanten Verbreitung digitaler Medien und von Textinhalten im Internet für die jüngeren Generationen wissenschaftlich auseinandersetzen. Für empirische Studien über das Leseverhalten bei SMS-Nachrichten, Postings, Twitter-Meldungen bis hin zu Blogtexten und Literatur im E-Book-Format finden sich zahlreiche Impulse für Fragestellungen und unterrichtsbezogene Ansatzpunkte. Das Praxishandbuch „Digitales Lesen“ liefert folglich einen soliden Ausgangspunkt für die Frage, wie digitale Leseerfahrungen das Lesen junger Menschen beeinflussen.
Davon unabhängig thematisieren die Ausführungen immer wieder einen neuralgischen Punkt der Digitalität: Wie kann die Vermittlung kritischen Lesens gelingen, wenn in einem veränderten Umfeld des Textangebots der Inhalt von Texten nur noch „konsumiert“ wird? Das lesenswerte, sehr plausibel strukturierte Sachbuch liefert hierzu neben fundiertem Sachwissen vor allem zahlreiche, auf die konkrete Umsetzung im Unterricht ausgerichtete Angebote, nicht zuletzt durch – für verschiedene Lernniveaus konzipierte – Arbeitsblätter für den Unterricht.
In vier Kapiteln und mit vielen anschaulichen Grafiken und Abbildungen thematisiert das Fachbuch „Digitales Lesen“ neue Anforderungen an das Lesen und an die Potenziale digitaler Leseprozesse sowie an konkrete Gestaltungsoptionen für digitales Lesen im Unterricht. Dazu gelingt dem Band ein solider Überblick über die einschlägige Forschung zum Themenfeld des digitalen Lesens, das Autorenteam stellt verscheidene Modelle zu (kognitiven) Prozessen beim Lesen vor und konzipiert Unterrichtsmodelle für den Einsatz digitaler Anwendungen für verschiedene Altersgruppen bei der schulischen Umsetzung im Deutschunterricht. Die Publikation des Autorenteams Tilman von Brand, Gerd Eikenbusch und Brigitte Mues leistet einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Lehrkräfte im Feld des digitalen Arbeitens, zugleich regt sie zu einem Nachdenken darüber an, welche digitale Kompetenzen für eine gelingende Lesesozialisation unabdingbar sind.
Fazit
Das Buch „Digitales Lesen“ liefert einen fundierten Überblick über den aktuellen Forschungs- und Diskussionsstand zur Nutzung elektronischer Medien beim Lesen im Deutschunterricht, den damit verbundenen Chancen und Herausforderungen sowie den erforderlichen Kompetenzen sowohl bei Lehrkräften als auch Lernenden. Das Buch richtet sich primär an Deutschlehrkräfte verschiedener Schulformen, ferner an in der Fachdidaktik Lehrende. Darüber hinaus können generell Pädagogen, die beim Einsatz digitaler Medien bei der Texterschließung im Unterricht auf der Höhe der Zeit sein wollen, von der Lektüre profitieren, vor allen durch zahlreiche Praxisbeispiele und konkrete Unterrichtsmodelle, die im Buch Theorie und Praxis in vorbildlicher Weise verknüpfen.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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