Hans Karl Peterlini, Jasmin Donlic: Jahrbuch Migration und Gesellschaft 2019/2020
Rezensiert von Ao. Univ. Prof. i.R. Dr. Brigitte Hipfl, 26.04.2021

Hans Karl Peterlini, Jasmin Donlic: Jahrbuch Migration und Gesellschaft 2019/2020. Band 1. „Digitale Medien“. transcript (Bielefeld) 2020. 169 Seiten. ISBN 978-3-8376-4480-7.
Thema
Der Sammelband „Digitale Medien“ ist die erste Nummer des von Hans Karl Peterlini und Jasmin Donlic beim transcript Verlag herausgegebenen Jahrbuchs Migration und Geschlecht.
Inhalt
In der kurzen, prägnanten Einleitung mit dem Titel „Migration verstehen/​Understanding migration“ skizzieren die Herausgeber, Hans Karl Peterlini und Jasmin Donlic, die Leitlinien und die Ausrichtung des Jahrbuchs, nämlich Migration „als gesellschaftliche Tatsache“ (S. 7), als menschliche Grunderfahrung zu verstehen und nicht als Not- oder Ausnahmezustand, wie dies in den zurzeit dominierenden medialen und gesellschaftlichen Diskursen der Fall ist. Entsprechend wird Migrationsforschung als Gesellschaftsforschung verstanden, die „lebensweltliche und kulturelle Praxen, Erfahrungen, soziale und personale Lernprozesse aller in der Migrationsgesellschaft lebenden Menschen“ (S. 8) in den Blick nimmt.
Der Band umfasst neun Beiträge (zwei davon in englisch) mit unterschiedlichen disziplinären Zugängen und geo-politischen Verortungen, wobei der erste und letzte Artikel (von Manuela Bojadzijev bzw. Andreas Oberprantacher) mit der Diskussion grundlegender Fragen und Herausforderungen – von virtueller Migration bis zum digitalen Grenzregime – den theoretisch-konzeptionellen Rahmen bilden. Die sieben Beiträge dazwischen setzen je unterschiedliche Schwerpunkte, indem Ergebnisse aus empirischen Studien bzw. (medien)theoretische Überlegungen sowie praktisch-pädagogische Implikationen vorgestellt werden. Den Anfang macht Manuela Bojadzijev mit drei Szenarien zum wechselseitigen Zusammenspiel von Digitalisierung und Migration. Am Beispiel des viral gegangenen Fotos des ertrunkenen Flüchtlingskindes Aylan Kurdi argumentiert sie: „Eine Ikonographie der Migration kommt heute nicht ohne ein Verständnis ihrer Digitalisierung und ihrer digitalen Verbreitung aus“ (S. 18). Das zweite Beispiel bezieht sich darauf, dass all unsere Bewegungen im Internet identifiziert, kategorisiert und kontrolliert werden und uns auf der Basis spezifischer Software Rechte gewährt werden oder nicht. Unter Rückgriff auf John Cheney-Lippolds Begriff der ‚algorithmischen Rechte‘ fragt Bojadzijev, in welcher Weise sich diese als neue Formen von Ein- und Ausschlüssen und als Regulierung von Mobilität (online und physisch) niederschlagen. Das dritte Beispiel fokussiert auf die Digitalisierung von Arbeit und die damit einhergehende Veränderung von Mobilitätspraktiken. Sie verweist auf Aneesh Aneesh, der im Kontext von Crowdworks – der Auslagerung von Teilarbeiten über das Internet – von ‚virtueller Migration‘ spricht. Dies führt sie zur Frage, ob wir alle zu Arbeitsmigranten werden (S. 24).
Kristin Westphal geht in ihrem medientheoretischen Beitrag aus phänomenologischer Perspektive der Frage nach, was Medien im digitalen Zeitalter mit uns machen. Sie beleuchtet verschiedene Konzeptualisierungen des Mensch-Maschine-Verhältnisses – Maschine als Erweiterung des Menschen in der Tradition von McLuhan und Medien als Apparate der Welterzeugung bei Sybille Krämer – und plädiert für einen Zugang, der das wechselseitige Verhältnis von Medien und leibsinnlicher Erfahrung in den Mittelpunkt rückt und als Potenzial in Bildungsprozessen nutzt. Hier wird kein expliziter Bezug zur Migrationsthematik hergestellt. Christina Schachtner führt anhand ihrer empirischen Studie zu transnationalen Lebensformen anschaulich vor, dass transnationale Räume für Migranten und Migrantinnen ein selbstverständlicher Aspekt ihres Alltags sind und Medien dabei ein zentrale Rolle zukommt. Mit Interviewausschnitten illustriert sie verschiedene Facetten von Selbstkonzepten, die Ausdruck und Ergebnis von ‚pluralen Verwurzelungen‘ (nach Waltraud Ernst) sind. Unter Bezug auf Erol Yildiz und Regina Römhild endet sie mit der Perspektive der Transtopien, die als „Keimzellen einer Kultur (verstanden werden können), in der transnationales Leben nicht am Rande der Mehrheitsgesellschaft angesiedelt ist, sondern zur Normalität für die Mehrheit einer Gesellschaft wird“ (S. 61).
In den nächsten vier Kapiteln wird das Thema digitale Medien, Migration und Gesellschaft aus einer pädagogisch-praktischen Perspektive diskutiert. Henrike Friedrichs-Liesenkötter, Jana Hüttmann und Freya-Maria Müller verweisen auf die Handlungsmacht, über die geflüchtete Jugendliche durch die Nutzung digitaler Medien verfügen, die aber in Bildungskontexten viel zu wenig aufgegriffen und produktiv gemacht wird. Ihrer Meinung nach sind Bildungseinrichtungen gefordert, „insbesondere junge Geflüchtete als Zielgruppe von Inklusionsbemühungen explizit zu unterstützen“ (S. 74). Dabei gehen sie von einem weiten Inklusionsverständnis aus, wonach Inklusion nach Kronauer nicht das Problem spezifischer Gruppen ist, sondern eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die darin besteht, Bedingungen zu schaffen, die allen eine Teilhabe ermöglichen. Dass dies im schulischen Alltag nicht immer so einfach umzusetzen ist, wird etwa an dem Beispiel deutlich, dass zwar Handys mit ihren Übersetzungs-Apps für Geflüchtete gerade zur Unterstützung des sprachlichen Verstehens sehr hilfreich sind, in Schulen die Verwendung von Handys aber oft verboten ist. Was Soziale Arbeit vom Darknet lernen kann bzw. wie sich Soziale Arbeit professionsethisch positionieren soll, ist Thema das Artikels von Karin Sauer und Marc Hasselbach. Sie verweisen darauf, dass das Darknet von Menschen, die eine Flucht planen oder sich auf der Flucht befinden, stark genutzt wird, weil sie dort ein breites Angebot an Unterstützung vorfinden und die anonymisierten Formen der digitalen Kommunikation als sichere Räume gelten. Wie können in der Sozialen Arbeit vertrauenswürdige Angebote, auch in digitaler Form bereitgestellt werden?
Viktória Mihalkó, Balasz Nagy und Dávid Bán stellen ihre Erfahrungen mit Digital Storytelling zur Diskussion, die sie als Mitglieder der ungarischen Anthropolis Anthropological Public Benefit Association im Rahmen von Workshops in verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Zielgruppen – u.a. auch mit Geflüchteten und Migranten/​Migrantinnen – gesammelt haben. Neben den methodischen Schritten, die zur Produktion von Kurzfilmen führen, werden die damit verknüpften Herausforderungen wie auch das ermächtigende Potenzial der Methode beschrieben. Das Potenzial von Spielfilmen, zu mehr Empathie gegenüber Geflüchteten und Angehörigen von Minderheiten beizutragen und mit Subjektpositionen, die sich durch Mehrfachzugehörigkeiten auszeichnen, vertraut zu werden, wird von Peter Holzwarth diskutiert. An drei Filmen (Aufbruch ins Ungewisse 2018, Almanya – Willkomen in Deutschland 2011 und Nellys Abenteuer 2016) führt er aus, was er als „riskante Chancen“ (S. 118) filmischer Repräsentationen bezeichnet. Neben der Möglichkeit, ein differenzierteres Bild zu vermitteln und zum Abbau von Vorurteilen beizutragen, besteht die Gefahr, Geflüchtete, Migranten und Migrantinnen, sowie Angehörige von Minderheiten gerade auf diese sozialen Kategorisierungen zu reduzieren. Hier spricht Holzwarth die Verantwortung der Filmemacher*innen an, aber auch die von Pädagog*innen, wenn sie mit Filmen arbeiten.
Die letzten beiden Kapitel handeln von der Grenze. Der Essay von Aisling O’Beirn ist eine autoethnographische Reflexion, wie Grenze (insbesondere die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland) von der Autorin erlebt wird. In Form von Logbucheintragungen wird der historische und politische Kontext dieser spezifischen Grenze reflektiert. Besonderes Augenmerk richtet O’Beirn auf die ‚digitale Grenze‘ und meint damit die Registrierung von Grenzüberschreitungen durch Smartphones, aber sie bezieht sich auch auf einen Twitter-Account, der sich als Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ausgiebt (@BorderIrish) und politische Kommentare veröffentlicht. Wie sich der Einsatz digitaler Technologien als digitales Grenzregime und Grenzmanagement niederschlägt, wird von Andreas Oberprantacher thematisiert. Durch Visualisierungsstrategien wie z.B. Gesichtserkennungsverfahren und die Vernetzung von Daten sind Grenzkontrollen nicht mehr an stationäre Grenzanlagen gebunden, vielmehr werden die Menschen selbst zum Checkpoint. Oberprantacher weist darauf hin, dass diese Visualisierungsstrategien von manchen Gruppen (wie Geflüchteten, Migranten und Migrantinnen ohne Papiere) als höchst bedrohlich erlebt werden und sie in ständiger Angst leben, in eine „biometrische Sichtbarkeitsfalle zu tappen“ (S. 161). Er problematisiert die von digitalen Technologien gestützen Apparaturen zur Sortierung und Selektierung von Menschen und verweist mit Edouard Glissant auf das Recht auf Opazität und die Notwendigkeit einer Ästhetik des Widerstands, die dem „Nebulösen ihr Recht gesteht“ (S. 163).
Diskussion
Das Vorhaben, mit diesem Jahrbuch Einblicke in die komplexen Relationen von digitalen Medien und Migration zu geben, wurde in überzeugender Weise umgesetzt. Zwar haben nicht alle Artikel den Fokus explizit auf dieses Wechselverhältnis gerichtet, aber alle sprechen spezifische Facetten und Problematiken der Herausforderung an, Migrationsforschung als Gesellschaftsforschung zu verstehen. Hier gibt es keine einfachen Antworten oder Lösungen und auch nicht einen theoretischen Zugang, der das Themenfeld in einer allumfassenden Weise greifbar macht. Insofern vermitteln die aus unterschiedlichen Perspektiven verfassten Texte eine gute Vorstellung von den verschiedenen Kräften, die in dem ambivalenten Wechselverhältnis von Migration und digitalen Medien zum Ausdruck kommen. Das sind zum einen kontrollierende, regulierende und selektierende Kräfte seitens des Staates, aber auch von Unternehmen, die ein Monopol auf technische Infrastruktur und Software haben. Dazu kommen kulturelle Artefakte wie Bilder, Filme oder künstlerische Installationen, die in vorherrschende gesellschaftliche Diskurse intervenieren. Und schließlich gehören die kreativen Praktiken der Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten selbst dazu, die in dem je spezifischen Geflecht aus politischen, sozio-kulturellen und ökonomischen Machtverhältnissen agieren. Angesprochen wird auch die Notwendigkeit von Solidarisierungsprozessen. Durchgehend ist das Bemühen zu erkennen, eine ‚Besonderung‘ von Migranten, Migrantinnen und Geflüchteten im Sinne von Paul Mecheril zu vermeiden. Die Beiträge für diesen Band wurden vor der Covid-Pandemie, die uns die Potenziale digitaler Medien, aber auch deren Probleme so eindrücklich klar gemacht hat, geschrieben. Inzwischen sind wir alle mit institutionalisierten Kontrollen und Regulierungen von Mobilität sowie mit Praktiken der Abschottung konfrontiert und erleben, wie unterschiedliche Gruppen in unterschiedlicher Weise davon betroffen sind, Ungleichheitsverhältnisse verstärkt, aber auch neue Allianzen gebildet werden. Vermutlich wird die nächste Ausgabe des Jahrbuchs, die dem Thema Grenze gewidmet ist, einige dieser Fragen aufgreifen. Der gelungene erste Band lässt auf jeden Fall weitere spannende themenzentrierte Jahrbücher erwarten.
Fazit
Das vorliegende Jahrbuch beeindruckt mit gut geschriebenen Beiträgen, die wichtige Fragen zu einem gesellschaftlichem Thema von höchster Relevanz aufwerfen. Das Jahrbuch kann für eine breite Adressatengruppe, von der akademische Community bis zu Praktiker*innen in verschiedenen Bereichen empfohlen werden.
Rezension von
Ao. Univ. Prof. i.R. Dr. Brigitte Hipfl
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