Stephanie Witt-Loers: Trauernde Menschen mit geistiger Behinderung begleiten
Rezensiert von Dr. Mechthild Herberhold, 02.08.2021

Stephanie Witt-Loers: Trauernde Menschen mit geistiger Behinderung begleiten. Orientierungshilfe für Bezugspersonen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. 224 Seiten. ISBN 978-3-525-70267-3. D: 18,00 EUR, A: 19,00 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Vor mehreren Jahren wurde die Autorin von einer Mutter gefragt, ob sie ihre zwei erwachsenen Kinder mit einer geistigen Beeinträchtigung nach dem Tod des Vaters begleiten könne. Stephanie Witt-Loers sagte zu und es entwickelte sich eine ganz besondere Trauerbegleitung. Seit damals unterstützt die erfahrene Trauerbegleiterin immer wieder Menschen mit geistiger Behinderung in ihren Trauerprozessen. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesem Teilbereich ihrer Arbeit hat sie in ihrem Buch „Trauernde Menschen mit geistiger Behinderung begleiten“ als „Orientierungshilfe für Bezugspersonen“ (Untertitel) zusammengefasst. Witt-Loers wendet sich an alle, die im privaten, pädagogisch-therapeutischen oder betrieblichen Kontext trauernden Menschen mit einer geistigen Behinderung zur Seite stehen. Neben der Autorin kommen auch Menschen mit einer geistigen Behinderung, Familienangehörige und weitere Fachleute zu Wort. Die Trauerbegleiterin ermutigt die Leser:innen, ihre Wahrnehmung sowie ihre Reflexions- und Empathiefähigkeit zu erweitern, als „Nichtbehinderte“ den „Behinderten“ auf Augenhöhe zu begegnen und die Trauer des Gegenübers anzuerkennen. „Nicht die trauernden Menschen mit geistiger Behinderung müssen lernen, sich verständlich zu machen, sondern wir müssen lernen, sie zu verstehen.“ (13)
Autorin
Stephanie Witt-Loers (Jahrgang 1964) arbeitet in ihrem Institut Dellanima in Bergisch Gladbach seit 2008 als Trauerbegleiterin mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, einzeln und in Gruppen. In Fortbildungen gibt sie ihr Wissen weiter, sie begleitet Kitas und Schulen in akuten Trauersituationen und hat mehrere Fachbücher und Fachartikel zu Sterben, Tod und Trauer verfasst.
Aufbau und Inhalt
Gegliedert in elf Kapitel verschiedenen Umfangs erwartet die Leser:innen eine Vielzahl kleinerer Abschnitte mit eigenen Überschriften. In sechs Exkursen, die thematisch bestimmten Kapiteln zugeordnet sind, erzählen betroffene Menschen mit einer geistigen Behinderung und Bezugspersonen von ihren Erfahrungen. Zudem veranschaulichen rund 40 Beispiele aus der Trauerbegleitungspraxis die Ausführungen von Stephanie Witt-Loers.
Im 1. Kapitel „Menschen, die nicht der Norm entsprechen“ (14-18) greift die Autorin auf, dass der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ vielfältige Diagnosen beinhaltet und v.a. ein breites Spektrum an individuellen Persönlichkeiten umfasst. Menschen mit geistiger Behinderung trauern nicht grundlegend anders als „nichtbehinderte“ Menschen, unter Umständen äußern sie allerdings ihre Trauer anders, als es die Umwelt erwartet. Wie im weiteren Verlauf des Buches deutlich wird, können etwa Aggression, ein gesteigertes Nähebedürfnis, stark angepasstes Verhalten oder der Verlust bereits erlernter Fähigkeiten ein Ausdruck von Trauer sein. Trauernde und ihre Bezugspersonen treffen häufig sogar im direkten sozialen Umfeld auf Unverständnis und Ausgrenzung. Die Fassungslosigkeit der Trauerbegleiterin wird spürbar, wenn sie fragt: „Was sind wir für Menschen, wenn wir Menschen die Chance auf ein erfülltes Leben verweigern, weil sie nicht in unser Gesellschaftsbild, nicht in bestimmte Normen passen?“ (17)
Weil es für Bezugspersonen von trauernden Menschen mit einer geistigen Behinderung derzeit noch wenig fachliche Unterstützung, Literatur oder Austauschmöglichkeiten gibt, stehen viele vor offenen Fragen und/oder sind unsicher. Stephanie Witt-Loers stellt im Kapitel 2 „Wissen und Netzwerke contra Unsicherheiten“ hilfreiche Aspekte vor (19-35). Sie spricht Belastungen und Herausforderungen für die Bezugspersonen an, lädt zur Selbstreflexion ein und ermutigt zu aktivem Handeln, z.B. mit Menschen mit einer geistigen Behinderung darüber zu sprechen, wie sie sich ihr eigenes Sterben und ihre Bestattung wünschen.
In Kapitel 3 „Persönliche Haltung in der Begegnung“ (36-44) zeigt die Autorin auf, dass Trauer zum Leben gehört, und führt Werte wie Respekt, Ehrlichkeit und Empathie gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung jeweils kurz aus. Sie wirbt auch um Verständnis für die Bezugspersonen – das können Leser:innen sowohl auf sich selbst beziehen als auch auf ihre Mit-Bezugspersonen, mit deren Verhalten sie möglicherweise nicht einverstanden sind.
In Kapitel 4 „Trauerprozesse und Trauerreaktionen verstehen“ (46-72) skizziert die Trauerbegleiterin allgemeine Grundlagen von Trauer. Sie schildert mögliche Trauerreaktionen wie widersprüchliche Gefühle oder verändertes Verhalten und führt Trauerthemen und Traueraufgaben aus. Zudem rät sie immer wieder, sich auf die Trauer-Wirklichkeit von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung einzulassen und Trauerprozesse individuell zu gestalten: „Trauerprozesse sind einzigartig, so wie wir Menschen einzigartig sind. Eine Allgemeingültigkeit für ein bestimmtes Vorgehen gibt es nicht, weder mit noch ohne Behinderung.“ (46)
Nicht nur auf Tod reagieren Menschen mit Trauer, sondern auf jede Art von Verlust. Frühere Verlusterfahrungen prägen das aktuelle Erleben und möglicherweise kommen zu einem Tod noch weitere Abschiede hinzu. Im Kapitel 5 „Spektrum des Verlusterlebens“ (73-83) geht Stephanie Witt-Loers auf verschiedene Verlustformen ein, wie z.B. Trennungen oder Krankheit.
Das umfangreichste Kapitel 6 heißt „Trauernde mit geistiger Einschränkung – worauf wir achten sollten“ (85-117). Im ersten Unterkapitel (6.1 Aberkannte Trauer, 85–91) stellt die Autorin hinderlichen Formen jeweils ihr lebensförderliches Pendant gegenüber: „Trauer aberkennen – Trauer anerkennen“ (85f), „Trauer nicht wahrnehmen – Trauer wahrnehmen“ (86f), „Du hast keinen Grund zu trauern – Du darfst trauern“ (87f), „Verlust nicht begreifen – Verlust begreifbar machen“ (88f), „Kein Recht auf Trauer – Recht auf Trauer“ (89), „Trauern nach Normen – Individuell trauern“ (89f). Wenn ihre Trauer nicht anerkannt wird, erfahren Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen zusätzliche Verletzungen, und das oft durch ihr unmittelbares soziales Umfeld. Witt-Loers regt auch im weiteren Verlauf des Kapitels zu wertschätzendem Verhalten an. Im zweiten Unterkapitel „Je mehr Stolpersteine umso schwieriger – Change it“ (6.2, 91–114) buchstabiert die Trauerbegleiterin für fast 30 Aspekte Veränderungen durch. Sie empfiehlt, einfach da zu sein, zuzuhören und Trauernde selbst wahrzunehmen, statt sich von Konzepten und Interpretationen einschränken zu lassen. Im dritten Unterkapitel geht die Autorin auf „erschwerte und komplizierte Trauerprozesse“ ein (6.3, 115–117) und hält fest, „dass […] man […] bei Vorliegen vieler Risikofaktoren und gleichzeitig weniger Ressourcen vermuten kann, dass sich ein erschwerter Trauerprozess entwickeln könnte.“ (115)
Auch das Kapitel 7 „Orientierungshilfen in der Begleitung“ (120-150) zählt zu den umfangreicheren. Die Autorin stellt die Bemerkung voran, dass „wir hier von erwachsenen, trauernden Menschen sprechen, die bereits viele unterschiedliche und prägende Lebenserfahrungen gemacht haben.“ (120). Sie geht zunächst auf „Definitionen und Klassifizierungen“ ein (7.1, 121–123). Im Unterkapitel 7.2 „Wissen individuell vermitteln“ (124-129) schildert sie erschwerende und hilfreiche Auswirkungen von Medien (124f) und gibt Anhaltspunkte für Erklärungsgespräche, etwa wie man den „Wissensstand prüfen“ (125f) oder „Wissen sachlich in einfacher Sprache vermitteln“ (127f) kann. Die „Dimensionen des Todesverständnisses“ (7.3, 129–133) können erfahrbar werden: durch Vergleiche mit Pflanzen, Tieren und unbelebter Umwelt sowie durch praktisches Tun, etwa indem ein:e Trauernde zuerst die eigene Haut und dann die eines Toten berührt oder mit dem Stethoskop ein schlagendes und ein nicht mehr schlagendes Herz wahrnimmt. Um Menschen mit geistiger Beeinträchtigung einzubeziehen, empfiehlt es sich, „Abschied, Trauerfeier und Rituale [zu] erklären“ (7.4, 133–138), ihnen den Raum zu geben, bei der Ritualgestaltung mitzuwirken und für die Auswahl der Texte und Lieder auf solche in „Leichter Sprache“ zurückzugreifen. Anregungen, die eigenen Kraftquellen von Trauernden zu stärken, finden sich im Unterkapitel 7.5 „Ressourcen“ (138-150). Stephanie Witt-Loers gestaltet in ihrer Arbeit mit den Betroffenen Ressourcenregale, dafür verwendet sie abhängig von „Fähigkeit und Abstraktionsvermögen […] tatsächlich reale Gläser, in die dann Zeichnungen oder Zettel mit der individuellen Ressource aufgenommen werden“ (139), etwa „Zeit mit Freunden“, „Ausruhen“ oder „Malen“. Sie ermutigt die Begleiter:innen, die Trauernden in der Selbstsorge zu unterstützen und verschiedene Formen des Umgangs mit Trauer zu akzeptieren: „Es ist normal, dass Menschen Zeiten erleben, in denen sie sich mit der Trauer und ihren Auswirkungen befassen und andere Zeiten, in denen sie ihre Ressourcen stärken.“ (149)
Im Kapitel 8 „Aspekte der Begegnung und Kommunikation“ (151-176) geht es zunächst um das „Gestalten der Beziehung“ (8.1, 151–158). „Einfühlsame und respektvolle Begegnungen mit trauernden Menschen benötigen unbedingt eine Haltung, die mögliche eigene Vorurteile und Interpretationen immer wieder kritisch überprüft.“ (154) Um mit Menschen mit einer geistigen Einschränkung verständlich zu kommunizieren, empfiehlt die Trauerbegleiterin im Unterkapitel 8.2 „Verbale Kommunikation – Leichte Sprache“ (159-160), gezielt paraverbale Merkmale wie Stimme, Tonfall und Lautstärke einzusetzen und hinsichtlich der Inhalte den „roten Faden“ deutlich zu machen. Während des Gesprächs kann die Bezugsperson über nonverbale und verbale Rückmeldungen für Sicherheit sorgen. Unter „Verstehen mit allen Sinnen“ (8.3, 160–165) führt die Autorin aus, dass Einschränkungen in der Sinneswahrnehmung die Begleitung beeinflussen und wie Bezugspersonen durch Hören, Sehen, Riechen und Fühlen trauernde Menschen über ihre verbalen Äußerungen hinaus wahrnehmen können. Schließlich regt Witt-Loers an, „Trauer aktiv [zu] gestalten“ (8.4, 165–176). Abhängig von den individuellen Bedürfnissen und der aktuellen Situation können Smileys, Gefühlsampeln, Gefühlsbarometer, Trommeln, Kunststoffluftkissenverpackungen, Erinnerungsbücher, Lichtergläser, Hosentaschenamulette, Kraftsteine oder Betonherzen zum Einsatz kommen.
Der „Trauer in der Familie“ widmet sich das Kapitel 9 (179-189). Die Familie ist „einerseits ein wesentliches erstes Lernfeld für den Umgang mit Verlusten, und andererseits muss die Familie durch die geistige Behinderung eines Familienmitglieds den Verlust eines ‚normalen Familienlebens‘ und die damit einhergehenden Konsequenzen bearbeiten“ (179). Der „Tod in der Familie“ (9.1, 180–185) kann in verschiedenen Konstellationen vorkommen, wenn ein:e Partner:in stirbt oder eines der nicht behinderten Kinder. Wenn dann noch ein Wohnungswechsel dazukommt, muss ein „Doppelter Verlust“ (9.2, 185–189) verkraftet werden.
Im 10. Kapitel „Soziales Umfeld: Kita, Schule, Wohnheim, Werkstatt, Integrationsbetriebe“ (199-202) schildern Fachpersonen aus Kita, Förderschule und Wohnheim ihre Erfahrungen.
Das abschließende 11. Kapitel (221-224) führt Hinweise auf Fortbildungen und Literaturangaben auf. Zudem finden sich in mehreren Kapiteln gezielte Materialanregungen.
Diskussion
Bisher gibt es kaum fachliche Unterstützung für die Bezugspersonen von trauernden Menschen mit einer geistigen Behinderung; hier leistet das Buch einen wichtigen Beitrag. Die Autorin teilt eigene Erfahrungen, ihre Überlegungen und das, was sie in der Begleitung von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen selbst als hilfreich erlebt. Ihre Wertschätzung für die Trauernden und deren Bezugspersonen wird an vielen Stellen deutlich. Manche Textbausteine sind hervorgehoben, sie enthalten z.B. weitere Reflexionsanregungen, Ermutigungen oder Tipps.
Zahlreiche Beispiele und O-Töne aus der Beratungs-/​Begleitungspraxis machen die Vielfalt und Individualität der Trauernden deutlich und helfen den Leser:innen, trauernde Menschen mit geistiger Behinderung besser zu verstehen. Ein Beispiel zur wörtlichen Auffassung von Umschreibungen: „Volkmar (23 Jahre) erlebt den Tod seiner Mutter. Nach der Krebsdiagnose verstirbt die Mutter innerhalb von vier Wochen. In dieser Zeit liegt sie im Krankenhaus. Volkmar kann sie nicht besuchen. In der Begleitung erzählt er von seinen Gedanken. ‚Ich habe gehört, dass Papa zu unserem Nachbarn gesagt hat, dass er Susanne durch Krebs verloren hat. Dann muss ich jetzt suchen, bis ich Mama wiederfinde. Wo soll ich anfangen zu suchen? Oder muss ich erst den Krebs fangen und töten, weil der die Mama durcheinandergebracht hat? Ich will die Mama wiederfinden.‘“ (109)
Das Buch richtet sich an alle Bezugspersonen aus dem gesamten Lebensumfeld von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Die Autorin hat bewusst darauf verzichtet, die Inhalte nach dem Kontext der Leser:innen zu sortieren, und so gibt es keine speziellen Kapitel etwa für Angehörige, für Fachpersonen mit Kenntnissen über geistige Behinderungen oder für Trauerbegleiter:innen. Das bedeutet, Leser:innen erfahren je nach Vorkenntnissen für sie Neues oft im Rahmen von bereits bekannten Inhalten. Das dürfte es in der Regel erleichtern, Anregungen aus dem Buch in die eigene Situation zu integrieren. Und es ermutigt zwischen den Zeilen, auf vorhandenen Kompetenzen aufzubauen und sich an neue Erfahrungen heran zu trauen: Wer mit Menschen mit einer geistigen Behinderung zu tun hat, kann das auch in einer Trauersituation. Wer Trauernde begleitet, kann auch Menschen mit einer geistigen Behinderung unterstützen. Und wer grundsätzlich mit Menschen arbeitet, kann auch mit trauernden Menschen mit einer geistigen Behinderung umgehen.
Fazit
Das Buch ist v.a. für drei Gruppen von Leser:innen geeignet: erstens für alle Bezugspersonen im privaten, pädagogisch-therapeutischen oder betrieblichen Umfeld, die Orientierung in Trauersituationen suchen; zweitens für Trauerbegleiter:innen, die Menschen mit geistiger Einschränkung unterstützen wollen; und drittens für Menschen, die – etwa in einem Krankenhaus – zum ersten Mal mit Menschen mit geistiger Einschränkung und mit Trauer zu tun haben. Zahlreiche Beispiele und konkrete Vorschläge lassen die Trauersituationen und die Handlungsmöglichkeiten in der Begleitung anschaulich werden.
Die Stärke der Ausführungen liegt in der Breite. Durch die vielen Zwischenüberschriften ist das Buch eine wahre Fundgrube an Aspekten. Es wird damit v.a. für diejenigen Leser:innen hilfreich sein, die beim Durchblättern an einzelnen Stichworten hängen bleiben und diese in ein paar Zeilen vertiefen wollen. Damit können Bezugspersonen auch in aktuellen Trauersituationen gezielt Anregungen entnehmen.
Rezension von
Dr. Mechthild Herberhold
Ethik konkret, Altena (Westf.).
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