Helga Krüger-Kirn, Leila Zoe Tichy (Hrsg.): Elternschaft und Gender Trouble
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 28.06.2021

Helga Krüger-Kirn, Leila Zoe Tichy (Hrsg.): Elternschaft und Gender Trouble. Geschlechterkritische Perspektiven auf den Wandel der Familie. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2021. 261 Seiten. ISBN 978-3-8474-2396-6. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema und Herausgeberinnen
Der Sammelband vereint Beiträge, die sich aus geschlechterkritischer Perspektive mit dem Wandel von Familie und Elternrollen auseinandersetzen. Ziel ist es, normative Wertungen zu überwinden und das Potenzial von Mutterschaft wie Elternschaft zu verdeutlichen. Der Titel „Gender Trouble“ geht auf Judith Butler zurück „Das Unbehagen der Geschlechter“ zurück. Die zeitgenössischen feministischen Debatten über die Bedeutungen der Geschlechtsidentität rufen immer wieder ein gewisses Gefühl des Unbehagens hervor.
Herausgeberinnen des Bandes sind Prof. Dr. Helga Krüger-Kirn, Psychoanalytikerin an der Philipps Universität Marburg und Leila Zoe Tichy, MA,MSc, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der gleichen Universität und derzeit in Ausbildung zur psychoanalytischen Psychotherapeutin.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist neben einer Einleitung in drei thematische Teile mit Kapiteln unterschiedlicher Länge und differenzierten Autor*innen gegliedert.
In der „Einleitung zu Elternschaft und Gendertrouble“ der Herausgeberinnen wird betont, dass Eltern nicht nur über Redeweisen über Familie und Elternschaft gemessen würden, sondern sie richteten ihre subjektiven Umgangsweisen selbst danach aus. Die Frage sei, warum Mütterlichkeit im Zuge der Emanzipation der Frau und ihre Integration in die Erwerbsarbeit nur sehr gering geschlechtergerecht verteilt werden konnte.
Der erste Teil ist mit „Elternschaft im Licht der Medien, Politik und Wissenschaft“ überschrieben und wird mit einem ersten Kapitel von Sabine Toppe „Mutterbilder im Umbruch?! Spannungsbilder prekärer Mutterschaft in aktueller und historischer Perspektive“ eingeleitet. Auch heute seien Mütter vor die Herausforderung gestellt, zwei sich entgegengesetzten Erwartungshorizonten in der Familie und im Arbeitsleben zu entsprechen. Gegenwärtig fänden sich die Rollen von Müttern im Umbruch, so sei eine gute Mutter heute eher die erwerbstätige Mutter, die ihre Kinder fördern und anregen kann und diese nicht nur im Trennungsfall versorgen kann (S. 22).
Ein zweites Kapitel „Elternzeit … das gönn ich mir! Wie junge Mütter fürsorgebdingte Diskriminierung vor dem Hintergrund einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik verarbeiten“ wurde von Lisa Yashodhara Haller verfasst. Mit dem Elterngeld soll eine stärkere Beteiligung von Vätern an der Versorgung ihrer Kinder erreicht werden und die versorgungsbedingte Erwerbsunterbrechung von Müttern reduziert werden, damit diese langfristig in den Arbeitsmarkt integriert bleiben. Familien würden dabei ihr Arrangement zur eigenen Wahl umdeuten, um kein Opfer der Unvereinbarkeitsproblematik zu sein. Die Erfahrung einer schwangerschaftsbedingten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt führe so zur Abkühlung der beruflichen Ambitionen der befragten Mütter (S. 55).
Mit „Zwei-Mutterschaft vs. Heteronormatives Recht? Diskussion der Stiefkindadoption als Modus der Herstellung von Familie gleichgeschlechtlicher Paare“ ist Kapitel drei von Theresa Anna Richards und Katharina Mangold überschrieben. Es wird hier auf die rechtliche Situation geplanter Zwei-Mütter-Familien verwiesen. Mütter müssten trotz ihrer genetischen Verwandtschaft ihre eigenen Kinder adoptieren. Wenn die Samenspende bei einer Insemination bei einer offiziellen Samenbank abgegeben wird, könne der rechtliche Vater nicht festgestellt werden. Unter queeren Familien werden Eltern-Kind-Beziehungen gefasst, in denen ein oder mehrere Personen der Elterngeneration lesbisch, schwul, bisexuell oder trans seien. So werden diese Familien über die Stiefkindadoption zu Adressaten des Jugendamtes und damit zum Fall gemacht.
Charlotte Busch ist Verfasserin des vierten Kapitels zum Thema „Spurensuche zwischen sexueller Vielfalt und rätselhaften Botschaften. Kindliche Sexualität im Spannungsfeld normativer Vorstellungen über Geschlecht, Familie und Sexualität“. Noch bevor Kinder eine Vorstellung über sich selbst hätten, gingen ihnen gängige Bilder über Geschlecht und Familie in der Entwicklung eines Bewusstseins über sich selbst voraus. Charakteristisch für Kinder sei, dass die Triebregungen dezentriert und polymorph seien, prinzipiell sei der ganze Körper erogen.
Das nächste Kapitel von Noemi Gölthenboth widmet sich der Thematik „'So schön und biologisch'? Die Rolle der Bindungstheorie in familienpolitischen Argumentationen“. Ihr Anliegen ist es, das wissenssoziologische Konzept des boundary objects zu verdeutlichen, um zeigen zu können, wie die Bindungstheorie in unterschiedlichen politischen Kontexten für sich vereinnahmt werde.
„Mütterlichkeit braucht kein Geschlecht“ ist die Behauptung von Helga-Krüger-Kirn im folgenden Kapitel sechs. In den Medien würden solche Mütterbilder aufgerufen, die sich auf einen begründeten Zusammenhang von Weiblichkeit und Mutterschaft beziehen und daran würde dann die rechtliche Anerkennung pluraler familiärer Lebensformen bewertet. Die Fähigkeit zur Mütterlichkeit sei eben nicht geschlechtsgebunden, fürsorgliche Beziehungs- und Verhaltensweisen mit dem Neugeborenen würden nicht durch biologische Zusammenhänge initiiert, sondern durch die soziale Praxis des Umgangs mit ihm.
Der zweite Teil der Publikation ist mit „Erfahrungsweisen mit Elternschaft“ überschrieben und beginnt mit einem Kapitel von Sebastian Winter zu „Das Brokkoli-Regiment und die letzte Nacht in Freiheit. Zur Sozialpsychologie der Selbstinszenierung moderner Väter und ihrer Hinterbühne“. Winter untersucht Videos und Poster die zum Mutter- bzw. Vatertag kreiert worden und die versteckte traditionelle Geschlechterkonstruktionen zeigen. Auf Männer bezogene Darstellungen preisten die männliche Abgelöstheit der Väter, die ihre Kinder aus dem Regime der mütterlichen Kultur befreiten. So sei die libido dominandi und ihre Abwehr in den einzelnen Varianten erkennbar.
Karin Flaake versucht die „Geteilte Elternschaft, Geschlechtsbeziehungen zwischen Traditionalisierung und Neugestaltung“ in den Blick zu nehmen. Es geht hier um Familien, die sich von Geburt eines Kindes an, die anfallenden Arbeiten gleichgewichtig teilen, eine Form von geteilter Elternschaft im Sinne von paritätischer Elternschaft. In solchen Partnerschaften stünden die Frauen vor der Herausforderung ihre herausgehobene Bedeutung für das Kind zu relativieren und Männer müssten eigene aktive Beziehungsgestaltungen übernehmen (S. 153).
Ein weiteres Kapitel wurde von Alicia Schlender geschrieben und setzt sich mit der Problematik „Sorgearbeit in Co-Elternschaften, Kontinuitäten und Brüche der Vergeschlechtlichung“. Die Frage ist, wer sich eigentlich kümmert, wobei Sorgearbeit hier als unbezahlte Care-Arbeit verstanden wird, die keine messbare Gegenleistung mit sich bringe. Während Co-Eltern einerseits alternative Familienmodelle verwirklichten, blieben darin tradierte Sorgearbeitsverteilungen an vielen Stellen erhalten.
Diana Dreßler verfasst ein weiteres Kapitel zu „'Es gibt nichts und unterstützt sie bei gar nichts.' Abwesende Väter und alleinverantwortliche, allesleistende transstaattliche Mütter.“ Untersuchungen zeigten, dass sich ausgehend von Europa bestimmte Vorstellungen von Mutterschaft weltweit angeglichen hätten und tradierte Vorstellungen fest verankert seien. Die Folgen für die daheim gebliebenen Kinder thematisieren die transstaatlichen Mütter kaum, sondern sie betonen die positiven Effekte für ihre Kinder durch die Migration.
Es beginnt der dritte Teil mit weiteren Unterkapiteln „Erfahrungsweisen von Mutterschaft“ mit einem Kapitel von Magdalena Müßig zu „Unter anderen Umständen, Queere Perspektiven auf Schwangerschaft“. In diesem Beitrag werden drei qualitative Interviews mit Schwangeren und Personen nachgezeichnet, die gerade geboren hatten und anschließend gequeert: Schwangerschaften werden de-feminisiert, de-heterosexualisiert und von Mutterschaft entkoppelt.
Im nächsten Abschnitt schreibt eine der Herausgeberinnen des Bandes Leila Zoe Tichy ein Kapitel über „Mütterliche Ambivalenz. Im Spannungsfeld gesellschaftlicher Normen und subjektiver Erfahrungen“. Es werden die ambivalenten Gefühle des Mutterseins beschrieben, einerseits die Freude über das Kind, andererseits die Stressoren, die damit verbunden sind, monotone Hausarbeit, hohe Verantwortung aber auch mangelnde Anerkennung.
„Sexualität nach Geburt – (k)ein Thema für Frauen? Eine qualitative Untersuchung“ ist die Thematik des vorletzten Kapitels von Clara Eidt. Der Beitrag setzt sich aus hebammen- und sexualwissenschaftlicher Perspektive mit der Frage auseinander, wie Frauen nach der Geburt ihre Sexualität erleben.
Lilia Nester beschließt die Autorenliste mit Ausführungen zur „Soziale Isolation von Frauen im ersten Jahr der Elternschaft. Theoretische Sondierung eines Forschungsfeldes zu sozialer Isolation im Bereich der Reproduktionsarbeit“. Mütter liefen Gefahr durch soziale Isolation in eine benachteiligte Position in der Gesellschaft zu gelangen, ein Thema das im gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs bisher wenig beachtet wurde.
Diskussion
Der Titel des Buches ist gut gewählt, der übersetzte Titel aber das „Unbehagen der Geschlechter“ wäre noch treffender gewesen als der englische Begriff.
Es ist eine Publikation auf hohem theoretischem Niveau, das trotz sehr unterschiedlicher Autor*innen von Anfang bis Ende durchgehalten wurde. Die Logik der Einteilung in die drei Teile des Buches erschließen sich mir nicht ganz. Ich hätte es begrüßt, wenn Familien, die anders sind und die ganz spezifische Probleme haben, weil sie von der Gesellschaft meist nicht als normal anerkannt werden, einen extra Teil erhalten hätten. So war es irritierend, dass das erste Kapitel im dritten Abschnitt, in dem es um „Erfahrungen und Mutterschaft“ und in deren ersten Kapitel um queere Familien ging, dann im zweiten Kapitel wieder alle normalen Mütter angesprochen wurden. Die Überschriften sind alle sehr lang und zuweilen auch umständlich formuliert, sodass eine prägnantere Bezeichnung dienlicher gewesen wäre.
Der große Gewinn dieser Publikation liegt in der Vielseitigkeit der Beiträge, die sehr differenzierte Sichtweisen zu den vielfältigen Problemen aufgreifen und bearbeiten, wodurch die Komplexität von Familie, Mutter- und Elternschaft heute sehr gut eingefangen wurde. Gelungen ist auch ein Fazit am Ende jedes Kapitels, auch wenn das nicht durchgehend so gestaltet wurde, in dem die wichtigsten Erkenntnisse des Artikels zusammengefasst wurden. Es ist ein weiterer Beitrag der gegenwärtig boomenden Veröffentlichungen von und um Familien, der die bisher vernachlässigten wissenschaftlichen Forschungen und Lücken zu schließen vermag.
Fazit
Es ist eine Publikation, die sich auf ein starkes Fundament verschiedenster Autor*innen unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugänge gründet. Sie betrachten aus ihrer ganz spezifischen Sicht die Besonderheiten von Familien und versuchen, die damit zusammenhängenden Problemlagen zu ergründen. Es ist ein sehr wichtiger Beitrag zur Entwicklung von Familien mit sozialkritischer Nuancierung.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 28.06.2021 zu:
Helga Krüger-Kirn, Leila Zoe Tichy (Hrsg.): Elternschaft und Gender Trouble. Geschlechterkritische Perspektiven auf den Wandel der Familie. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2021.
ISBN 978-3-8474-2396-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28354.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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