Ina Alexandra Conen: Transnationales Altersvorsorgehandeln
Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 16.06.2021

Ina Alexandra Conen: Transnationales Altersvorsorgehandeln türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten. Optionen und ihre soziale Verteilung.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2021.
381 Seiten.
ISBN 978-3-428-18200-8.
D: 99,90 EUR,
A: 102,70 EUR.
Reihe: Sozialpolitische Schriften - Band 97.
Thema
Der demographische Wandel mit schwächer besetzten nachrückenden Jahrgängen gegenüber einer größeren, sich längerer Lebenserwartung erfreuenden Rentner-Generationen hat die deutsche Alterssicherung seit 2001 in Richtung auf das Drei-Säulen-Modell verändert. Zur Gesetzlichen Rentenversicherung GRV treten die Betriebliche Altersvorsorge und die vertragliche, private, Zulagen-gratifizierte Altersabsicherung. Die Akzeptanz dieses Mischsystems ist erheblich. Die Frage stellt sich, wie türkeistämmige Migranten und Migrantinnen, die eher an der mono-strukturellen, staatlichen türkischen Altersversicherung orientiert sind, mit diesem Mehr-Optionen-Modell zurechtkommen. Ina Alexandra Conen ist dem in ihrer bei Duncker & Humblot verlegten, sozialwissenschaftlichen Dissertation an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen „Transnationales Altesvorsorgehandeln türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten“ nachgegangen.
Autorin
Diplom-Sozialpädagogin und Diplom-Pädagogin Ina Alexandra Conen reichte 2020 an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen ihre dort angenommene Dissertation „Transnationales Altersvorsorgehandeln türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten – Optionen und ihre soziale Verteilung“ ein; die pädagogische Wissenschaftlerin lehrt an der Fresenius-Hochschule.
Aufbau
Die explorative Studie zum Altersvorsorgehandeln Türkischstämmiger umfasst in sechs Kapiteln Abhandlungen zum Altersvorsorgehandeln allgemein und im transnationalen Raum, zu den deutschen und den türkischen Gelegenheitsstrukturen, zum gewählten Forschungsdesign, zu den empirischen Befunden und Ergebnissen sowie zu den Schlussfolgerungen.
Inhalte
Die Verfasserin legt eine multidisziplinäre Arbeit zum Altersvorsorgeverhalten vor als qualitative Studie auf der Grundlage von Befragungen bei 23 türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Die Autorin sieht die Optionen von vornherein nicht als ausschließliches Votum für entweder das mehrgliedrige deutsche oder das einzellige staatliche türkische Alterssicherungsmodell. Sie geht vielmehr vom Handeln der Akteurinnen und Akteure in einem transnationalen Raum aus. Die Absicherung des Alters ist für die Befragten in einem Alter zwischen 35 und 55 Jahren insofern optional, als Rentenansprüche durch das deutsch-türkische Sozialversicherungsabkommen von 1964 mit gegenseitiger Beitrags-Verrechnung übertragen werden können und die türkische Rentenversicherung auch eine Nachzahlung von Beiträgen eröffnet. Dieser transnationale Sozialraum in der Alterssicherung ermöglicht Platzierungen aufgrund von Konstellationen, die sich ergeben durch Bildung, Erfahrung, Netzwerk-Anregungen, Ressourcen, Familiensituation und Arbeitswelt-Integration.
Grundlegend erscheint, dass die sich durch Wanderungsbewegungen internationalisierende Sozialpolitik noch wenig erforscht wird. Transnationale Handlungsoptionen des Pendelns können hier Informationen erbringen zur weiteren Gestaltung des zwischenstaatlichen deutschen und türkischen Rentenrechts. Als entscheidend stellen sich heraus das dem Versicherungsmodus zugrunde liegende Äquivalenzprinzip sowie die Migrationssituation mit höherer oder inferiorer Statuslage. Hiernach haben 2016 Deutsche eine durchschnittliche Monatsrente von 1.679 Euro, Türken und Türkinnen in Deutschland eine solche von 1.144 Euro; Türken und Türkinnen geraten im Alter zu 37 %, Deutsche nur zu 16 % in eine Armutslage, umgekehrt haben Deutsche zu 37 % eine Zusatzrente, Türken und Türkinnen aber nur zu 15 %.
Das deutsche Altersvorsorgehandeln ist mehr an den Verteilungsinstanzen Staat und Markt, das der Türken und Türkinnen eher an Staat und Familie orientiert. In das nach Uwe Schimanks Handlungstheorie sozialstrukturell eingebettete Altersvorsorgehandeln fließen ein familiale, lokale, prospektive, ökonomische und sozietale Intentionen. Mitbestimmend sind auch Migrationssituation und ökonomisches Wissen. Bei den Fiktionen der Akteure kommt es zum Zusammenwirken von deutender Eigenlogik mit der Struktur der Sozialsysteme.
Im transnationalen Sozialraum wirken zusammen Raum, Ressourcen und Inklusion. Pierre Bourdieus ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital bilden hier erst recht als bei tradierter Sesshaftigkeit ein Bündel von erwägenswerten Möglichkeiten. Für Migranten und Migrantinnen verliert der Nationalstaat mit Thomas Faist die ausschließliche Relevanz als Sozialraum, zumal geleistete Rentenbeiträge nach dem deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommen von 1964 von System zu System übertragbar sind und Türken und Türkinnen nachträglich Beiträge in ihre heimische Rentenversicherung entrichten können; diese sieht seit 2008 für Männer den Zugang mit 60 Jahren, für Frauen mit 58 Jahren vor mit einer leicht höheren Beitragslast der Arbeitgeber im Verhältnis zu den Arbeitnehmern im Verhältnis 11 Prozent zu 9 Prozent vom zugrunde liegenden Einkommen. Bei der Option für die dauerhafte Remigration in ihre Heimat verlieren Türken und Türkinnen indes den Anspruch auf die Leistungen der deutschen Kranken- und Pflege-Versicherung sowie auf Rehabilitationshilfen der deutschen Sozialversicherung.
Im Forschungs-Design wurden zur explorativen Ermittlung von Altersvorsorgestrategien bei den breit angelegten Interviewpersonen standardisierte Gespräche anhand eines Leitfadens geführt. Interviewer bei den 23 Befragten in 17 Gesprächen (mit Ehepaaren erfolgten gemeinsame Interviews) waren türkischsprachige Kontaktpersonen, die die Autorin der Studie über sogenannte Gate Keepers (Journalisten, sozialpolitisch interessierte Personen) im Schneeballsystem benannt bekam. Ausgewertet wurden die Interviews nach ihrer dominanten Prägung. In einem zweiten Durchgang wurden die kategorisierten Teilnehmenden nochmals per Fallvergleich eingeordnet, um sowohl ihre sozialstrukturellen Konstellationen als auch ihre subjektiven Optionen zu erfassen. So wurden Zweifel am zu subjektiven Einordnen der Befragten aus ihren Optionen in den Interviews ausgeräumt.
An dominanten Befunden ergaben sich Orientierungen an Einkommen, Bildung, generativen Verpflichtungen, Einschätzung des heimischen türkischen Staates und seiner Wirtschaft als verlässlich und prosperierend sowie eine gewisse Skepsis gegenüber ökonomischen Anlagen vertreibenden Agenten. Zutage trat auch eine Bereitschaft, noch abzuwarten und auf eine Rückkehr in die verlassene Heimat und/oder auf familiale Stützung zu setzen.
Der expliziten Nutzung des transnationalen Raums diente eine vertiefte Auswertung der Interviews von sechs der Befragten, die entsprechende Pläne zur Nutzung von Wohlfahrtsquellen diesseits und jenseits hatten durchklingen lassen: Etwa in Options-Muster zu steuern wie Beitragsnachentrichtung, Immobilienerwerb, Pendelexistenz, Wechsel in ökonomische Selbstständigkeit, Vereinnahmen von Erträgen aus Vermögenswerten. Vertieft gedeutet wurden so die Pläne von Frau Acra, Ehepaar Albayrak, Frau Atürk, Ehepaar Bilgin, Frau Bostanci und Ehepaar Berk. Die Kompetenzen der anhand ihrer Pläne beleuchteten Personen zeigten sich in puncto Information, Ressourcen-Rückgriff und Reflektion unterschiedlich stark ausgeprägt. Je prekärer die Ressourcenlage, desto mehr setzt man auf remigrierede Stützung im Herkunftsland Türkei. Eine Vorbildung in ökonomischen Fragen kann fehlende Ressourcen nicht wettmachen. Umgekehrt werden ökonomische Chancen für das Alter ohne Kenntnis der sozio-ökonomischen Systeme nicht ergriffen. Hilfreich ist Beratung aus der eigenen Ethnie, denn die zu ergreifenden Optionen müssen für die eigene Lebenswelt als vorstellbar erachtet werden. Als für sie relevant evaluierten darum die Interview-Personen persönliche Erfahrungen, sozietale Einflüsse und Experten-Ratschläge ihres Umfelds. Es überwiegen bei geringer Ressourcenausstattung eher familiale Erwartungen und Stützung durch staatliche Wohlfahrt. Bei überdurchschnittlicher Einkommens- und Sachwert-Ausstattung wird auf die Planung von Wertsteigerung und Ertragsnutzung gesetzt. So sind die Wohlfahrtsquellen Familie und Staat auf der einen und Markt auf der anderen Seite auf der Grundlage unterschiedlicher Ausstattung mit ökonomischen (Eigentum, Einkommen), sozialen (Umfeld, Migrationshistorie) und kulturellen Kapitalien (Fachwissen, Expertenkontakt) verschieden stark in die Optionen der Altersvorsorge-Akteurinnen und -Akteure eingegangen.
Im Ergebnis ist das alterssichernde Handeln Türkischstämmiger in Deutschland als in pluri-lokale Strukturen eingebettet zu begreifen, die zunächst einmal die Ausstattung mit ökonomischem Kapital bewirken. Sodann wird die deutende Überwindung von Zukunfts-Unsicherheit mit lebensweltlich-sozietaler Information geleistet. Bei Mangel an Ressourcen wird zur Vermeidung drohender Altersarmt der transnationale Raum mit remigrierenden Plänen ins Spiel gebracht. Die Bessergestellten greifen eher auf international gängiges Finanzwissen jenseits des transnationalen, deutsch-türkischen Raums zurück.
Da die jeweiligen nationalen Rentensysteme stark die Zukunftserwartungen nähren, sollten niederschwellige Informationsangebote über ihre Kombinationsmöglichkeiten ausgebaut werden. Abschließend spricht sich die Studie für eine Anreicherung des transnationalen Raums aus: Bei Remigration mit Bezug der durch Nachzahlung aufgebesserten türkischen Rente und Dauerverbleib in der Türkei sollte der in Deutschland erworbene Kranken- und Pflegeversicherungs-Schutz nicht verloren gehen. Auch sollten zulagen-geförderte Privat-Alterseinkünfte ins Herkunftsland mitgenommen werden können und die türkische Beitrags-Nachzahlungs-Rente sollte auch in Deutschland bezogen werden können.
Diskussion
Die explorative Studie zum Altersvorsorgehandeln Türkischstämmiger in Deuschland von Ina Alexandra Conen ist von sozialpolitischer Tragweite. Denn in transnationalen Sozialräumen werden sich künftig immer mehr Menschen bewegen. Insoweit ist es verdienstvoll, wie geschehen, das Augenmerk auf sozialpolitische Systemvergleiche, Sozialversicherungsabkommen, Informationsarbeit von ökonomischen und sozialpolitischen Experten zu richten und Handlungsbezüge der Betroffenen aus ihren Lebenswelten in den Blick zu nehmen. Der Autorin ist mit ihrer umfänglichen Arbeit (ihr Literaturverzeichnis weist rund 500 Titel auf) ein großer informatorischer Wurf gelungen. Die Leserschaft erhält eine gut aufnehmbare Darstellung des deutschen und des türkischen staatlichen Rentensystems mitsamt seinen Verzahnungen durch das Sozialversicherungsabkommen von 1964.
Die möglichen vielfältigen Optionen türkischstämmiger Migranten und Migrantinnen werden in ihrer lebensweltlichen Genese empirisch erkundet und fasslich ausgebreitet. Dass dabei die Handlungstheorien breit referiert und die empirische Werkzeugkiste detailliert aufgetan wird, hemmt den Lesefluss für den zuvörderst an den Varianten der migrantischen Altersvorsorge-Handlungen Interessierten. Ob die gesamte empirische Prozedur in der 381seitigen Publikation geschildert werden musste, ist wohl auf die Entscheidung des die Promotions-Studie veröffentlichenden Verlags zurück zu führen. Eine gerafftere Version wäre zu begrüßen.
Zumal dem Untertitel des Themas der Promotionsarbeit „Optionen und ihre soziale Verteilung“ quantitativ kein Genüge getan wird. Denn die Arbeit ist von vornherein als qualitative Studie ohne quantitative Verteilung der eruierten Vorsorge-Optionen auf die türkisch-deutsche, migrantische Gesamt-Population angelegt gewesen. Insoweit muss sich die interessierte Leserschaft mit den Options-Typen Verbleib mit Berentung im Zielland, Remigration, Pendel-Migration, familiale Stützung, Hilfe aus Netzwerken, Vermögensanlage mit Immobilien-Nutzung und Ertrags-Genuss begnügen.
Zumal der personelle Abstand bei den in die Studie eingeflossenen, explorierenden Interviews angesichts der lebensweltlichen und sprachlichen Distanz zwischen Verfasserin und Untersuchungs-Leiterin einerseits und den Interviewten andererseits nicht unkompliziert zu überwinden gewesen sein dürfte. Die Autorin gelangte zu ihren Probanden (Glied 3) über türkischsprachige Kontaktpersonen (Glied 2), die ihrerseits wieder von Gate Keepern (Journalisten, „sozialpolitisch Interessierten“, was immer die gewesen sein mögen – Glied 1) rekrutiert worden waren. Die Einordnung der Befragten in die Options-Typologie durch die Interviewer sollte durch deren Kontaktgespräche mit türkischsprachigen Studierenden der Sozialen Arbeit vor zu persönlicher Einfärbung bewahrt werden. Das alles sind Behelfe, die die Durchdringung interkultureller Räume nicht gerade erleichtern.
Der Repäsentativität für die Arbeitsmigration tut es natürlich auch Abbruch, dass im zweiten, vertiefenden Befragungs-Durchgang von den dann noch sechs Befragungen mit den beiden Ehepaaren Bilgin und Berk zwei Interviewpartnerschaften aus dem Selbstständigen-Milieu internationalen Zuschnitts figurierten, von denen im einen Fall der Ehemann auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und im anderen Fall enge Beziehungen zu Frankreich bestanden mit einem dortigen Ferienort-Bootsliegeplatz. Quantitative Schieflastigkeit lässt also bei der Probanden-Auswahl grüßen.
Fazit
Die unterschiedliche Typologie des Altersvorsorgehandelns türkeistämmiger Migranten und Migrantinnen beleuchtet mit den Varianten Verbleib im Zielland, Remigration, Pendelmigration und Vermögensbildung mit Ertragsgenuss eine Promotionsstudie der Universität Duisburg-Essen auf der Grundlage des deutschen und türkischen Rentenrechts. Zur quantitativen Verteilung der Optionen macht die explorative Studie keine Angaben.
Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 16.06.2021 zu:
Ina Alexandra Conen: Transnationales Altersvorsorgehandeln türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten. Optionen und ihre soziale Verteilung. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2021.
ISBN 978-3-428-18200-8.
Reihe: Sozialpolitische Schriften - Band 97.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28358.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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