Werner Wintersteiner: Die Welt neu denken lernen
Rezensiert von Arnold Schmieder, 09.07.2021

Werner Wintersteiner: Die Welt neu denken lernen - Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen.
transcript
(Bielefeld) 2021.
212 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5635-0.
D: 30,00 EUR,
A: 30,00 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Edition Politik - 119.
Thema
Der Autor ist an der Lehre des Philosophen und Soziologen Edgar Morin orientiert, an seiner Botschaft, dass es zu gesellschaftlichen Fragen und Problemlagen nie einfache Lösungen gibt, Wissenschaft ‚komplex‘ zu denken habe, aber eine so verstandene Neuausrichtung des Denkens, eine jeweils Teilergebnisse interdisziplinär vereinigende Wissenschaft noch aussteht. Wintersteiner tritt darum erst einmal an, wissenschaftliche Ergebnisse zu einer weltweiten Situation multipler Krisenkonstellationen vorzustellen und kritisch zu diskutieren. Ausgangs- und zugleich Angelpunkt ist die Corona-Krise, die er nicht isoliert betrachtet, sondern in ihrer Vernetzung mit anderen Krisenerscheinungen, nicht zuletzt ökonomischen. Kurzum: Es geht um den desolaten Zustand der Welt und Fragen des Überlebens, dann eines möglichst nicht nur guten Lebens, sondern besseren. Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität, sanfter Umgang mit der Natur sind für den Autor die prominenten Punkte, auf deren Verwirklichung er – konkret utopisch – dringt, wofür er eine planetare Politik reklamiert.
Autor
Werner Wintersteiner ist Universitätsprofessor im Ruhestand und Gründer des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er arbeitet im Leistungsteam des Master Lehrgangs Global Citizenship Education.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in fünf Hauptkapitel mit jeweils weiter aufgefächerten Unterkapiteln gegliedert. Wintersteiner charakterisiert seinen „Essay“, er sei „freilich nicht nur die Anrufung der Zivilgesellschaft, sondern auch ihr Echo. Denn er ist eine Auslese vieler Gedanken und Vorschläge, die von Menschen unterschiedlicher Länder und mit verschiedenen Vorstellungen ‚für eine bessere Zukunft nach Corona‘ gemacht worden sind“ (S. 31), wobei er anmerkt, dass sich der Text einer „jahrzehntelangen intensiven Beschäftigung mit dem Werk des französischen Philosophen und Soziologen Edgar Morin“ verdankt (ebd., Anm. 2), auf den sich der Autor im Zusammenhang seiner weiterführenden Reflexionen immer wieder in seinem Buch bezieht. Wintersteiner „erhebt den Anspruch auf Vielseitigkeit, nicht den auf Originalität“, was für alle Kapitel geltend zu machen ist, als eine „Zusammenschau, Vertiefung und kritische Reflexion vieler (und keineswegs einheitlicher) Diskussionen aus dem Lager derer, die Veränderungen anstreben.“ Insofern ist der Text glücklicherweise jenseits einer ansonsten oft zwanghaft anmutenden Originalität angesiedelt und ist stattdessen ein eindringliches „Plädoyer für ein Gesamtprogramm einer Großen Transformation, aber keineswegs selbst dieses Programm“ (S. 39). Corona, meint er, hätten wir nicht für die „Lehren, die daraus zu ziehen sind“, gebraucht, doch aber vielleicht darum, „um endlich die Schrift an der Wand sehen zu können“ (S. 41).
Eröffnet wird der Band mit einem auf Wintersteiners Argumente Bezug nehmenden Essay von Hans Karl Peterlini über „Pädagogische Antwortversuche auf politische und gesellschaftliche Überlebensfragen“, in dem er dem Autor testiert, er arbeite in diesem Buch sorgfältig heraus, „wie beispielsweise die Politik ihre Entscheidungs- und Handlungskompetenz zunehmend an das ökonomische Interesse von Partikulargruppen verloren oder gar abgetreten hat“ (S. 16 f.). Und weil es nicht nur, aber weithin um Covid-19 geht, hält er angesichts der auf sehr breiter Aufnahme von Forschungsergebnissen und Einschätzungen basierenden Argumentationen des Verfassers eine Hoffnung, die „Weltgemeinschaft“ würde „umlernen und neulernen, was sich in Jahrhunderten an sozialisatorischen Erfahrungen sedimentiert hat“, für „genauso verwegen, wie die Resignation wohl doch zu pessimistisch ist, dass wir gar nichts gelernt haben.“ Somit könne die Hoffnung, die auch dieses Buch inspiriert habe, letzten Endes nur sein, „dass ausreichend viele lernen, wie alles mit allem zusammenhängt und dass wir den Katastrophen nur entkommen, wenn es weltweit und quer durch alle Praxen zu einem Umdenken und Aushandeln neuer Regeln kommt“, es all überall „mit dem Stimmzettel oder neuen partizipativen Politikformen“ zur Einforderung einer „planetare(n) Politik“ kommt, „die statt dem Verderben aller ein gutes Leben für alle wenigstens anstrebt“ (S. 21 f.).
Von diesem vorangestellten Text und nach einem „Post-Skriptum: Ein neues Heldentum“ und dem Quellenverzeichnis wird das Buch durch ein Nachwort von Helga Kromp-Kolb und einem „Aufruf für planetares Denken und Fühlen, Planen und Handeln“ unter dem Titel „Heimatland Erde“ von Gudrun Kramer und Werner Wintersteiner gerahmt. „Eine zentrale und verstörende These des Buches mit weitreichenden Konsequenzen“ sei, so Kromp-Kolb im Nachwort, „dass mit kleinen Veränderungen, die ‚realistisch‘ erscheinen, nicht viel gewonnen wäre, weil sich Grundlegendes ändern“ müsse und dabei die Frage bleibe, „ob die Menschheit rational zu handeln in der Lage sei“ (S. 202 f.). In ihrem Aufruf nehmen Kramer und Wintersteiner nicht explizit Stellung, geben aber implizit Antwort. „Pathetisch gesprochen: Was ansteht, ist nichts weniger als ein neuer Entwicklungssprung der Menschheit“, notieren sie, und dazu brauche es „Erkenntnis, Vision, Handeln“, wobei uns die „Dynamik unserer heutigen Zeit“ lehre, „dass die Menschwerdung des Menschen noch nicht abgeschlossen sein muss“, was in dem Schlusssatz gipfelt: „Es gilt, durch die Überwindung des Kapitalismus, durch eine neue Kultur des Friedens und entsprechende politische Strukturen ein sinnerfülltes, nachhaltiges, in seiner Existenz gesichertes Leben zu ermöglichen“ (S. 205 ff.).
Wintersteiners Buch ist vom ‚Geist‘ dieses Aufrufs getragen. Wo er im ersten Kapitel fordert, Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik, hebt er darauf ab, dass ein anderes Leben möglich ist und konturiert die Anmutungen der Veränderung. Er betont, Corona sei ein „Krisensymptom unserer Gesellschaft, wie es auch selbst ein Krisenfaktor ist“ (S. 30).
Im Kapitel Aus der Krise lernen verweist er dann darauf, dass das Virus uns aufmerksam auf „unsere gegenseitige Abhängigkeit und die unzähligen Interaktionen – etwa zwischen Pandemie und Ökonomie“ mache (S. 53), und wir „schnell merken“ werden, „dass es sich nicht um einzelne, isolierte Krisen handelt, sondern um einen ganzen Krisenkomplex“ (S. 61), eingeschlossen u.a. die „fossilische Energiegewinnung“, wobei der Autor (mit Bezug auf Brand) wiederum deutlich schreibt, dass es „keineswegs genügen kann, auf erneuerbare Energien zu setzen. Die gesamte Logik der Produktionsweise muss verändert werden“ (S. 65). Eine Darstellung und kritische Abwägung der Begriffe Anthropozän und Kapitalozän fügt der Autor ein und stellt auch deren Kritik im nicht-anthropozentrischen Begriff „Chthulucene“ vor, „abgeleitet von griechisch chthonisch, erdverbunden“ (S. 69).
Politische Dilemmata lautet der Titel des dritten Hauptkapitels, wobei er zunächst Morins Krisentheorie zitiert, nach der die Krise einer Entpolitisierung Vorschub leiste, dabei sich aber auch, so Wintersteiner, ein „Nebeneffekt“ aus anscheinend unbeschränkt autonomem nationalstaatlichem Handeln einstelle: „Die politische Selbst-Inszenierung der Regierenden als große Macher in schwierigen Zeiten hat bei vielen Menschen wieder den Wunsch nach echter Politik geweckt.“ In diesem Zusammenhang sei auch „das Aufkommen des Populismus“ zu sehen (S. 80 f.). Er resümiert, das „Politische“ müsse „immer wieder neu erfunden werden – von immer neuen sozialen Gruppen“ (S. 84). Allerdings erwachse in der Gefahr – anders als im Satz von Hölderlin - „das Rettende gerade nicht“; mehr noch beunruhigt den Autor „die (auch theoretische) Schwäche des Widerstands gegen das bestehende System der Polykrise“ (S. 89). Nicht nur, was die Politiken um und gegen Corona betrifft, hält der Autor dafür, dass es auf eine „Anthropolitik (Morins Sammelpolitik einer neuen, integrativen demokratischen und planetarisch bewussten Politik) ankommen (wird), eine demokratische Biopolitik in eine Gesamtstrategie zur Beförderung planetarer Gerechtigkeit zu integrieren“ (S. 97). Insgesamt, und da auch gegen die „imperiale Lebensweise“, müsste es möglich sein und werden, „Strategien für ein nachhaltiges Wirtschaften und für eine Politik zu entwickeln, die auf einer Kultur der Gewaltfreiheit beruht. Und nur so werden wir die Globalisierung der Solidarität erlernen“ (S. 108).
Im nächsten Kapitel Soziale Transformation vertieft Wintersteiner die Thematiken um imperiale Lebensweisen, um menschengerechtes und ökologisch verträgliches Wirtschaften, fordert auch, von einer Kriegskultur zu einer Kultur des Friedens überzugehen. Dabei zeigt er, und zwar ohne Schwierigkeiten der Realisierung zu unterschlagen, wie eminent wichtig es ist, eine Globalisierung der Solidarität zu erlernen als zwingende Voraussetzung dafür, dass jeder Mensch auf diesem Erdenrund, das „nicht zu unserer rücksichtslosen Ausbeutung zur Verfügung steht“ (S. 178), „Zugang zu gesunder Nahrung, reinem Wasser (erhält), Gesundheitsversorgung, gesunde Wohnverhältnisse und eine stabile Beschäftigung“ garantiert sind (S. 113). Alles Imperiale und Koloniale, was sich „tief in die kulturelle DNA der westlichen Zivilisation eingeschrieben“ hat (S. 116), sei zu überwinden, ein „‚sanftes‘ Wirtschaften“ sei angezeigt, der „Abbau von Gewalt und die Entwicklung einer Kultur des Friedens“ böten „günstige Voraussetzungen für eine alternative Produktions- und Lebensweise“ (S. 131). Schließlich müssten wir auch „mit der Natur Frieden schließen, um untereinander Frieden schließen zu können“ (S. 133), weil wir nur mit einer „Kultur des Friedens“ eine Chance hätten, „aus dem Treibsand herauszukommen, in den wir uns selbst hineinmanöveriert haben“ (S. 141). Dabei ist der Autor sich inne, dass ohne „Veränderung von Machtverhältnissen (…) weiter die alten Strukturen (dominieren)“ (S. 151). Dreierlei, schließt Wintersteiner dieses Kapitel, brauche es: Einen „Wandel unseres Denkens und unserer Medien- und Bildungspraxis; einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel unserer Beziehung zur Natur, und schließlich die Wiedergewinnung des oft verloren gegangenen Glaubens an die Möglichkeit einer Veränderung“ (S. 155).
Um diese drei Themen kreist das letzte Kapitel mit dem Titel Strategien für den „Frieden mit der Zukunft“, wozu es „dringend eine alternative politische Philosophie im weiten Sinne des Wortes“ brauche, wobei der Autor sich auf das „Zweite konvivialistische Manifest“ beruft; gemeint ist eine Philosophie, auf der ein „transformatives Bildungsprogramm“ aufsatteln kann (S. 170), wobei ihm klar ist und bleibt, dass „Bildung alleine (…) die Welt nicht verändern (wird), es müssen politische Strukturen und Machtverhältnisse verändert werden“ (S. 172). Und er unterschlägt mitnichten, dass unsere Verhältnisse so sind, wie sie sind, „weil starke (und derzeit dominierende) gesellschaftliche Gruppen wollen, dass sie so sind, wie sie sind (auch wenn sie inzwischen unter dem Druck der Fakten von Veränderung reden)“, und er sagt zudem, dass „der Kapitalismus grenzenloses Wachstum braucht, während der Kampf gegen die Klimakrise gerade das vermeiden müsste“ (S. 182 ff.). Hier dann auch zeigt er einen „Denkpfad“ in Richtung ‚Praxis‘ von „Veränderungen“ auf, die „umfassend, radikal und miteinander vernetzt sein müssen. Wenn dieses Szenario auch nicht besonders wahrscheinlich ist, so ist es doch möglich. Und insofern auf längere Sicht realistischer als ein ‚nachhaltiger Kapitalismus‘, der ein Widerspruch in sich selbst ist“ (S. 185).
Diskussion
In der Tat: „Nachhaltiger Kapitalismus“ als Widerspruch in sich selbst, da kann man erst einmal ein- und gar zustimmen. Beim „Denkpfad“, der zu Veränderungen leitet, die selbst „vernetzt“ sein müssen oder müssten (s.o.), was zweifellos mehr notwendig als nur wünschenswert ist, mag man nach den initiativen Trägern solcher vernetzten Veränderungen fragen und auch, ob Wintersteiner da in der Nähe einer Vorstellung jener „Multitude“ siedelt, wie sie von Hardt und Negri vor Jahren in die Diskussion eingespeist wurde. Der Autor gibt darüber keine Auskunft, er setzt auf Bildung, gar eine, deren Rüstzeug eine „politische Philosophie“ ist. (Da mögen die einen oder anderen Studierenden der Philosophie aufmerken und sich fragen, ob etwa die philosophischen Denkleistungen bspw. eines Kant und später eher affirmativen eines Hegel wenn nicht unbedingt als explizite Kritik politischen Handelns, so doch im Sinne des ‚Politischen‘ als wegweisend und sinngebend zu verstehen waren und sind). Was der Autor mit jener Bildung meint, einer möglichst all überall obwaltenden, ist selbstredend aller Ehren wert und ein schon lange ausstehendes Desiderat. Anderenorts war und ist da von Aufklärung die Rede, die nicht sui generis Praxis gebiert, auch dann nicht, wenn man ihre Dialektik entfaltet, was den analytischen Blick schärft, wie es Horkheimer und Adorno geleistet haben. Deren Befund des „Umschlags von Aufklärung in Positivismus, den Mythos dessen, was der Fall ist“, eine „in der Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst“ als „Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie“ (Horkheimer/Adorno), er ist dechiffrierbar auch in naturalisierenden Vorstellungen von herrschender Ökonomie, so sie an sich nicht infrage gestellt wird, wie auch in der Verfasstheit von Gesellschaft, die es als höchstens an problematischen Punkten zu verbessern gilt. Ohne diese theoretische Bezugnahme scheint diese kritisch-theoretische Analyse in Wintersteiners ‚neu denken lernen‘ auf. Wie schon in der Folge der kritischen Theorie bleibt auch hier zu diskutieren, ob und wie auf der Folie und dank dieses ‚Denkens‘ Impulse virulent werden können, die reflektiertes Handeln anleiten, gegen das zu handeln, was nicht sein soll (und eben evoziert werden aus den Widersprüchen einer kapitalistischen Ökonomie, die gegen alle Ohnmacht und Apathie in Richtung einer Veränderungsbereitschaft wirksam werden können). Der Autor ist sich dessen inne, skeptisch gegenüber einem in diesem Sinne zu stiftenden „Szenario“ (s.o.), doch möglich scheint es ihm allemal – und möglich muss es sein, bei Strafe des Untergangs. Jene richtige Gelegenheit zum Widerstand, zu radikaler Veränderung, eigentlich zu jeder Zeit gegeben in der Geschichte der immer wieder von Krisen heimgesuchten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, es ist augenscheinlich, dass sie zu diesem historischen Zeitpunkt nicht verpasst werden darf. Wintersteiners Buch ist diesbezüglich sehr eindringlich.
Es ist nicht nur eine „Zangenkrise“ (Dörre), eine Doublette aus Klimakrise und Pandemie aus ein und derselben Hand, genauer identifiziert Wintersteiner ein „System der Polykrise“und spricht von einem „ganzen Krisenkomplex“, insgesamt einem „Treibsand“, in den „wir uns selbst hineinmanöveriert“ hätten (s.o.). Wir? Ganz so ist es wohl nicht, spricht er doch an anderer Stelle von Machtstrukturen, die zu überwinden wären oder sind, und ruft er doch zusammen mit Kramer zur „Überwindung des Kapitalismus“ auf (s.o.). Etliche der aktuellen Krisen haben es ins öffentliche Bewusstsein geschafft, allen voran der Rattenschwanz an Problemen aus der gegenwärtigen Pandemie, derweil (noch) ein wenig abgehängt die so genannte Klimakrise, die sich zur Katastrophe auswachsen werden wird, sollte nicht Einhalt geboten werden. Weniger ist die Rede von einer im Zuge der euphemistisch gefeierten Vierten Industriellen Revolution zu erwartenden Überproduktionskrise, die aller Voraussicht nach ein Mehr an Freisetzungen, prekären Beschäftigungen, sozialen und psychosozialen Einbrüchen auch in den Metropolen bescheren wird, was sich bereits abzeichnet. Zwar gerät das Finanzkapital ins Fadenkreuz, zwar wird mit reformistischem Zungenschlag mit einem Postwachstums-Kapitalismus oder gar mit einem grünen geliebäugelt, doch dass der Kapitalismus als Krisenstifter im öffentlichen Bewusstsein so gegenwärtig ist wie all die Krisen, die man ggf. als nicht-intendierte Handlungsfolgen abschwächt, zeigt sich höchstens hie und da und vereinzelt und wird schon gar nicht durch die Medien, die ein Massenpublikum erreichen, entsprechend thematisiert. Sicherlich bleibt die Forderung richtig, „dass ausreichend viele lernen, wie alles mit allem zusammenhängt“, wie Peterlini anmahnt (s.o.), und sicherlich braucht es auch für einen Wandel des Denkens eine andere „Medien- und Bildungspraxis“, wie Wintersteiner fordert (s.o.). Doch mit einer Aufklärung über eine ruinöse Ökonomie, die so bleiben wird, so viel man auch an ihr zu werkeln versucht, hapert es. Fast anheimelnd die vormaligen Bedenken von Keynes und Galbraith, das Haben-Wollen, ein Konsumismus als Demonstration, zu den Bessergestellten zu gehören, angeheizt durch die Werbung, sei volkswirtschaftlich, da Knappheit längst überwunden und die grundlegenden materiellen Bedürfnisse aller zu stillen, auch nicht das Gelbe vom Ei.
Die Marxsche Analyse des Kapitalismus, dessen Kritik der politischen Ökonomie, aus der zu erhellen ist, wie etwa die Pandemie in der herrschenden Ökonomie letztursächlich gründet, ist keine explizite Referenz für den Autor wie auch nicht die Kritische Theorie, die Auskunft über die – hoffentlich nicht abschlusshafte – Zurichtung jenes ominösen ‚Wir‘ gibt und immerhin die Frage gestattet, ob es sich selbst in die (weltweit) desolate Situation „hineinmanöveriert“ hat oder welche ökonomischen, historischen und gesellschaftliche Prozesse zugrunde liegen. Dass der Autor darauf nicht Bezug nimmt, ist ihm nicht anzukreiden, wohl aber darf nachgefragt werden, ob solches Wissen nicht wesentlicher Inhalt der von ihm perspektivisch favorisierten politischen Philosophie sein müsste und dann Bildung konturierte im Sinne von Aufklärung, woran Praxis zu orientieren wäre, zumindest eine, die zur Tat einer Transformation schreitet. – Ob der Kapitalismus ‚abwählbar‘ ist, ob ein vom Autor und Kramer „sinnerfülltes, nachhaltiges, in seiner Existenz gesichertes Leben“ als ein „neuer Entwicklungssprung der Menschheit“ (s.o.) „mit dem Stimmzettel“ (Peterlini) ‚wählbar‘ ist, darf angesichts der tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und der ideologischen wie gewaltsamen Abwehr von Gegenwehr bezweifelt werden.
Was Wintersteiner als durchweg friedliche und ‚gewaltfreie‘ Praxis durch Bildung und Bewusstwerdung mit dem Ziel einer „planetaren Politik“ (s.o.) anvisiert, ist äußerst wünschenswert. Er dürfte sich auf Kant berufen (der den Kapitalismus noch nicht kannte und nicht ahnen konnte, dass er u.a. als ‚Raubtierkapitalismus‘ apostrophiert werden würde), der zu seiner Zeit „Weltbürgerrechte“ fast visionär als notwendig und eben mehr als wünschenswert ansah, und zwar in „Zum ewigen Frieden“ (1795): „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde durchgängig überhand genommenen (…) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz auf der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee des Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ Sinnverwandt ist Wintersteiner im Schulterschluss und an den Geist der Deutschen Aufklärung anzudocken nur insoweit eine philosophische Hilflosigkeit, als ersichtlich nach über zweihundert Jahren immer noch auf der Agenda steht, woran Kant sich anzunähern dringend anriet. Der Kantische Trittstein zum „ewigen Frieden“, wünschenswert ist er nach wie vor. Doch vom „bloßen Wünschen ist noch keiner satt geworden“ (Bloch) und insofern treibt das Wünschen zu einem meist eher hilflosen Handeln, das innerhalb dem Anschein nach naturhafter gesellschaftlicher Verhältnisse vorab nicht aus deren Bannkreis ausbricht, nicht nur darum nicht, weil – so nach Brechts bekannter Sentenz – erst das „Fressen“ kommt und dann die „Moral“. Auch wenn man „Fressen“ mit alltäglichem Überlebenskampf übersetzt und „Moral“ mit einem widerborstigen Wunsch, dass und wie es anders sein möge, der „universale Verblendungszusammenhang“ (Adorno) dörrt die notwendige Phantasie aus und der vormalige Kantische Kategorische Imperativ ist unter zweck-rationalem Handeln verschüttet. „Die Welt neu denken lernen“, dazu hat sich die Philosophie nicht erst in der neueren Geschichte mehrfach anheischig gemacht, inzwischen aber rückt es uns hautnah: „es kömmt drauf an, sie zu verändern.“(Marx) Dass immer mehr und zunehmend hektischere Reformen jenen Wunsch erfüllen und tatsächlich etwas verändern, daran kommen, so wie sie konzeptualisiert werden, zunehmend Zweifel auf, besonders unter den Kohorten jugendlicher Rbellierer:innen, wie es scheint.
Zu Recht wird die Rede vom Anthropozän durch Kapitalozän korrigiert und im Begriff „Chthulucene“, was Wintersteiner referiert, ist zumindest angedeutet, dass die „kapitalistische Produktion (…) daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (entwickelt), indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx) Rücksichtslose Ausbeutung von allem hinterlässt nicht nur Spuren bei jenen, die mit den üppigeren Brosamen einer von Wintersteiner als äußerst destruktiv indizierten „imperiale(n) Lebensweise“ (s.o.) ganz kommod über die Runden kamen und noch kommen, sondern sie zeitigt weltweit Folgen, die Überlebensfragen aufwerfen und in eine Praxis gegen jene „Ausbeutung“ zwingen (müssten), die ad fontes geht, deren Motiv und Antrieb kappt. Doch Wachstum bleibt bislang Mantra und Werteverwertung bleibt conditio sine qua non, daran darf alle Veränderung letzten Endes nicht rütteln. Indem sich der Autor zwar implizit, aber nicht expressis verbis zu solcher Aussage vorwagt und dabei bei einem ehrenwert friedlich schiedlichen Begriff von Praxis bleibt, erspart er sich auch die – anderenorts geführte – Diskussionen um Gewalt und Gegengewalt, um Zweck-Mittel-Relationen, um einen den Begriff der ‚Klasse‘ und die Klassenfrage in ihrer strategischen Bedeutung allemal, schließlich auch darum, wie seine überfälligen, zukunftsweisenden und überlebensnotwendigen Veränderungen blockiert werden, nämlich durch Zuweisung von eigeninitiativen Problemlösungen an die vielen ‚Wirs‘, worauf beispielhaft Sighard Neckel aufmerksam macht, und zwar am Beispiel Klimaschutzes, der auch im Fokus von Wintersteiner ist:
Der Schutz des Klimas, die Abwendung katastrophaler Folgen, er wird auch zur Aufgabe aller Bürger:innen gemacht, was nicht falsch ist, wo er jedoch schnell an seine Grenzen stößt. Verzicht und Askese, auch nicht Veränderungen von Konsumgewohnheiten, polieren realistisch gesehen die jeweils persönlich Öko-Bilanz auf. Etwa „ein Student, der über ein geringes Einkommen verfügt und wenig konsumiert, mit mehreren Mitbewohnern auf engem Raum lebt, kein Auto besitzt, das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr nutzt und keine Flugreisen unternimmt, kommt heute auf etwa 5,4 Tonnen CO2 im Jahr – und liegt damit um mehr als das Doppelte über dem Wert der für 2030 angestrebten Ökobilanz“, führt Neckel vor Augen. Das soll natürlich nicht verleiten, das eigene Verhalten nicht zu verändern, auch nicht desillusionieren, sondern zeigt auch, auf welche Weise ein Machbarkeitstheorem verbreitet wird und Problemlösungen ganz wesentlich an jene delegiert werden, die wenig direkten Einfluss auf Abstellung von wirklich gravierenden Ursachen haben. Doch wenn „Habilitabilität (…) hingegen der relevante Maßstab (ist), wenn man auf den Planeten schaut“, dann ist weit mehr vonnöten als die „globale Handlungsmacht einer Weltbürgerschaft (…), die jenseits aller politischen Realität liegt“ (Adloff/Neckel). Damit ist Wintersteiners Vision von einer „planetaren Politik“ höchstens im Hier und Heute zurechtgerückt oder gestutzt, als Idee aber keineswegs zu verwerfen, so denn solche Politik es gegen mächtige Widerstände schafft, sich im Sinne seines und Kramers ‚Aufrufs‘ durchzusetzen. – Anzeichen gibt es: Es könnte sich für emanzipatorische Politik als strategisch fruchtbar erweisen, an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anzuknüpfen und sie zur Grundlage ihrer Politik zu machen, in ersten Schritten. Die gesamte Staatengemeinschaft hat sich auf diese Sustainable Development Goals verständigt und die sehen u.a. eine sich gemeinschaftlich und solidarisch entwickelnde Welt vor, reduzieren Nachhaltigkeit nicht auf die ökologische Dimension, perspektivieren weltweite Überwindung aller Arten von Armut und Einebnung sozialer Ungleichheit und gleichen Gesundheitsschutz, wobei alles mit allem zusammengedacht ist und nichts priorisiert, und alles in einem transformativen Sinne, wie er Wintersteiner sympathisch sein dürfte. – Ob so die „versteinerten Verhältnisse“ zum „Tanzen“ zu zwingen sind, ob man ihnen damit „ihre eigne Melodie vorsingt“ (Marx), wer weiß? Ob dabei weit verbreitete Zukunftsängste in aktives Handeln so umgemünzt werden, das zugleich vom Ziel der Überwindung des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital ausgerichtet ist, wer weiß?
Fazit
Es ist zu wünschen, dass das Buch von Werner Wintersteiner eine breite Leserschaft finden und viel weitergreifendere Diskussionen provozieren wird, als sie hier nur angerissen sind. Abgesehen davon, dass Wintersteiner in imponierender Weise ausgreifend Analysen und Theorieversuche vorstellt, wie denn nun die Situation der Polykrisen mit düsterer Aussicht auf Mehrung zu überwinden wäre, wie er sie diskutiert und abwägt, präsentiert er auch eigene, argumentativ eingeholte Überlegungen, wie die dringliche Aufgabe, die „Welt neu denken lernen“, zu bewältigen ist oder vorerst wäre. Implizit provoziert er damit Fragen nach einer ‚richtigen‘ Praxis und sein Buch bietet sich an, sich in diesem Sinne an seinen Vorstellungen und Vorschlägen abzuarbeiten. Daher ist es auch all jenen Aktivist:innen zu empfehlen, die in emanzipatorischer Absicht auf vereinzelten Problemfeldern intervenieren und selbstredend auch Student:innen der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie und allen, die durch Soziale Arbeit mit den beschriebenen Problemen und damit, wie sie auch und fatal am Menschen wirksam werden, beschäftigt sind.
Rezension von
Arnold Schmieder
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