Paul Helfritzsch: Gefragt durch Andere
Rezensiert von Dr. Martin Schwarz, 29.03.2022

Paul Helfritzsch: Gefragt durch Andere. Über digitale Vernetzung, Wertschöpfung, Pathos & Identität.
transcript
(Bielefeld) 2021.
206 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5472-1.
D: 29,00 EUR,
A: 29,00 EUR,
CH: 35,70 sFr.
Reihe: Edition Moderne Postmoderne.
Thema
Paul Helfritzsch fokussiert mit dem vorliegenden Essayband auf das Phänomen der Andersartigkeit, das seiner Wahrnehmung nach zwischen den Antipoden „ich“ und „wir“ changiert (S. 9) und damit unmittelbar die Identitätsfrage aufwirft, die er aus den klassischen – angesichts gesellschaftspolitischer Probleme zum Teil nicht mehr tragfähigen, weil in ihrer dogmatischen Abstraktion erstarrten – Denkmodellen lösen will. Weil er dabei aber den von Kant thematisierten Zustand des ungesellig Geselligen ebenso ausblendet wie das Angebot Simmels einer Wechselwirkung zwischen diesen beiden Antipoden, wird die Suche Helfritzschs nach dem „Füreinander“ zu einem gewagten Gedankenexperiment. Er sprengt dabei beinahe das Arendt'sche Denken ohne Geländer, weil ihm (noch) die Begründungskraft eines theoretischen Unterbaus fehlt, den die Kritische Theorie allein so nicht liefern kann. Deutlich wird das schon bei der Frage nach dem „wir“, das Helfritzsch mit dem Kollektiv marxistischer Prägung assoziiert. Gleichzeitig tastet er sich suchend an eine Synthese mit der Gleichzeitigkeit ungleicher Kulturräume heran – die Bezüge zu Bernhard Waldenfels sind augenscheinlich. Dessen Arbeit zur „Phänomenologie des Fremden“ (Frankfurt a.M. 2006) wäre hier als wichtiger Anknüpfungspunkt zur Einordnung nennen, da auch Helfritzsch Kultur und Gesellschaft als Komplemente auffasst, die durch den interkulturellen wie interpersonellen Dialog zu einer produktiven Verschmelzung führen. Voraussetzung dafür sind für Helfritzsch vier Bewusstseinsformen, die seinen Essays – einem Kompass gleich – den Weg vorgeben: „Trotz“, „Verausgabung“, „Aufstand“ und „Ungerechtigkeit“ (S. 9). Der Begriff der Resilienz fehlt hingegen, klingt gleichwohl an, wo die Rede von der Ungerechtigkeit ist. Für Helfritzsch sind die destruktiven Kräfte des Kapitalismus dominant, sie überstrahlen die staatliche, gesellschaftliche und soziale Ordnungsvorstellung unserer postmodernen und postmateriellen Welt und werfen erneut die Frage nach der Natur des Menschen auf. Helfritzsch hat keineswegs die Absicht, seine kapitalismuskritischen Leitfragen erschöpfend zu diskutieren – stattdessen setzt er beim Kollektiv „mensch“ an und entwickelt von hier aus seine Gedanken zum „Anderen“, um auf diesem Weg (vielleicht) eine Antwort darauf zu finden, was ein „Füreinander“ heute eigentlich beinhaltet.
Autor
Dr. Paul Helfritzsch, Jg. 1994, wurde 2020 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit der Arbeit „Als Andere unter Anderen – Darstellungen des Füreinander als Weg zur Solidarität“ promoviert (Rezension: https://www.socialnet.de/rezensionen/​27290.php) und ist heute als PostDoc am Institut für Philosophie der Universität Wien tätig. Waren seine Forschungsschwerpunkte in Jena noch die Sozialphilosophie und die (radikale) Demokratietheorie (und daraus abgeleitet: das performative Verhältnis von Versammlung und Politik), widmet er sich in Wien nun der Phänomenologie, dem Existentialismus und (verstärkt) der Poststrukturalistischen Theorie(bildung), wie sein im Anschluss an die Promotion erschienenen Veröffentlichungen anschaulich zeigen – beispielhaft das bei transcript (Bielefeld) erscheinende Zeitschriftenprojekt „Außeruniversitäre Aktion“. Wie zuvor schon in Jena unterrichtet Helfritzsch in Wien in den Bereichen Emotionstheorie und Sozialphilosophie, bietet aber auch Seminare zur Geschlechtergerechtigkeit und zur Widerständigen Bildung an, womit er einen interessanten Brückenschlag aus der Philosophie u.a. zur Pädagogik hin anzeigt. Persönlichen Angaben zufolge ist Helfritzsch (Stand November 2020) Mitglied der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung, der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und der Deutschen Satre Gesellschaft.
Wie die Titelgebung schon andeutet, ist der vorliegende Band in einem gewissen Sinne als Fortsetzung des Dissertationsprojektes zu verstehen, weil er die Suche nach solchen Strukturen und Erscheinungsformen weiterführt, welche die Erweckungstheologie als Nächstenliebe, die Sozialphilosophie (aus der Synthese von Sozialethik und Soziallehre) als Solidarität bzw. (im Rückgriff auf Aristoteles und Augustinus) als Gemeinwohl und die angelsächsische Welt (als Komplementär dazu) als common sence dechiffriert. Dass Erich Fromm hier schon 1932 von einem sozialen Kitt sprach, wäre eine entsprechende Bestätigung. Der Einfluss von Hannah Arendt ist unverkennbar – ihr Denken ohne Geländer ist Versprechen und Ansporn zugleich, wie sich an dem hier vorliegenden Werk sehr gut zeigen lässt.
Entstehungshintergrund
Die Idee bzw. das Konzept des Bandes reicht ausweislich der explikatorischen Ausführungen in der Einleitung bis 2019 und damit in den Zeitraum der Fertigstellung der Dissertation zurück. Die tatsächliche Umsetzung zwischen Januar und Dezember 2020 verdankt sich einer gleich doppelten und dabei gegenseitig verstärkenden, schon existentialistisch zu nennenden, Erfahrung, die den vorliegenden Band in seiner Breite durchdringt und zu einem interessanten Anschauungsobjekt für eine ganze Generation von Nachwuchswissenschaftlern werden lässt. Da ist zum einen die längst zum Alltag geronnene, lebensweltliche Erkenntnis der eigenen prekären Existenz, weil mit dem Ende der Qualifikationsphase in der Regel auch der befristete Arbeitsvertrag bzw. die Förderung des Stipendiengebers endet. Nicht wenige akademische Nachwuchskräfte realisieren nun zum ersten Mal die Wertigkeit der eigenen Ausbildung auf dem sogenannten Arbeitsmarkt, der dank EU-Binnenmarktfreiheit längst das europäische Ausland umfasst. Zum anderen fällt die Entstehungszeit des Essaybandes mit dem Aufkommen der Corona-Pandemie zusammen, die binnen kürzester Zeit nicht nur die vertrauten Tagesabläufe umstürzt, sondern in Form von sich verstärkenden politischen Protestbewegungen gänzlich neue (fragmentierende) Bruchlinien in der Gesellschaft offenbart. In der Konsequenz wurde die für das menschliche Miteinander unerlässliche Kommunikation auf den flüchtigen, mitunter angstbeladenen Moment reduziert und verlagerte sich, gewissermaßen als Ergänzung zur individuellen Vereinsamung im Homeoffice, auf die social media-Kanäle – oder kam gänzlich zum Erliegen. Der Autor nimmt die sich hieraus ergebende, schon lange dräuende und sich nun radikal beschleunigende Digitalisierung der Arbeitswelt als Initiation wahr, das Essay-Projekt in Angriff zu nehmen. In bemerkenswert kurzer Zeit entstehen so fünf Essays, die durch ein Literaturverzeichnis abgerundet werden. Zwar fehlen hier leider erwartbare Klassiker wie Dilthey, Hegel, Husserl, Kant, Simmel oder Wittgenstein, dafür erhält aber die Kritische Theorie umso mehr Raum. Das wirft in der Summe eine Reihe von Fragen auf, da der Autor eingedenk des Entstehungshintergrunds zeigen will, wie das ihn bewegende „Füreinander“ in einer postmodernen, ja postmaterialistischen, Welt konstituiert werden kann. Eine der spannendsten Fragen ist sicherlich die nach der zwischenmenschlichen Kommunikation. Was aber ist mit den (gesellschafts-)politischen Spielregeln, den ordnungspolitischen Weichen- und damit den sich daraus womöglich ergebenden Optimierungsvorstellungen?
Aufbau
Der vorliegende Band umfasst in Summe 203 Seiten, von denen sich die Seiten 9–15 auf die überaus nützliche wie notwendige Einleitung und die Seiten 193–203 auf das Literaturverzeichnis beziehen. Die im Band versammelten fünf Essays sind unterschiedlich gewichtet – und es ist leider nicht ersichtlich, ob sie in der Reihenfolge des Entstehens abgedruckt sind oder ob der Autor die Einzelstücke nicht vielleicht doch in einem parallelen Arbeitsprozess formuliert hat, was immerhin den Werkstatt-Charakter des Gesamtunterfangens erklären würde. Der erste Text – „Durchgefragt zu Anderen. Die Wehrhaftigkeit des Pluralismus“ (S. 17–41) – basiert ausweislich der erläuternden Fußnote auf dem Disputationsvortrag in Jena. Diesem Aufschlag folgt mit dem zweiten Essay eine Befassung mit der Digitalisierung (S. 43–81). Man kann darüber nachdenken, ob dieser zweite Essay hier richtig platziert ist, inhaltlich könnte er auch weiter hinten stehen. Ihm folgt eine Reflexion zur Wertedebatte (S. 83–135), der sich sinnhafterweise der vierte Essay – „Erlittene Subjektivität: Unterwerfung, Beleidigung, Verantwortung“ (S. 137–165) anschließt. Bedenkt man den Aufbau des Bandes, wäre hier als Nächstes die Digitalisierung denkbar – der Band schließt aber mit dem fünften Essay zur „Manifestation der Unterschiede. Oder: Worauf antwortet die Frage nach dem ‚Wir‘“? (S. 167–192).
Inhalt
Paul Helfritzsch stellt in seinem Essayband eine Grundsatzfrage, wenn er das „Andere“ an die Formen (nicht aber an die Natur) des menschlichen Umgangs koppelt und in Anlehnung an Waldenfels darüber nachsinnt, was das „wir“ beinhaltet, wenn es um das Nebeneinander, das Gegeneinander und schließlich das Füreinander geht. Dass sich das „Andere“ und das „ich“ gegenseitig bedingen, ist seit der Leibniz'schen Monadenlehre weniger überraschend. Interessant ist der Zugang, den Helfritzsch wählt, wenn er die Andersheit anhand von Bewusstseinszuständen reflektiert, die er Konzeptionen nennt und die er anhand der phänomenologischen Zuschreibungen „Trotz“, „Verausgabung“, „Aufstand“ und zuletzt „Ungerechtigkeit“ zu charakterisieren sucht. Irritierend ist dabei aber die Gleichsetzung von „wir“ mit dem Gedanken des Kollektivs, das es so in einer individualisierten Gesellschaft und spätestens seit dem Pluralisierungsentwurf eines Ernst Fraenkels eigentlich nicht mehr gibt – zumindest nicht in dem Weltenteil, den man gemeinhin „den Westen“ nennen würde, um es einmal mit Francis Fukuyama zu sagen. Helfritzsch fragt leider nicht danach, was eine (mehrheitlich christlich) geprägte Gesellschaft im 21. Jahrhundert zusammenhält, die auf ihre säkulare Entwicklung stolz ist und gleichzeitig theologische Ritualformen säkularisiert weiterleben lässt. Es bleibt daher offen, wie weit dieses „wir“ für Helfritzsch reicht – da er den kulturalistischen Aspekt zurückstellt und stattdessen kapitalismuskritisch auf das Neutrum „mensch“ verallgemeinert, also den Homo Sapiens, obwohl dieser den Naturzustand überwinden kann, in seiner Fähigkeit zur Individualität anzweifelt, weil durch das Kapital in Unfreiheit gezwungen. Ist es tatsächlich so einfach?
Bezeichnend dafür ist, dass Helfritzsch in der Einleitung zuerst in den Bewusstseinszustand der „Ungerechtigkeit“ einführt, der dann mit den Freiheitszuständen verknüpft wird (nicht mit Berlin, sondern mit Arendt). Ungerechtigkeit ist aber ein zutiefst subjektives Empfinden, ein Gemütszustand, der ohne ethische Grundlage schnell der Beliebigkeit anheimfällt. Zum Glück ist die Ungerechtigkeit bzw. deren Beseitigung nur eine der Triebfedern menschlichen Handelns – der weitaus wirkungsmächtigere Drang nach Wissen (schon in der Schöpfungsgeschichte so angelegt) fehlt bei Helfritzsch allerdings. Woher aber weiß der Mensch um seinen Zustand und seine begrenzte Fähigkeit, dem Abhilfe zu schaffen? Helfritzsch verkürzt diesen Gedankenstrang auf den Neuanfang. Um im Bild zu bleiben: ja, der Mensch kann Neues erschaffen – aber nur, wenn er das Bestehende hinterfragt und dabei die Möglichkeit des eigenen Scheiterns in Kauf zu nehmen bereit ist. Das hieße, so Helfritzsch – nun in Anlehnung an Michel Foucault – dass der Mensch den Mut zur Wahrheit hat. Wie aber soll er sich mangels Wissens reflektieren und vor allem dann selbst erkennen, wenn er auf das Kollektiv reduziert ist? Schade, dass Paul Helfritzsch – dem Format geschuldet – diesen Gedanken nicht weiter ausbaut. Bleiben die drei anderen Bewusstseinszustände: der Trotz ersetzt das Wissen und mündet im Widerstand, weil er dem Menschen wesenseigen ist, zu einem nicht geringen Teil den Überlebenswillen des Menschen konturiert und weil er aus dem (selbstbestimmten) Willen resultiert. Die gewählten Beispiele sind dann aber unpassend: der zitierte Saleh (S. 13) bezieht sich auf den brutalen Bürgerkrieg in Syrien, dessen Hintergründe ausgeblendet bleiben. Die FARC in Kolumbien (ebd.) hat sicherlich nicht im Namen der Gender-Frage gemordet. Oder soll man das im Kern als Rechtfertigung für Gewalt verstehen, wenn es doch um die Bestimmung der Freiheitsformen geht? Wohl eher nicht. Joachim Gauck, früherer Bundespräsident und ausgebildeter Theologe, hatte die Freiheit kaum zufällig an die Verantwortung gekoppelt. Gehen die Bürgerkriegsparteien in Syrien oder Kolumbien etwa verantwortungsvoll mit ihrem Streben nach Freiheit um? Da Helfritzsch den Aspekt der Verantwortung später noch dezidiert aufgreift, konstruiert er hier ziemlich raffiniert das, was man gemeinhin einen Cliffhänger nennt. Schnelle Antworten, dass wird deutlich, will er keine geben!
Von hier aus fällt der Blick auf den ersten Essay, wo die Rede von der Wehrhaftigkeit des Pluralismus ist – woraus erwächst aber die Handlungsnotwendigkeit, sich dem Antisemitismus entgegenzustellen, wenn nicht aus der Verantwortung gegenüber der Geschichte und dem Bewusstsein für die Bürgerrolle in einer Republik? Chantal Mouffe und Ernesto Laclau werden bemüht (S. 17), beide sind durch ihre Auseinandersetzung mit Gramsci bekannt, beide verweisen darauf, dass politische Prozesse veränderlich sind. Was heißt das in Bezug auf die LGBTQI*-Frage, die der Autor mit dem Kampf gegen den Rassismus in seinen verschiedenen Spielarten gleichsetzt? Helfritzsch scheint es eher um einen Versuch zu gehen, Demokratie und Repräsentation voneinander abzugrenzen. Das soziale Geschlecht – oder besser, die Berufung darauf (im Personenstandsrecht angelegt) – markiert für den Autor die neue Frontlinie. Die Rede ist von der Gefahr für das eigenen Leben (S. 18, auf S. 168 erneut), wo es um die Frage der Selbstbestimmung geht. Die Frage danach, wieviel Segregation eine Gesellschaft tragen kann, wenn sie immer neue und immer kleinere Minderheiten unter dem Gleichheitsanspruch subsumiert, wird nicht gestellt. Was ist dann das „Andere“? Carl Schmitt würde wohl sagen: der Feind. Helfritzsch hält dagegen und plädiert beispielsweise auf S. 26 dafür, dass „mensch“ bzw. dass „wir“ auf die Sozialisation in der Gemeinschaft angewiesen sind. Die teleologische Solidarität ist ihm wohl fremd, sie fehlt hier. Stattdessen reduziert er das „wir“ auf die Frage der Sexualität und macht sie zum Gradmesser einer Freiheit, die sich immer noch an den Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft bestimmt – egal, ob „mensch“ nun stolpert oder nicht. Es sind weniger die Ringe an einer Männerhand (S. 33, erneut auf S. 167 f.), die gesellschaftlich zur Kontroverse führen, als vielmehr die Inszenierungen des Androgynen, folgt man beispielsweise den ikonographischen Vorbildern (und Vermarktungsmustern) eines Dawid Bowie, die Helfritzsch offenkundig vor Augen hat. Dementsprechend wirbt er für Akzeptanz, nicht aber für Toleranz. Damit aber reduziert er das „Füreinander“ auf eine apodiktische Forderung, ohne ein Gegenangebot zu machen.
Im zweiten Essay befasst sich Paul Helfritzsch mit den Fragen der Digitalisierung, die er aber nicht als gesellschaftliche Aufgabe des 21. Jahrhunderts und damit als Fortsetzung der Aufklärung begreift, sondern allein anhand der bereits sichtbaren Medieneffekte reflektiert. Wer an die Reichweite von Insta-Influencern und die (ökonomischen) Möglichkeiten von TikTok bzw. Youtube denkt, wird wohl nicht zuerst an Ausbeutung denken. Die Digitalisierung als Weg der Demokratisierung der Öffentlichkeit wäre da schon eher zutreffend, aber dann wäre es eine Frage der Kapitalformen, die hier ausgebeutet werden. Oder ist es eine Ausbeutung durch das Netz an sich, dass zwar vorgibt, „mensch“ zu verbinden, zugleich aber auch Hasssprache und andere kriminelle Inhalte transportiert? Helfritzsch spricht hier vom Überwachungskapitalismus (S. 46) und Verhaltensdaten (S. 50), von Streamingdiensten und pluralen Netzwerken (S. 47). Die Kontrollobsessionen Chinas und anderer wenig demokratischer Staaten blendet er aus. Überspitzt formuliert könnte man hier zu dem Schluss kommen, dass Helfritzsch den liberalen Grundgedanken der Netzcommunity gegen sie wendet, weil sie ökonomisch denkt und handelt. Weiterführende Gedanken wie die zur Transparenz (S. 52), zur Besitzfrage (S. 53), zur Regulierung (S. 55) und zur KI (S. 60) sind angelegt, das Stichwort Sicherheit fehlt gleichwohl – aus gutem Grund, wie sich noch zeigen wird. Es wäre interessant, hier den Befähigungsansatz von Martha Nussbaum einzubringen, wo es um Vertrauensbildung geht. Dieser Essay wäre zudem vielleicht an anderer Stelle besser platziert gewesen, weil er auf Voraussetzungen aufbaut, die sich erst in den beiden folgenden Texten finden.
Der dritte Essay ist den (ökonomischen) Wertvorstellungen an sich geschuldet, der Verweis auf Bourdieu und dessen Kapitalformen fehlt aber (immer noch). Helfritzsch zufolge soll sich „mensch“ der „Prekarität und Unsicherheit“ bemächtigen (S. 84), der er bislang aufgrund seiner Unterdrückung durch das Kapital ausgeliefert war. Diese und ähnliche Ausführungen lassen Émile Zolas „Germinal“ lebendig werden, da die Wertschöpfungskette einseitig und das Humankapital der Unterdrückung durch die eigene Arbeit ausgeliefert bleibt. Die Folge ist die Auslaugung, das Gefühl der Ohnmacht. Kann es in der Konsequenz so etwas wie Gerechtigkeit geben, wenn der Wertekompass allein durch das Kapital bestimmt und das personalisierte Individuum einzig als Konsument definiert ist? Eine solche Frage liefert die erwartbare Antwort gleich mit, weil ihr die Ketten der Unterdrückung immanent sind. Ein „Stolpern“ wie von Helfritzsch projiziert würde mehr voraussetzen! Es vernachlässigt zudem die Fähigkeit des Unterdrückten zur Demokratisierung seines Selbst, indem er sich dem Prozess in Richtung staatlicher bzw. privater Sicherungssysteme entzieht (die so ebenfalls unfrei machen) oder aber sich den Unterdrückern anschließt, indem er selbstständig wird und seinerseits Arbeitsplätze schafft. Helfritzsch beruft bei seinen Überlegungen erneut eine Vertreterin der Kritischen Theorie in den Zeugenstand, wenn er sich auf die bekannte Philosophin und Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser stützt. Schade, dass Helfritzsch hier allein die auf Marx aufbauende ökonomische Wertdebatte führt und in der Folge nicht nur die Tugend-, sondern auch die sie grundierende Seelenlehre ausblendet.
Daher ist der vierte Essay besonders interessant, will Helfritzsch hier nun an den ersten Essay anknüpft und die schon länger dräuende Frage der Verantwortung einbringt. Hatte der Trotz den Funken geweckt, um einmal im Bild zu bleiben, folgt hier nun das Crescendo zum Aufstand. Helfritzsch beruft sich in seinen Gedanken zum Pathos auf Althusser und Butler und führt mit einer Reminiszenz auf Simon de Beauvoir und Jean-Paul Satre ein. Ein Zitat aus dem Kinderbuch „Pu der Bär“ soll die Absurdität der Situation verdeutlichen, da „sie“ es nicht zulassen, dass die Figur des Christopher Robin untätig bleibt. Man könnte natürlich einwenden, dass Christopher sehr wohl nichts tun kann, wenn er das denn wollte – praktischerweise ist er aber das Kind und damit unmündig, weil per Gesetz fremdbestimmt. Folgerichtig wendet sich Helfritzsch der Argumentationsfigur des Zwangs zu und konstruiert dafür auf den S. 142–143 eine Konstellation, die ziemlich wenig mit der seit Hobbes geläufigen Vertragstheorie zu tun hat, geht er doch hier (unter Berufung auf Raymond Geuss) von einer Struktur aus, in der das Subjekt (der Untertan?) nur deshalb dem Gesetz folgt, weil es dazu gezwungen ist. Dass selbst die Gesetze – und natürlich auch diejenigen, die sie im Namen des Volkes veranlassen und durchsetzen – letztlich immer noch dem Gleichheitsgebot unterliegen, muss man schon betonen, da Helfritzsch nach dieser vermeintlichen Konturierung des „Bürgerlichen“ und als Belege für den Zwang, der auf „mensch“ lastet, „Polizeigewalt, Racial Profiling und Rechte bei der Polizei“ (S. 143) anführt. Spätestens hier wird deutlich, dass Helfritzsch sich nur bedingt mit dem spätestens seit Georg Jellinek geführten Drei-Elemente-Diskurs über den Staat und damit dessen Ordnungsfunktionen belastet. Die zitierte Quelle (FN 16 auf S. 143) hinterfragt sogar generell den Nutzen von Sicherheitsbehörden. Der damit verbundene Aufruf, sich der polizeilichen Identifizierung zu entziehen, rührt an einen zentralen Aspekt der Vertragstheorie. Aber nun gut, Helfritzsch belässt es dabei und wendet sich stattdessen der „Unterwerfung unter die Norm“ zu, die er in Anschluss an Didier Eribon und damit einem bekannten Repräsentanten der Queer Studies unter dem Schlagwort der „Beleidigung“ behandelt (S. 144 f.). In Summe wird so verständlicher, wieso Helfritzsch im ersten Essay die Gender-Debatte als Beispiel bemüht. Wenn der Aufstand tatsächlich aus der privaten Sphäre in den öffentlichen Raum getragen werden soll, braucht es Anreize und Symbole – wie beispielsweise den für eine Identitätspolitik äußerst praktischen Gedanken einer Anerkennung immer neuer Minderheiten (da diverse Gesellschaft). Anerkennung heißt schließlich nicht unbedingt Umsetzung. Ein solcher Diskurs lässt sich verhältnismäßig leicht steuern, weil jedes Gegenargument als Verharmlosung oder Leugnung des Anerkennungsgrundes abgelehnt werden kann – keine einfache Voraussetzung für ein „Füreinander“, wie es Helfritzsch vorschwebt.
Mit diesem Gedanken wendet man sich nun dem fünften und letzten Essay zu – so sinnvoll und erhellend die vorgeschaltete Einleitung auch sein mag, eine Zusammenfassung und Ordnung der Gedanken wäre ebenso notwendig gewesen, denn das kann und will der fünfte Text nicht leisten; vielleicht auch, weil Helfritzsch sich hier der Emanzipationsfrage zuwendet und den sozialen Raum als Vermittlungsbasis vorschlägt. Ausgangspunkt ist jedoch die Frage der Privilegien, die es zuvor zu relativieren gilt, und die Klarstellung zur eigenen Person (S. 167) – ohne dass er zugleich über die Notwendigkeit dieser Klarstellung reflektiert. Hier kann nur vermutet werden, ob die Ausführung zur Geschlechtlichkeit und zur Hautfarbe eine ironische Brechung eurozentristischer Argumentationen sein soll. Die zuvor kapitalistischen Strukturen sind nun neoliberal (S. 168), aber auch das ist relativ. Helfritzsch geht es um die Frage, was sich aus einer maskulin gedachten Identitätszuschreibung ergibt, wofür er die damit verwobenen oder besser zugeschriebenen Privilegien auflistet. Bezugsgröße bleibt Judith Butler, Theodor W. Adorno und Simon de Beauvoir sekundieren. Es ist ein sehr persönlicher Text, der hier vorliegt, weil er zunächst immer wieder die Biographie von Helfritzsch berührt, sie umspielt. Dann sind da die wohlgefälligen Herren, die sich ihrer gesellschaftlichen Rolle sicher sind und sich Urteile anmaßen, bei Grundsatzfragen aber neutral bleiben. Da sind die ängstlichen Männer, die den Feminismus allein deshalb bekämpfen, weil sie ihre Privilegien verteidigen (müssen). Und da sind die paternal Elitären, die bewusst Einfluss nehmen. Helfritzsch bedient sich der Kriterien von Almond/​Verba, die Civic-Culture-Studie erweist sich einmal mehr als anschlussfähig. Daraus schlussfolgert Helfritzsch auf die Frage nach der wahren Macht. Die liegt laut Grundgesetz beim Volk, aber das spielt hier nicht einmal als Gedankenfigur keine Rolle. Die gesellschaftlichen Strukturen sind in Wirklichkeit männliche Strukturen, weil sie auf männlichen Rollenmustern und Privilegien aufbauen. Sie erlauben es, jeden Angriff zu diskreditieren, weil sie ihrerseits die Nichtprivilegierten diskreditieren (S. 180). Bis hierher könnte man von einer Sinnsuche sprechen, könnte auf eine Kritik an der maskulinen Identitätspolitik schließen, die es zu identifizieren, im Sinne von Jacques Derrida zu dekonstruieren gilt. Es bleibt bei dem Versuch. Die Bezüge zur AfD und zur Frage, ob die Medienlandschaft generell zu „weiß“ sei, lassen schnell daran zweifeln. Sie bilden vielmehr eine Bruchlinie, die auch der anschließende Bezug auf Frantz Fanon und damit auf die Entkolonialisierungsfrage nicht wirklich überwindet, vielleicht weil Helfritzsch zur Heterotopie wechselt, um daraus auf den Illusionsraum zu schließen (S. 192), den er aber nicht weiter ausführt.
Diskussion
Würde man die Essays als Einzeltexte betrachten – die sie nicht sind und aufgrund der Struktur auch nicht sein wollen – könnte man es bei den bisherigen Bewertungen belassen. Da Paul Helfritzsch den Band aber so angelegt hat, stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Zweck des Unterfangens. Der Autor wählt das klassische Medium Buch, hätte die Inhalte aber auch als Blog publizieren und so womöglich eine größere Reichweite erzielen können. Immerhin spricht er in der Summe wichtige Punkte an, die bis an den innersten Kern der Gesellschaft heranreichen, wenn er – vielleicht zu pauschal (?) – von einer neoliberal-kapitalistischen Welt ausgeht, in der „mensch“ unterdrückt und damit nur vorgeblich frei ist. Da sich Helfritzsch im 5. Essay selbst als Teil dieser kapitalistischen Welt identifiziert, indem er sich als ohne ökonomische Sorgen lebend beschreibt, nimmt er vielen Ausführungen die Ernsthaftigkeit, die sie gleichwohl verdient hätten. Man denke hier nur an die Kämpfe der Gewerkschaften, die über den equal-pay-day auf den gender-gap im Einkommensbereich aufmerksam zu machen.
Helfritzsch formuliert unter den Einschränkungen einer genderbewegten Sprache, was zuweilen zu Missverständnissen führen kann, generell aber auch dazu einlädt, manche Passagen mehrfach zu lesen und auf das eigene Verständnis hin zu überprüfen. Er will keine einfachen Fragen stellen und schon gar keine vorschnellen Antworten geben, das wird gleich zu Beginn deutlich und durch den Werkstatt-Charakter des Werks noch unterstrichen. Eine generelle Kritik an dem Projekt, so spannend es in der Gesamtschau auch sein mag, ist aber der Fokus auf die Kritische Theorie. Helfritzsch hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Füreinander neu zu konstruieren und vernachlässigt darüber Antworten, die mit der Kritischen Theorie offenkundig nicht zu vereinbaren sind. Weil er sich als konfessionslos zu erkennen gibt, darf es das Prinzip der Nächstenliebe nicht geben und ist der soziale Raum, in dem die Sozialisation verortet wird – verhandelbar. Familie hat hier keinen Platz. Das „bürgerliche“ Element wird kritisiert, weil es angeblich obrigkeitshörig ist – eine Betrachtung des Bürgertums und seiner Rolle in der politischen Bewusstseinsbildung scheint hier dringend ratsam. Die fast schon wehmütige Reminiszenz an das marx'sche Kollektiv erscheint widersinnig, wenn sich der Autor trotz prekärer Arbeitsmarktlage als wohlsituiert und damit als außerhalb des Proletariats stehend zu erkennen gibt. Überhaupt verwundert, dass der Autor nicht einmal auf das Glück zu sprechen kommt – dabei ist doch die Eudaimonie seit jeher das höchste und erstrebenswerteste Ziel überhaupt. Helfritzsch ruft dazu auf, die bestehenden Strukturen zu hinterfragen. Er erhebt die Heterotopie und damit die Illusion zum Weg – was an dessen Ende auf den Betrachter wartet, bleibt hingegen offen. Sollte man das nun als Aufforderung zur Selbstprüfung verstehen?
Was also will Helfritzsch mit dem vorliegenden Band erreichen, außer die Zeit zwischen zwei Arbeitsverträgen – in seiner Deutung die Rückkehr in die Unfreiheit – und die pandemiebedingte Isolation (ergo: die im Band fehlende Unsicherheit) im Homeoffice zu überwinden?
Fazit
Wer diesen Band lesen will, muss sich bewusst machen, dass der Autor eine ganze Reihe von klugen und anregenden Denkanstößen gibt, die in einer schwierigen Zeit die häuslichen Grenzen des Homeoffice überwinden und zugleich einige sehr persönliche, fast schon private, Klarstellungen vornehmen sollen. Jeder der Texte ist für sich betrachtet ein gutes Beispiel für das Denken ohne Geländer, wie es Hannah Arendt vorschwebte. Manche der Ausführungen erscheinen gleichwohl kritikwürdig, weil sie alternative Perspektiven ausblenden (die besagte Frage nach der Sicherheit), die Kapitalismuskritik zur alleinigen Richtschnur erheben und die Gender-Debatte als Gelegenheit zur Selbstreflexion verstehen. Ein Beitrag zur Kritischen Theorie ist das nur bedingt, weil die Zielsetzungen der Vernunft und des mündigen Bürgers eindeutig zu kurz kommen, auch wenn der Autor das dialektische Spiel von Sein und Bewusstsein durchweg zur Anwendung bringt. So muss man die Einzeltexte leider als das betrachten, was sie sind: Fingerübungen in einer schwierigen Zeit, die über die vorherige Dissertation hinausreichen und aufzeigen, was sich aus der Suche nach dem Anderen vielleicht einmal ergeben könnte. Dafür aber braucht ein solches Unterfangen mehr Zeit und vor allem Substanz. Die hätte sich Helfritzsch vielleicht nehmen sollen. Er bleibt zu fragmentarisch.
Rezension von
Dr. Martin Schwarz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft
Website
Mailformular
Es gibt 3 Rezensionen von Martin Schwarz.
Zitiervorschlag
Martin Schwarz. Rezension vom 29.03.2022 zu:
Paul Helfritzsch: Gefragt durch Andere. Über digitale Vernetzung, Wertschöpfung, Pathos & Identität. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8376-5472-1.
Reihe: Edition Moderne Postmoderne.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28367.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.