Daniel Kahneman, Olivier Sibony et al.: Noise
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.06.2021

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können. Siedler Verlag (München) 2021. 480 Seiten. ISBN 978-3-8275-0123-3. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 40,49 sFr.
Imago des Zufalls
Im philosophischen und anthropologischen Diskurs werden die unterschiedlichen Daseinsbedingungen beim menschlichen Miteinander meist als Pro- und Contra-Aspekte thematisiert. Es sind situative, gemachte und zufällig entstandene Phänomene, die es gilt, zu kennen und mit ihnen umgehen zu können (Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19459.php). Mit der Situation, dass Ereignisse eintreten, die nicht geplant und nicht gewollt entstanden sind, sondern sich zufällig ereignen, werden Menschen immer wieder konfrontiert. Die Ergebnisse werden positiv oder negativ gewertet, angenommen oder weggeschoben, und in Sprichwörtern und Lebenslehren ausgedrückt. Es geht dabei immer wieder auch um die Ergründung von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit. Die Schriftstellerin Maria Ebner von Eschenbach (1830 – 1916) drückte es so aus: „Zufall ist in Schleier gehüllte Notwendigkeit“. Der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Link denkt darüber nach, wie der Zufall Geschichte schreibt (Jörg Link, Schreckmomente der Menschheit, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/22145.php). Und der Bibliothekar Christian Bachhiesl stellt fest: „Zufall ist unverfügbar“ (Christian Bachhiesl, u.a., Zufall und Wissenschaft, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26177.php).
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Es sind Fragen und Imponderabilien, wie Meinungen entstehen (Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php) und mit Risiken und Krisen umgegangen werden kann (Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungentrifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php), die das individuelle und gesellschaftliche Leben der Menschen berühren. In den wissenschaftlichen, kommunikativen und semantischen Diskurs bringen der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman (2002), der Unternehmensberater Ol ivier Sibony und der Verhaltensökonom Cass R. Sunstein den Begriff „Noise“ ein. Mit der Nachschau, „was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“, diskutieren sie, wie Entscheidungs-, Handlungs- und Urteilsfehler entstehen: „Wenn wir Urteilsfehler verstehen wollen, müssen wir sowohl Bias – die systematische Abweichung, die Verzerrung – als auch Noise – die Zufallsstreuung, das störende Rauschen -verstehen“. Im Lebensvollzug eines jeden Menschen ereignen sich ungewollte, unerwartete und das alltägliche Dasein betreffende und berührende Situationen, die meist nicht durch „Aussitzen“, gleichgültiges oder fatalistisches Ertragen, oder durch Leugnen bewältigt werden können. Sie bedürfen der aktiven Auseinandersetzung, der Zuversicht und der intellektuellen, positiven Lebenseinstellung.
Aufbau und Inhalt
Mit dem gewichtigen Buch „Noise“ legen die Autoren ein Handbuch vor, das man getrost in den individuellen und professionellen Handapparat stellen kann. Es wird – neben der Einleitung und der Zusammenfassung – in sechs Teile gegliedert: Im ersten Teil werden mit der Aufforderung „Noise entdecken“ die Zusammenhänge und Unterschiede verdeutlicht, die sich bei verschiedenen, komplexen Urteilsbildungen ergeben, unterschiedlich wirksam werden, wie ihnen begegnet, und welche alternativen Möglichkeiten ins Feld geführt werden können.
Mit der Bezeichnung „Ein verrauschtes System“ wird ein „Noise-Audit“ eingeführt, in dem die Unterschiede zwischen unerwünschter Streuung und erwünschter Vielfalt verdeutlicht werden und festgestellt wird. „Überall wo Urteile gefällt werden, gibt es Noise, und zwar mehr, als man denkt“. Dabei wird auf die möglicherweise verwirrende und unklare Situation verwiesen, dass „eine einmalige Entscheidung eine wiederkehrende Entscheidung (ist), die nur einmal getroffen wird“.
Im zweiten Teil wird postuliert: „Unser Intellekt ist ein Messinstrument“, und zwar für Urteile und Entscheidungen, die von Fachleuten mit professionellen Aktivitäten getroffen werden, und die für Betroffene unterschiedliche Wirkungen und Konsequenzen haben. Dafür stehen in den sozialen und kommunikativen Prozessen Mess- und Analysemethoden zur Verfügung, die vom Autorenteam vorgestellt werden. Hilfreich und nützlich dabei sind sowohl individuelle als (vor allem) Gruppendiskussionen.
Im dritten Teil wird „Noise in prädiktiven Urteilen“ thematisiert. Vorhersagen, die sich als wissenschaftlich ausgewiesene Verallgemeinerungen und Gesetzmäßigkeiten zeigen, lassen sich als Modelle und Exempel darstellen; sie werden als Regeln und Gewohnheiten benutzt, als „objektive Unwissenheit“ beschrieben, als „normal“, „selbstverständlich“, „natürlich“ verstanden. Was hilft? „Kausales Denken“, das als Selbstdenken gefordert ist (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php).
Im vierten Teil wird die Frage beantwortet: „Wie Noise entsteht“. Es sind etymologische, psychologische empirische Herleitungen, die als Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten daher kommen und im dialogischen Verständnis bewusst und unbewusst angewendet werden. Sie basieren auf dem Persönlichkeitsmodell, das fünf Hauptkategorien beinhaltet: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen, Neurotizismus.
Mit dem fünften Teil wird diskutiert, „Wie sich die Urteilsbildung verbessern lässt“. Zuforderst kommt es darauf an, sich kritisch und wahrhaftig mit Expertenmeinungen und -entscheidungen auseinanderzusetzen. Es geht darum, Bias und Intellekt zu betrachten und bei Denk-, Entscheidungsprozessen, Annahmen, Behauptungen, Vorhersagen und Prognosen zu berücksichtigen: „Wo Urteile getroffen werden, da tritt Rauschen auf. Wir empfehlen die Entscheidungshygiene, weil sie in der Lage ist, dieses Rauschen wirksam zu unterdrücken“.
Der US-amerikanische Richter Marvin E. Frankel (1920 – 2002) ist durch seine intellektuellen, psychologischen und strukturellen Bemühungen bekannt geworden, Noise bei juristischen Strafurteilen zu verringern. „Optimales Noise“, das ist die Beachtung der Menschenwürde, die Kompetenz, Perspektivenwechsel zu vollziehen, kreatives Denken und Handeln zu bilden und zu praktizieren, ein Werte- und Normenbewusstsein zu pflegen und sozial klug zu handeln (Clemens Albrecht, Sozioprudenz, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php).
Diskussion
In der Rezension des Buches des Kognitionspsychologen Daniel Kahnemann: „Thinging, fast and slow“, „Schnelles Denken, langsames Denken“, wird darauf aufmerksam gemacht, dass die zwei wesentlichen Denksysteme, das intuitive, schnelle und das rationale, langsame Denken, nicht auf- oder abwertend verstanden werden dürfen; vielmehr kommt es darauf an, ein Verständnis und Bewusstsein dafür zu entwickeln, in welcher Situation, in welchem Zusammenhang und in welcher kommunikativen Lage Entscheidungen getroffen werden und Intuitionen zustande kommen (2012, www.socialnet.de/rezensionen/17709.php). Mit dem weiterführenden vcNoise-Audit wird ein Leitfaden geliefert, mit dem es gelingen kann, individuell und kollektiv Störeinflüsse im Alltäglichen und in professionellen Zusammenhängen zu reduzieren.
Fazit
„Noise ist ein Problem“. Und zwar im gesellschaftlichen und sozialen Miteinander der Menschen. „Noise ist kein Problem, das auffällt“, weil die Einflüsse und Wirkungen von Bias vielfach unterschätzt werden, und die Fähigkeiten zur aktiven, selbsthinterfragenden Identität bei den Menschen nicht gerade sprießen. Strategien zur Fehlerverringerung und zur Förderung des Urteilsvermögens sind deshalb notwendig. Mit „Debiasing“ kann es gelingen, eine Balance zwischen den eigenen Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten und den sozialen, kollektiven und kooperativen Kompetenzen, Bias in Echtzeit aufzuspüren – nämlich der Einbeziehung eines „Entscheidungsbeobachters“ als Situations- und Lebensberater.
Eine Welt mit weniger Noise, direkt und indirekt, akustisch und achtsam, das wäre ein Weg hin zu einem guten, selbstverantworteten, gleichberechtigten guten Leben. Im Anhang des Handbuchs werden drei Anregungen für ein Noise Audit angeboten. A: „Wie man ein Noise Audit durchführt“, B: „Eine Checkliste für einen Entscheidungsbeobachter“, und C: „Matching-Vorhersagen“. Personen-, Sachregister und Glossar erleichtern die Handhabe des Handbuchs. Es sind vor allem Studierende, Theoretiker und Praktiker in den psychologischen, sozialen und medialen Bereichen, aber auch Politiker und Entscheider, die die Studie zur Kenntnis nehmen sollten!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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