Torsten Joél: Die Anwendung von Intelligenztests im sonderpädagogischen Kontext
Rezensiert von Anke Lechner, 06.10.2021

Torsten Joél: Die Anwendung von Intelligenztests im sonderpädagogischen Kontext. Eine empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 276 Seiten. ISBN 978-3-7799-6399-8. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
Zur Feststellung der Intelligenz in sonderpädagogischen Gutachten werden häufig Intelligenztests mit standardisierten Testverfahren angewandt. Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die Dissertation des Autors Dipl.-Psych. Dr. Torsten Joél, in welcher er in einer empirischen Studie untersucht, unter welchen Arbeitsbedingungen solche Tests innerhalb der sonderpädagogischen Diagnostik angewendet werden, welche Schwierigkeiten bei der Durchführung auftreten können und warum Problematiken entstehen.
Autor
Diplom Psychologe Dr. Torsten Joél ist Lehrbeauftragter und Mitarbeiter der Beratungsstelle Begabung an der Europa-Universität Flensburg im Institut für Sonderpädagogik. Zudem lehrt er die Anwendung und Interpretation von Intelligenz- und Persönlichkeitstests im Rahmen von bundesweit durchgeführten Seminaren.
Entstehungshintergrund
Diese Dissertation scheint die logische Konsequenz der vorangegangenen Arbeit von T. Joél zu sein, welcher durch seine Tätigkeit als Pädagoge und Psychologe in diversen Einrichtungen und in unterschiedlichsten Beratungstätigkeiten Erfahrungen hat. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Verhaltensauffälligkeiten, Intelligenzminderungen und Lernbeeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter. Die Durchführung vieler Intelligenztests und die Ausgestaltung von Seminaren und Fortbildungen zur Intelligenzdiagnostik bilden den Rahmen dieses Buches. Der Autor verknüpft somit seine Praxiserfahrung mit der theoretischen Forschung und untersucht damit empirisch die aus seinen Erkenntnissen und der Theorie gezogenen Annahmen und Rückschlüsse.
Aufbau und Inhalt
1 Einleitung
In der kurzen Einleitung wird die Motivation des Autors zu dieser Arbeit aufgezeigt. Zudem werden seine bisherigen Beobachtungen im Zusammenhang mit standardisierter Intelligenzdiagnostik in der Sonderpädagogik beschrieben.
2 Theoretischer Hintergrund
Der anschließende theoretische Hintergrund behandelt die notwendigen Grundlagen der Intelligenzdiagnostik und stellt diverse Intelligenzmodelle und deren Entstehung dar. In einem kurzen Exkurs thematisiert er die Eugenik, dem eine Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Intelligenz sowie eine Beschreibung, wie Testverfahren eingesetzt werden, folgt. Eine Betrachtung der Arbeit von Sonderpädagog*innen, sowie eine Zusammenführung von bisherigen Forschungsergebnissen tragen dazu bei, den Fokus der Leitfrage der Arbeit richtig zu lenken. Hierzu wird geprüft, welche bekannten Schwierigkeiten im Sinne der Fragestellung im In- sowie auch im Ausland bereits empirisch erforscht sind. Zudem zeigt T. Joél die Anwendungsgebiete sowie Gütekriterien von Intelligenztests auf und stellt verschiedene ausgewählte und standardisierte Verfahren zur Durchführung solcher dar.
3 Forschungsfragen
Der dritte Abschnitt umfasst die klar umrissene Forschungsfrage „ob in der Sonderpädagogik Intelligenztestes unter Bedingungen durchgeführt werden, die die Durchführungs- und Auswertungsobjektivität gefährden und somit die Gefahr falsch ermittelter Testergebnisse mit der daraus resultierenden Gefahr der Stigmatisierung (S. 110).“ Die Fragestellung benötigt eine Reduzierung auf einzelne Aspekte, da die Anwendung von Intelligenztests in der Sonderpädagogik (laut Autor) sonst ein zu umfangreiches Themenfeld ist und damit im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit nicht zu bewältigen wäre. Es werden bereits beschriebene und empirisch bewiesene Problematiken bei der Anwendung von Intelligenztests im sonderpädagogischen Kontext angenommen. Hieraus formuliert der Autor zehn Forschungsannahmen, die der Studie dann als Forschungshypothesen zugrunde liegen.
4 Methoden
Der vierte Teil der Arbeit erläutert die Methoden. Es handelt es sich um ein quantitatives Forschungsdesign. Mit deskriptiven Zugang werden Hinweise auf den Istzustand innerhalb der standardisierten Testverfahren vorgestellt und mit Inferenzstatistik verifizierbare Hypothesen in Form der zehn aufgestellten Forschungsannahmen untersucht. Die Fragestellungen entstanden aus zuvor resultierenden Beobachtungen, Vermutungen und persönlichen Erfahrungen des Autos zu Schwierigkeiten der Intelligenzdiagnostik. Da diese wenig Grundlage für eine empirische Untersuchung bieten, leitete er Fragen aus dem zuvor dargestellten theoretischen Teil der Arbeit sowie den Forschungsannahmen ab und operationalisiert sie damit. Er stellte die entstandenen Fragebögen online und verschickte sie an frühere Seminarteilnehmer*innen seiner Seminare sowie zusätzlich an eine Vergleichs/Kontrollgruppe von Sonderpädagog*innen ohne Vorerfahrungen in Seminaren. Hierbei konnten 1077 beantwortete Fragebögen ausgewertet werden. Aufgrund der Problematik, dass Sonderpädagog*innen bei der Beantwortung der Fragen manche Schwierigkeiten gar nicht als solche werten, ergänzte er die Auswertung durch die Analyse von 248 Intelligenztestformularen. Hierbei wurden Formulare, die im Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs entwickelt wurden, auf deren Korrektheit überprüft.
5 Ergebnisse
Die anschließende Auswertung und Darstellung der Ergebnisse unterteilt sich in die Auswertung der Fragebögen sowie in die Analyse der Testformulare. Bei den Ergebnissen aus der Fragebogenerhebung wird auf die Gesamt-, Versuchs- und Kontrollgruppe kurz eingegangen und die Teilnehmer*innen nach Bundesländern sortiert. Die einzelnen Fragen werden mit deskriptiver Statistik ausgewertet, beschrieben und mittels Balkendiagramm abgebildet. Die Auswertung der Testformulare geschieht ebenfalls unter zu Zuhilfenahme von Kreis- oder Balkendiagrammen. Anschließend erfolgt die Hypothesenprüfung. Die zuvor aufgestellten Grundannahmen sind hierzu in falsifizierbare Hypothesen überführt worden, dienen als Grundlage und damit als Referenz. Der Autor erläutert seine Hypothese und vergleicht diese mit den Ergebnissen der Fragestellung.
6 Interpretation und Diskussion
Das letzte Kapitel des Buches, die Interpretation der Ergebnisse, unterteilt T. Joél in vier Bereiche, die sich in die Auswertung der Fragebögen, die Analyse der Intelligenztestformulare, die eigene Methodenkritik und Einschränkungen in der Untersuchung sowie ein kurzes Fazit gliedern.
Bei der Auswertung der Fragebögen geht T. Joél. auf die Anwendungen von Tests ein, wobei er hier eine Gegenüberstellung von weniger komplexen und eher mehrdimensionalen Tests macht. Der Autor stellt hierzu auch kurz Überlegungen an, in wieweit die Versuchsgruppe die Gesamtheit der Sonderpädagog*innen im Gegensatz zur Kontrollgruppe repräsentiert. Es ist zudem zu erkennen, dass zurückgegriffen. Hierzu stellt T. Joél ebenfalls Mutmaßungen an. Einen weiteren Teil nimmt der Vergleich der Bundesländer ein, hier bestätigt sich beispielsweise die Annahme, „dass Kinder abhängig vom jeweiligen Bundesland unter nicht einheitlichen Bedingungen getestet werden.“ Diese Aussagen werden mittels diverser Erläuterungen ausgeführt. Es wird die Annahme untersucht, dass es einen Zusammenhang zwischen Alter, Geschlecht und der Berufserfahrung gibt und hierbei leichte, erkennbare Tendenzen erläutert. Im letzten Teil stellt der Autor die Ausbildung und somit den Zusammenhang zwischen Bildungserfahrung und dem Ausmaß an erlebten Schwierigkeiten in den Fokus. Im Anschluss an jeden Teilabschnitt resümiert der Autor die Bedeutung der jeweiligen Ergebnisse für die Sonderpädagogik, in dem er die aufgestellten Hypothesen erläutert und in einem kurzen Überblick seine daraus gezogenen Rückschlüsse vergegenwärtigt.
Die Auswertung der Fragebögen fällt demgegenüber recht kurz aus. Die im Vergleich zu früheren Studien aufgefallenen niedrigeren Fehlerquoten werden beschrieben und ebenso aufgeführt, wie einzelne Tests hierbei in ihrer Fehleranfälligkeit Anwendung fanden. Der Autor zieht Schlussfolgerungen, in wieweit es zur Qualitätsverbesserung sinnvoll ist, Spezialisierungen anzustreben. Ebenfalls stellt er Überlegungen an, ob die Konstruktion eines Intelligenztest speziell für den sonderpädagogischen Einsatz denkbar wäre.
Im Abschnitt der Einschränkungen und Kritik beschreibt T. Joél einige weitere, nicht durchführbare Möglichkeiten, z.B. die der Videodokumentation und -auswertung, um verdeckte und von Probanden nicht wahrgenommene Schwierigkeiten in der Testdurchführung zu erkennen. Ebenso überlegt er, inwieweit die Politik Einfluss auf gutachterliche Stellungnahmen hat.
Als Fazit stellt der Autor durch seine empirische Forschung die Nützlichkeit von Intelligenztests nicht infrage, die Interpretation von Testergebnissen wird von ihm, aber mit mehr Respekt und Vorsicht wahrgenommen. Er plädiert zudem für eine einfachere Konstruktion und eventuelle Vereinheitlichung des Regelwerks auch innerhalb von Subtests, um den besonderen Arbeitsbedingungen in der Sonderpädagogik Rechnung zu tragen.
Diskussion
Das vorgestellte Buch bietet dem Lesenden einen wissenschaftlichen Einblick in das Themengebiet der Intelligenzdiagnostik. Der Aufbau des Buches ist sehr klar gegliedert und gibt prägnant das Format der Forschungsarbeit wieder. Es ist gut verständlich und übersichtlich strukturiert. Der Sprachstil ist angemessen. Inhaltlich basiert das Buch auf den Praxiserfahrungen und dem Fachwissen T. Joéls und seiner Verknüpfung mit der empirischen Forschung. Der Verweis auf das vorhandene weiterführende Online-Material zum Buch ist nur auf der Vorderseite des Buchs erkennbar. Auf der Internetseite des Verlages kann man den genutzten Fragebogen und die dazugehörigen Auswertungen einsehen. Aufgrund der Thematik verwendet der Autor Abkürzungen, welche im Verzeichnis aber gut nachvollziehbar sind. Zudem werden im Kontext von Diagnostik, Intelligenztests und Forschung gebräuchliche Ausdrucksweisen genutzt, sodass die Arbeit für Laien eine gewisse Einarbeitungszeit benötigen könnten. Im Zuge der Dissertation wird eine Fokussierung auf die Durchführungs- und Auswertungsobjektivität gelegt. Die in der Forschungsfrage zudem erwähnte Gefahr der daraus resultierenden Stigmatisierung wird wenig thematisiert. In seiner Auswertung beschreibt der Autor übersichtlich seine Resultate, indem er die Ergebnisse erst darstellt und im Anschluss die zuvor aufgestellten Hypothesen überprüft. Mögliche Unschärfen werden vom Autor kurz benannt, sind aber teilweise nicht ausführlicher betrachtet. Die Zusammenfassung und Bedeutung für die Sonderpädagogik geben sinnhaft die Interpretationen des Autors am Ende wieder und verknüpfen die Ergebnisse.
Fazit
Eine empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität von Dipl.-Psych. Dr. Torsten Joél ist die Dissertationsarbeit des Autors. In der empirischen Studie untersucht er, welche Schwierigkeiten bei der Durchführung von Intelligenztests auftreten und warum diese Problematiken entstehen können. Im Online-Begleitmaterial sind die genutzten Fragebögen und die Auswertung der Studie einsehbar, sodass man einen Einblick in das genutzte Material zusätzlich bekommen kann. Die Sinnhaftigkeit dieser Testungen wird hierbei nicht diskutiert. Ebenfalls wird nicht das Konstrukt Intelligenz und auch nicht die psychologische Tätigkeit von Sonderpädagog*innen infrage gestellt, sondern ein Einblick in die Interpretation der Testergebnisse von standardisierten Testverfahren gegeben und Ableitungen daraus gezogen. Aus diesem Grund spricht diese Dissertation möglicherweise hauptsächlich Sonderpädagog*innen und im Arbeitsfeld der Sonderpädagogik tätige, weitere Personen an, welche vor allem mit Intelligenzdiagnostik im sonderpädagogischen Bereich vertraut sind und die weiterführende Literatur, auch zur Vermeidung von möglichen Schwierigkeiten, suchen. Die Resultate der Studie sind hierfür gut erläutert und in vielen Bereichen die Bedeutung der Ergebnisse für die Sonderpädagogik übersichtlich dargestellt. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Arbeit, die ebenso aufgebaut und zu lesen ist.
Rezension von
Anke Lechner
Fachlehrerin Sonderpädagogik Schwerpunkt geistige Entwicklung, staatl. anerkannte Sozialpädagogin, Studentin des weiterbildenden Masterstudiengangs „Kindheits- und Sozialwissenschaften“ mit dem Vertiefungsschwerpunkt „Management und Beratung“ der Hochschule Koblenz
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Zitiervorschlag
Anke Lechner. Rezension vom 06.10.2021 zu:
Torsten Joél: Die Anwendung von Intelligenztests im sonderpädagogischen Kontext. Eine empirische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6399-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28376.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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