Michaela Köttig, Nicole Witte (Hrsg.): Biographie und Kollektivgeschichte
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.08.2023

Michaela Köttig, Nicole Witte (Hrsg.): Biographie und Kollektivgeschichte. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 342 Seiten. ISBN 978-3-7799-6106-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 39,38 sFr.
Thema
Festschriften sind Laudationes, Ehrungen, Erinnerungen und Sammlungen über bedeutsames, bemerkenswertes wissenschaftliches oder sonstiges professionelles Schaffen von Individuen. Sie werden meist von SchülerInnen, KollegInnen und Freunden einer zu ehrenden Person herausgegeben. Nicht selten entstehen und artikulieren sich dabei die Autorinnen und Autoren als zu einer „Schule“ gehörenden Gleichgesinnten. In den Beiträgen wird vielfach zum Ausdruck gebracht, welche eigenen Denkzusammenhänge und Entwicklungsstationen die Schreibenden mit der zu ehrenden Persönlichkeit verbindet. Ist eine Festschrift mehr als Lobhudelei, kann sie Bestandsaufnahme, kritische Bewertung und Weiterentwicklung sein.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Die an der Universität Göttingen lehrende und forschende Soziologin und Wissenschaftlerin für „Quantitative Methoden der Sozialwissenschaften“, Gabriele Rosenthal, ist 1954 geboren. Zu ihrer Emeritierung, 2021, legen die Kommunikationswissenschaftlerin Michaela Köttig und die Methodologin Nicole Witte den Sammelband „Biographie und Kollektivgeschichte“ vor. Die Autorinnen und Autoren fokussieren ihre Beiträge vor allem auf Rosenthals besonderes Augenmerk, wie im nationalen und internationalen, lokalen und globalen, historischen, kulturellen, zivilisatorischen Zusammenhängen sich Macht- und Gewaltausübungen vollziehen, Täter- und Opferbewegungen entstehen, und welche physischen und psychischen Instrumentarien zur Hand und hilfreich sind.
Aufbau und Inhalt
Nach der Einleitung durch das Herausgeberteam beginnen der Soziologe Giorgos Tsiolis von der Universität auf Kreta und die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter-Goethe-Universität, Irini Siouti, mit der Aufzeichnung eines Gesprächs mit Gabriele Rosenthal: „Wenn ich Widerstand merke, dann mache ich erst recht weiter…“. Es sind erhellende und hilfreiche Informationen über das persönliche und professionelle Denken und Handeln der Jubilarin. Die weitere Gliederung der Festschrift wird zeitgeschichtlich geordnet: In die „1980er Jahre“, die „1990er Jahre“, die „2000er Jahre“ und „2010er Jahre“.
Die ungarische Forscherin Julia Vajda thematisiert mit der Aussage einer Holocaust-Überlebenden „Gedanken zur europäischen Identität: Ich muss dieses Grauen überleben, damit eine Überlebende von der Hölle aller Höllen erzählen kann“. Es ist die leibhaftige Schilderung, dass, „wer einmal beginnt zu erzählen, der kommt auf den Geschmack, der spürt die heilende Wirkung, ja, bekommt sogar das Gefühl, sein Leid hätte einen Sinn gehabt“.
Die ebenfalls ungarische Forscherin Éva Kovács informiert mit ihrem Beitrag „Parallele Lesungen“ über Erzählungen von Trauma und sexualisierter Gewalt. Mit der Frage, ob Gewalterfahrungen zum Sprechen gebracht werden können, setzt sie sich mit Fallbeispielen auseinander, wie in lebensgeschichtlichen Erzählungen Narrative der Gewalt deutlich und sagbar werden.
Die Wiener Soziologin Roswitha Breckner informiert mit dem Beitrag in englischer Sprache – „Showing and Seeing Violence and Suffering in Photographs“ das Leid, die Verzweiflung und Ohnmacht von Opfern.
Die Oldenburger Bildungs- und Sozialwissenschaftlerin Martina Schiebel spricht über „Brüchige Gewissheiten“, indem sie sich mit Fallbeispielen damit auseinandersetzt, wie in den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen biographische Erfahrungen „als generationelle Zugehörigkeit und Gemeinschaftung stiftende Prozesse wirken können, die in historische, soziale und familiale Kollektive und Deutungen eingebunden sind und sich in der konkreten Biographiekonstruktion widerspiegeln“.
Die in den 1990er Jahren vorfindbaren, biographischen Erfahrungen deckt die Berliner Sozialarbeiterin Bettina Völter mit dem Begriff „Verfremdungen“ auf, einem Schlüsselbegriff in Rosenthals Werk. Völter zeigt mit dem Forschungsprojekt-Protokoll „Luz que Anda“ die vielfältigen Formen und Verbindungen auf, wie aus Eigenem Fremdes und aus Fremdem Eigenes entstehen kann.
Die Gießener Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Miethe und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Regina Soremski fragen in ihrer Studie nach „Bildungsaufstieg und gesellschaftliche(r) Transformation“. Mit zwei unterschiedlichen Lebens-, Beschäftigungs-, milieu- und zeitbedingten „Karrieren“ wird deutlich, „dass gesellschaftliche Transformationsprozesse einen wesentlichen Auslöser für weiterführende Bildungswege darstellen können“.
Der Soziologe von der koreanischen Universität, Hee-Young Yi, verdeutlicht mit dem englischsprachigen Beitrag „Intersecitional Experiences of Border Crossing – Marriage Migration – Migrant Work and the Transposition of Identity: Focusing on the Reconstruction of a North Korean Woman’s Oral Life Histories“, wie bei Orts-, Kultur- und Mentalitätswechsel zwischen Süd-, Nordkorea und China sich Identitäten verändern.
Michaela Köttig nimmt mit dem Beitrag „Intergenerationale Aushandlung politischer Verortung“ Identitätswechsel und -findung auf und verdeutlicht mit ihrem Forschungsprojekt, wie sich „politische Verortung … über Generationen hinweg entwickelt und verändert“.
Die Sozialarbeiterinnen Hanna Beneker und Regina Rätz berichten über ihre Erfahrungen beim „Lehren und Lernen in der Forschungswerkstatt“, indem sie diese als einen hervorragenden Ort des Studierens, Forschens, der offenen Kommunikation und des Dialogs bei der theoretischen und praktischen Sozialen Arbeit und Pädagogik ausweisen. Die 2000er Jahre waren geprägt vom Nachdenken und von Analysen über intergenerationale Transmissionsstrukturen in der Biographieforschung.
Die Göttinger Sozialwissenschaftlerin Maria Pohn-Lauggas zeigt mit einem Familienforschungsprojekt auf, wie eine eigene Identitätsfindung und ein „Leben im Schatten einer gewaltvollen Familienvergangenheit“ aussieht und bewältigt werden kann.
Der Berliner Sozialpsychologe David Becker spricht über die „Last der Narrative“, indem er sich mit „Trauma, Wir-Bild und Selbstwerdung“ beschäftigt. In Rosenthals Forschungen findet er Parallelen und Kontrapunkte; aber auch: „Von Rosenthal können wir lernen, wie es gelingen kann, Kollektivierungsaspekte von traumatischen Erfahrungen wirklich zu erfassen“.
Der Entwicklungssoziologe Artur Bogner vermisst im soziologischen Diskurs eine umfassende Auseinandersetzung mit „kollektive(r) Gewalt. Am Beispiel der „child soldiers“ in Uganda zeigt er auf, dass „soziale Prozesse und Organisationen, auch solche nichtmilitärischer Art ( ) stets verschiedenartigste Motive und Kräfte (verbinden)“.
Nicole Witte bringt zum Ausdruck, wie das Unsagbare ausgedrückt werden kann, als „rekonstruktive Auswertung von Zeichnungen“.
Die 2010er Jahre sind global bestimmt von Fluchterfahrungen und -migration. Die Göttinger Sozialwissenschaftler Johannes Becker, Hendrik Hinrichsen und Anne Worm bringen „Fluchtmigration von Syrien nach Jordanien im familiengeschichtlichen und regionalhistorischen Kontext“ zur Sprache. Am Beispiel der Lebens- und Fluchtgeschichte eines jungen Syrers wird deutlich, welche lebensweltliche und lebensrettende Bedeutung transnationale und translokale Netzwerke haben.
Die Frankfurter Expertin für traumasensible Soziale Arbeit, Ute Zillig, analysiert „biographische Fallrekonstruktionen als verstehende(n) Analysezugang zum Phänomen multiple Persönlichkeit“. Sie nennt Forschungsergebnisse und diskutiert, wie „im Sinne eines prozessualen Verständnisses von Traumatisierungen … neben der Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen einer multiplen Persönlichkeit der Blick insbesondere auch auf bestehende Möglichkeiten der Traumabearbeitung im biographischen Verlauf gerichtet“ werden kann.
Der brasilianische Soziologe Hermillo Santos greift mit dem englischsprachigen Text – „On Relevance and Experiance“ – die vom österreichischen Soziologen begründete „phänomenologische“ (intersubjektive), auch von Gabriele Rosenthal ausgeübte und weiterentwickelte Soziologie auf.
Die Bielefelder Sozialanthropologin und Ethnologin Johanna Pfaff-Czarnecka beschließt mit dem Beitrag „Biographische Navigation durch kollektive Konstellationen“ den Sammelband. Es sind die existentiellen Fragen nach „Zugehörigkeit“ und „Zusammengehörigkeit“, die Interdependenzen zum Vorschein und zu einer humanen Handhabung bringen.
Diskussion
Es ist das Verstehen- und Erklären-Wollen der sozialen Bedingungen und Folgen kollektiven Denkens und Handelns, und zwar strigent und lax. Der familien-, Bindungs- und Zugehörigkeitsbezug, wie ihn die Soziologin Gabriele Rosenthal für ihre Forschungsarbeiten zugrunde legt, mündet in den An- und Herausforderungen, nach Wegen zu suchen, wie Anlässe und Auswirkungen von kollektiver, die Menschenwürde missachtende Macht- und Gewaltausübung verhindert werden kann. Biographische Forschungen sind Bildungs- und Aufklärungsanlässe (Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11821.php). Es sind die interdisziplinären, fächerübergreifenden, wissenschaftlichen Initiativen, die als Netzwerke gefordert sind.
Fazit
Wenn eine Festschrift zum Handbuch wird, ist mehr entstanden als ein Ehrenband. Die Beiträge im Sammelband „Biographie und Kulturgeschichte“ reichen von Identitätssuchen bis hin zu kulturellen, interkulturellen und globalen Menschheitsfragen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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