Pavel Brunssen: Antisemitismus in Fußball-Fankulturen
Rezensiert von Jördis Spengler, 20.10.2021

Pavel Brunssen: Antisemitismus in Fußball-Fankulturen. Der Fall RB Leipzig. Mit einem Vorwort von Andrei S. Markovits. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 180 Seiten. ISBN 978-3-7799-6491-9. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Das vorliegende Werk analysiert die Kritik, welche sich gegen den deutschen Fußballverein RB Leipzig richtet aus antisemitismuskritischer Sicht. Seit seiner Gründung steht kein anderer Verein so sehr in der Kritik anderer Fanszenen wie der von RedBull gesponserte Verein. Mit Brandmarkungen wie „unauthentisch“, „traditionslos“ und „kommerziell“ äußert vor allem die Ultra-Szene ihre Abneigung gegen den RB Leipzig. Es kommt zu Schmähsongs, Angriffen, Protestmärschen und Fangesängen. Brunssen bearbeitet in dieser empirischen Studie die tief liegende Dimension dieses lustvoll besetzten geteilten Hasses (Brunssen, 2021, S. 54). Das Werk versteht sich als Fallstudie über die Ultra-Fankultur, geht aber in der Reflexion weit über den Fußballkontext hinaus.
Autor
Pavel Brunssen promoviert am Department of Germanic Languages and Literatures der University of Michigan. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Antisemitismus, Antiziganismus und Fußballfankulturen. Brussen war weiterhin von 2012 bis 2017 Herausgeber und Chefredakteur des „Transparent“ Magazins, welches sich mit Fußball und Fankultur beschäftigte. Seit März 2021 ist er Referent beim Zentralrat deutscher Sinti und Roma.
Aufbau und Inhalt
Das Werk strukturiert sich in 14 Kapiteln entlang der zentralen Fragestellung, wie die Kritik am RB Leipzig als antisemitische Ressentimentkommunikation gedeutet werden kann. Brunssen beginnt sein Werk mit einer Einführung in das zu untersuchende Feld, den RB Leipzig, seine investorenbasierte Entstehungsgeschichte sowie ein Umriss männlicher Fankultur der Ultras. Daraus leitet er in die aus Kreisen von Fußballfans geäußerte Kritik gegen den Verein über. Jene Kritik wird anschließend aufbauend auf der Theorie der Ressentimentkommunikation der Soziologin Juljana Ranc hinsichtlich antisemitischer Argumentationsstrukturen analysiert (vgl. ebd., S. 16). In Anlehnung an die Sozialpädagogin Astrid Messerschmidt und ihren Überlegungen zu rassismuskritischen Perspektiven (ebd., S. 20) plädiert er anschließend für eine antisemitismuskritische Perspektive, welche den Blick weg von der Intention des Gesagten hin zu den Tiefendimensionen antisemitischen Denkens und Fühlens leitet. Somit könne der Antisemitismus als eine Weltanschauung welche „fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern“(Adorno [1959] zitiert nach Brunssen 2021, S. 19) gegenüber den offensichtlich distanzierenden „Antisemitismus der Anderen“ (ebd., S. 21) als der Demokratie Inliegendes heraus kenntlich gemacht werden. Brunssen zeigt auf, wie er mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse von einer großen Zahl an unterschiedlichen Quellen wie Fanzine-Beiträge, Videos, einer Musikanalyse eines Anti-RB-Songs und einer tiefenhermeneutischen Diskussionsauswertung der Frage nachgeht, wie sich antisemitische Narrative in der Kritik an RB Leipzig wiederfinden.
Nach der Einführung ins Feld befasst sich das zweite Kapitel mit der Unzulänglichkeit des Begriffs des strukturellen Antisemitismus in Bezug auf die Kritik an RB Leipzig. Wenn struktureller Antisemitismus sich als Ideologie, welche Grundstrukturen antisemitischen Denkens ohne feindliche Einstellung gegen Juden und Jüdinnen definiere, bestehe die Frage nach einem nicht-strukturellen Antisemitismus. Dieser laufe Gefahr der Suggestion, er müsse doch etwas mit Juden und Jüdinnen zu haben. Im dritten Kapitel, welches die aktuellen Formen und Ausprägungen von Antisemitismus im deutschen Männerfußball definiert, zeigt Brunssen sowohl tradierte Formen des Antisemitismus wie der rechtsextreme und klassische Antisemitismus (vgl. ebd., S. 40 ff), sowie sekundären Antisemitismus und Antisemitismus gegen Makkabi-Vereine auf. Diese Einordnung lässt den Autor zu dem Schluss kommen, dass keine der vorhandenen Kategorien ein hinreichendes Deutungsmuster in Bezug auf das Phänomen RB Leipzig darstellt. Er argumentiert, dass gerade durch die scheinbare Abwesenheit des bekannten Antisemitismus eine Gelegenheitsstruktur zum Äußern antisemitischen Denkens und Fühlens geschaffen wird, welche sich des Verdachts auf gruppebezogene Menschenfeindlichkeit scheinbar entziehe.
In insgesamt 14 aufeinander aufbauenden Kapiteln erläutert Brunssen gängige Formen des Antisemitismus im Deutschen Männerfußball, beleuchtet die kollektive Emotionsausübung der Fanpraktiken und ihren lustvollen Gehalt. In Kapitel sechs wird anhand von Selbstbildern und Statements die prinzipielle Andersartigkeit des RB als Antithese zu dem eigenen Ideal anderer Vereinen erklärt. Anschließend wird entlang der Topoi „Tradition-Moderne“, „Lokalismus-Globalismus“, „Kommerzialisierung – Authentizität“ spezifisch analysiert, inwiefern die Ablehnung des RB Leipzig sich von anderen als kommerziell gesehenen Vereinen wie dem VfL Wolfsburg entlang der oben genannten Topoi unterscheidet. Weitergehend erläutert er, wie der RB somit zum „anderen unter den anderen“ Vereinen und somit durch seine Existenz per se abgelehnt wird. Der Autor argumentiert, dass Kommerzialisierung und Kommodifizierung des Fußballs stellvertretend auf den RB Leipzig übertragen würden, der hierbei als imaginierte Personifikation des Verfalls, der Übernahme und des Verlusts der Authentizität des Fußballs steht. In Kapitel 10 widmet sich Brunssen der Analyse von historisch besetzten Metaphern, wie das Bild der Ratte und den Implikationsketten, welche im Zusammenhang mit RB Leipzig genutzt werden. Das zwölfte Kapitel stellt einen Exkurs in die Geschlechterforschung dar und diskutiert intersektionalen Verbindungen von Männlichkeitskonstruktionen, Sexismus und Antisemitismus. Diese werden in Bezug zu der Kapitel 7 analysierten „Figur des Dritten“ und antisemitischer Frauenbilder wie der „juive Fatale“ gesetzt (ebd., S. 140). Abschließend beleuchtet das Werk das Selbstbild der Fanszene des RB Leipzig und wie sich dieses in Relation zur und als Reaktion auf die Vorwürfe der erfahrenen Kritik und entlang gemeinsamer Parameter wie „Authentizität“ entsteht. Schlussendlich resümiert Brunssen während der Abneigung gegen den RB Leipzig zur Tradition erhoben werden würde, dem Verein selbst jedoch eben jene nicht zugestanden wird (vgl. ebd., S. 162).
Diskussion
Brunssens innovativer analytischer Ansatz eröffnet neue Perspektiven auf Phänomene von Ressentiments und Antisemitismus. Das Werk überzeugt vor allem durch seine intensive Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an Material und dem analytischen Potenzial über die Fußballfanszene hinaus. Das umfangreiche Material von Fanaktionen, Stellungnahmen, Spielbesuchen und einer tiefenhermeneutisch ausgewerteten Gruppendiskussion wurde nach dem Prinzip maximaler Varianz ausgewählt. Darauf entfaltet Brunssen eine präzise Analyse für die modernen Formen des Antisemitismus, wie er sich in der postnazistischen Dominanzgesellschaft (vgl. ebd., S. 157) niederschlägt. Es gelingt ein umfassendes Bild der Spezifik der Kritik an RB Leipzig zu zeichnen. Teil eben jener ist hierbei die Herausarbeitung der Bedeutsamkeit von antisemitisch besetzten Metaphern vor dem Hintergrund eines kulturellen Gedächtnisses. So bearbeitet, wird deutlich, wie die Anklage des Kommerzes und die vermeintliche Kapitalismuskritik welche gegen RB Leipzig erhoben wird, sich antisemitischer Denk- und Fühlmuster bedient. Hierin liegt vor allem ein Plädoyer gegen die Reduzierung von Antisemitismus auf tradierte Vorstellungen über die Shoah und als Ausdruck von Diskriminierung und Gewalt gegen Juden und Jüdinnen. Dabei schließt Brunssen an jenes Konzept an, welches die Shoah Überlebenden Imre Kertesz und Ruth Klüger als „Auschwitz Kitsch“ bezeichneten.
In seinem 1998 erschienen Artikel schrieb Kertesz hierzu:
“I would also use the term kitsch to describe those works where Auschwitz is regarded as simply a matter concerning Germans and Jews, and thereby reduced to something like the fatal incompatibility of two groups[.] […] [W]hen Auschwitz is not seen as a universal experience, but reduced to whatever immediately ‘hits the eye’.” (Kertesz, [1998] 2001, S. 270).
Brunssen gelingt es somit zu einer Reflexion über die tiefere Dimension antisemitischer Denk- und Argumentationsstrukturen anzuregen. Seine vielseitige Analyse der mehrschichtigen Kritik gegen einen Fußballverein welcher wegen seines globalen Sponsors der Legitimation enthoben wird, setzt genau an jenen unterschwelligen Tendenzen des Nachlebens des Antisemitismus in der Demokratie an.
Fazit
Durch den Usus der antisemitismuskritischen Perspektive als Analyseinstrument stellt Brunnsen die präzise Frage nach der Eigenartigkeit des Antisemitismus. Somit können vereinfachte Pädagogisierungen vermieden werden und es entsteht die Möglichkeit einer intensiven Auseinandersetzung darüber, was eigentlich das spezifisch Antisemitische sei. Das Buch leistet somit einen umgreifenden Beitrag zu dem Fußball, wie zur Antisemitismus- Forschung und ermöglicht es auch in weiteren Bereichen die tiefliegenden Verbindungen antisemitischer Ressentiments zu erkennen. Des Weiteren bietet es ein analytisches Instrument um die Ressentiment besetzte Kapitalismuskritik differenziert zu betrachten.
Die Stärke von Brunssens Buch liegt vor allem darin, dass es durch seine Analyse ein Lehrbuch über modernen Antisemitismus darstellt und somit weiter über das Feld von Fußball heraus anwendbar und anschlussfähig ist.
Literatur
Brunssen, Pavel (2021): Antisemitismus in Fußball-Fankulturen. Der Fall RB Leipzig,1 Auflage Weinheim Basel, Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz
Kertész, Imre and MacKay, Jonh (2001): "Who Owns Auschwitz?" The Yale Journal of Criticism, Ausgabe 14,S. 267-272.
Rezension von
Jördis Spengler
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