Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hrsg.): Klassenreise
Rezensiert von Angelika Neubäcker, 14.06.2021
Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hrsg.): Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. Verlag des ÖGB GmbH (Wien) 2020. 203 Seiten. ISBN 978-3-99046-429-8. D: 19,90 EUR, A: 19,90 EUR.
Thema
„Klassenreise“ bedeutet im vorliegenden Buch das Verlassen der eigenen sozialen Klasse in eine andere, gemeinhin als „höher“ bezeichnete. Im Zentrum stehen die Prägungen der eigenen sozialen Herkunft für das ganze Leben.
Autorinnen
Betina Aumair und Brigitte Theißl haben neben anderen Studienabschlüssen gemeinsam in Wien Gender Studies studiert und sind u.a. in der Erwachsenenbildung tätig. Ihre Arbeit ist geprägt vom Einsatz für Feminismus und gegen Klassismus.
Entstehungshintergrund
In ihrer beruflichen Tätigkeit erkannten die Autorinnen einen erheblichen Bedarf von Menschen, über eigene Erfahrungen mit dem (gelungenen) „Bildungsaufstieg“ zu erzählen. Daraus entstand die Idee, ein Buch mit entsprechenden Porträts zu schreiben.
Aufbau
- „Sich die Welt erkämpfen – Arbeiter*innenkind sein“ Ein Vorwort von Natascha Strobl
- Einleitung: Von Klasse und Klassismus - Das Erzählen über sich selbst
- Klassenreisen: Elf Proträts
- Was Klassenreisen sichtbar machen – eine Nachbetrachtung
Inhalt
Als wesentliches Motiv für das Schreiben dieses Buches nennen die Autorinnen in der Einleitung den Wunsch, dass Leser*innen ihre eigenen Geschichten in den Geschichten anderer wiedererkennen. Sie stellen klar, dass es ihnen nicht um eine Anleitung geht, wie der soziale Aufstieg zu schaffen ist, sondern im Gegenteil um eine Kritik an der Klassengesellschaft, um das Entlarven des neoliberalen Aufstiegsmythos. Belege für Klassenunterschiede werden angeführt, und Klassismus wird als „eine Unterdrückungs- und Diskriminierungsform aufgrund der sozialen Herkunft oder der Klassenzugehörigkeit“ (S. 21) beschrieben.
„Klassenreisen: Elf Porträts“ ist die Überschrift des etwa 150-seitigen Hauptteils des Buches. Vorgestellt werden elf „Klassengereiste“ unterschiedlichen Alters, geboren zwischen 1942 und 1993. Acht Frauen und drei Männer kommen zu Wort. Alle sind überwiegend in Vater-Mutter-Kind(er)-Familien aufgewachsen, drei mit alleinerziehenden Müttern, eine davon vor allem in Heimen. Überwiegend sind sie nach der (in Österreich vierjährigen) Volksschule mehr oder weniger zufällig ans Gymnasium übergetreten um anschließend direkt oder nach einer beruflichen Ausbildung an einer Hochschule zu studieren. Alle haben einen, z.T. auch mehrere Hochschulausbildungen erfolgreich abgeschlossen. Beruflich sind bzw. waren die meisten im sozialen, sozialwissenschaftlichen, publizistischen und im Erwachsenenbildungsbereich tätig, eine ist freischaffende Künstlerin.
Als Überschriften haben die Autorinnen jeweils ein hervorzuhebendes Zitat aus dem Interview gewählt. Z. B. „Die Arbeiterklasse als Herkunftsort habe ich immer gespürt“ oder „Das Gefühl, in zwei Welten zu leben“. Darauf folgt Name, Geburtsort, Studium und berufliche Tätigkeit in jeweils zwei kurzen Sätzen. Die folgenden, jeweils um die 15 Seiten umfassenden Porträts sind auf der Basis von ausführlichen Interviews entstanden und in der Ich-Form geschrieben, um möglichst nahe an der gesprochenen Sprache zu bleiben.
Am Anfang der Porträts stehen jeweils Geburtsjahr und Geburtsort sowie ausführliche Schilderungen der örtlichen, beruflichen und finanziellen Familiensituation der Erzähler*innen und meist erste Erfahrungen mit den Bildungseinrichtungen Kindergarten und Volksschule. Auch die Rolle von Büchern und Lesen in der Herkunftsfamilie wird thematisiert. Ggf. wird auch der Einfluss von Geschwistern, Großeltern und anderen nahen Angehörigen erwähnt. Die Erzähler*innen schildern jeweils den Zeitpunkt und die Art der Wahrnehmung unterschiedlicher Klassenzugehörigkeiten verbunden mit dem Gefühl des Nicht-Dazugehörens und der Scham, das sie meist ab dem Verlassen des in der Familie üblichen Bildungswegs begleitet. Mehrfach wird berichtet, mit welchen finanziellen Anstrengungen z.B. die Teilnahme an Klassenfahrten verbunden war, und wie schwierig es war, Kontakte oder Freundschaften im neuen Milieu zu finden.
Den Übergang von der Schule zum Studium beschreiben die Betroffenen meist als besondere Herausforderung, weil sie sich als erste ihrer Familien besonders fremd in der neuen, akademischen Welt fühlen, auf keine Erfahrungen und keinen Rat von Eltern, Geschwistern, anderen Verwandten zurückgreifen können, auch nicht bei der Wahl der Studienfächer. Meist haben sie auch noch Jobs, um ihr Studium zumindest zum Teil selbst finanzieren zu können. Einige sind (hochschul-)politisch aktiv und berichten, dass selbst in linken politschen Gruppen die soziale Herkunft nicht thematisiert wird. Bei der Berufswahl spüren manche das Fehlen förderlicher „Netzwerke“ schmerzlich.
Beim heutigen Blick auf ihre Herkunftsfamilie schildern die meisten Porträtierten, dass ihre Eltern stolz auf das sind, was sie erreicht haben, manche, dass ihren Geschwistern der Klassenwechsel nicht gelungen ist, diese aber mehr Geld verdienen. Zum Teil ist der Kontakt abgebrochen, oft reduziert.
Alle berichten, dass sie sich als „Klassenreisende“ ihrer neuen Klasse nicht oder zumindest nicht völlig zugehörig fühlen, ihrer Herkunftsklasse aber nicht mehr, sprechen z.B. von „Zwischenposition“, „Vakuumposition“ „Zwischenmensch sein“ oder „Zwischenklasse“. Einige fühlen sich „doppelt anders“ bzw. „doppelt ausgegrenzt“, wenn zu ihrer Herkunft aus einer anderen sozialen Klasse noch das „anders sein“ durch Lesbisch sein, einen Migrationshintergrund oder eine andere Hautfarbe haben, hinzukommt. Das Spektrum reicht von „…bin ich meiner Herkunft viel näher als dem, was eigentlich aufgrund meiner Bildungsbiografie mein Status sein könnte“ (Karin M., S. 94) bis zu „man riecht drei Kilometer gegen den Wind, dass ich eine Akademikerin bin“ (Julischka Stengele, S. 170).
Die Frage, ob es wichtig sei, die eigene soziale Herkunft zu thematisieren, wird durchgängig bejaht. Alle, die sich zu dieser Frage äußern, halten es für wichtig, ihre Scham über die eigene Herkunft zu überwinden und durch Darüberreden zum Widerstand gegen Klassismus beizutragen.
In ihrer 20-seitigen „Nachbetrachtung“ zeigen die Autorinnen gemeinsame Aspekte auf, die sich wie ein „roter Faden“ durch die elf sehr individuellen und unterschiedlichen Geschichten zieht. Bildung, Sprache, Geschlecht und die soziale Scham sind beständige Kennzeichen auf dem Weg von Klassenreisenden.
Diskussion
Die elf Geschichten in „Klassenreisen“ erfüllen den Anspruch der Autorinnen, Effekte von Klassismus sichtbar zu machen, die in wissenschaftlichen Analysen und Statistiken nicht vermittelt werden können. Auch wenn den Interviews erkennbar eine gewisse Struktur zugrundeliegt, haben die Erzähler*innen viel Raum, auf das einzugehen, was ihnen wichtig ist, was ihre besondere Biografie ausmacht. Dadurch sind elf sehr unterschiedliche Porträts entstanden, die sich geradezu spannend lesen. Jede*r formuliert das Gefühl des „Nicht ganz zur neuen Klasse-Gehörens“ auf persönliche Weise und unterschiedlich akzentuiert. Mehrmals finden sich Bezüge zu Michel Foucault und Pierre Bourdieu, z.B. „Ich habe ein Faible für Boudieu entwickelt… Und ab dem Zeitpunkt konnte ich auch besser darüber also über meine Herkunft reden.“ (Manuela Wade,S. 115), sowie zu Didier Eribon, der „auch…das Gefühl beschreibt von: Du gehörst nicht hin, wo du bist, aber du gehörst auch nicht mehr dorthin, wo du herkommst. Du bist also in transition.“ (Barbara Blaha, S. 68).Die Ermutigung, die von solchen Texten für das eigene „coming out“ der Erzähler*innen ausgeht, wird spürbar. Besonders beeindruckend beschreibt Margarte Berger eine Erfahrung: Ein Priester und Universitätsprofessor äußert bei einem Festessen seine Unsicherheit im Umgang mit dem vielen Besteck, denn er sei „einfacher Leute Kind“. „Es so benannt zu bekommen und dann auch noch dazu zu stehen, das war für mich damals ziehmlich wichtig.“ (S. 129)
Die „Nachbetrachtungen“ enthalten viele weiterführende Aspekte, Fakten und Hinweise, die allerdings wenig strukturiert wirken.
Fazit
„Klassenreisen“ ist ein unbedingt empfehlenswertes Buch nicht nur für Betroffene, für die es in erster Linie geschrieben wurde. Fakten und Analysen zur Bedeutung der sozialen Herkunft, die in Vorwort, Einleitung und Nachbetrachtung dargelegt werden, werden in den Porträts mit Leben gefüllt und machen Leser*innen nachdenklich und betroffen.
Rezension von
Angelika Neubäcker
Diplompädagogin, Lehrerin und Beratungsrektorin im Ruhestand
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Zitiervorschlag
Angelika Neubäcker. Rezension vom 14.06.2021 zu:
Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hrsg.): Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. Verlag des ÖGB GmbH
(Wien) 2020.
ISBN 978-3-99046-429-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28385.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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