Jan-Werner Müller, Michael Bischoff: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit
Rezensiert von Peter Flick, 24.06.2021
Jan-Werner Müller, Michael Bischoff: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie? Suhrkamp Verlag (Berlin) 2021. 240 Seiten. ISBN 978-3-518-42995-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Thema
In seinem neuen Buch interpretiert Jan-Werner Müller drei zentrale Elemente der Demokratie – Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit – als Orientierungspunkte für notwendige demokratische Experimente, die die bestehenden Formen einer repräsentativen Demokratie weiterentwickeln. Es genügt in seinen Augen nicht, gegenüber den antidemokratischen Kritikern auf einer Verteidigung des Status quo zu beharren. Im Anschluss an Claude Lefort betont er den performativen Charakter einer demokratischen Politik, die für die unentdeckten Potenziale und Möglichkeiten der Demokratie sensibel bleibt.
In einem zweiten Schritt wendet sich der Autor zwei demokratischen Akteuren zu, die für ihn den Kern einer „kritischen Infrastruktur der Demokratie“ (Müller) darstellen: das Parteiensystem und die mediale Öffentlichkeit. Das Misstrauen gegenüber den Parteien liegt für Müller auch heute wieder wie ein Schatten über der repräsentativen Demokratie. Während Liberale in einer Art „Demophobie“ (Müller) die Unvernunft der Wählerschaft beklagten, denen angeblich jede Vorstellung von wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen abgeht, träumt man in den libertären Milieus von einer „Hyperdemokratie ohne Parteien“ (Beppo Grillo), in denen Politikerinnen und Politiker über soziale Medien direkt mit ihren Anhängern verbunden sind.
Jan-Werner Müller will mit seinem neuen Buch deutlich machen, dass autonome, rechenschaftspflichtige Parteien heute immer noch die beste Möglichkeit bieten, individuelle Rechte zu verwirklichen und über unterschiedlichen Versionen des Allgemeinwohls produktiv zu streiten. Dazu macht der Autor Vorschläge, wie der gesetzliche Rahmen neu gestaltet werden muss, damit Parteien und Medien wieder besser als autonome Vermittler zwischen der„kommunikativen Macht“ (Hannah Arendt) einer räsonierenden Öffentlichkeit und den parlamentarischen Institutionen fungieren können.
Autor und Entstehungshintergrund
Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der an der Princeton University lehrt, ist derzeit am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ an der Humboldt-Universität und der Freien Universität Berlin tätig. Die jüngste Veröffentlichung des Jan-Werner Müllers fügt sich ein in die Reihe seiner bisherigen Arbeiten zur Demokratietheorie.Zuletzt erschienen im Jahr 2016 der Essayband „Was ist Populismus?“ und 2019 sein Buch „Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus“, Berlin 2019. Dort plädierte Müller für einen an Judith Shklar angelehnten Sozialliberalismus, der Antidiskriminierungspolitik mit dem Kampf gegen die wachsende ökonomische und soziale Ungleichheit verbindet, statt beides unproduktiv gegeneinander auszuspielen.
Aufbau und Inhalt
Vorwort
Darin erläutert Müller die Intention seines Buches. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet ein Zitat aus Reinhart Kosellecks Beitrag zum Historischen Lexikon der „Geschichtlichen Grundbegriffen“ (1982), der den ursprünglichen Wortsinn des altgriechische Begriffs „krisis“ beschrieben hat: als „Augenblick, in dem Entscheidendes geschieht: Ein Patient stirbt oder erholt sich, ein Angeklagter wird verurteilt oder freigesprochen.“ (S. 8). Die Wahl eines offensichtlich ungeeigneten Kandidaten ins höchste Staatsamt – von Trump über Bolsenaro bis Modi – seien so gesehen, gewiss katastrophale Entscheidungen mit weitreichenden Folgen, bedeuteten aber noch lange keine „krisis“, die vorab über Leben und Tod einer Demokratie entscheidet (vgl. S. 9). Solange also das Totenglöckchen für die repräsentative Demokratie noch nicht geläutet wird, ist noch Zeit über Vorschläge für eine Wiederbelebung der repräsentativen Demokratie und eine demokratische Konfliktaustragung nachzudenken.
Vorgetäuschte Demokratie: Jeder hat seine Gründe
Im ersten Kapitel geht es zunächst um die Analyse rechtspopulistischer Strategien und Regierungstechniken. Sie bilden die kritische Folie, um in den Folgekapiteln die Spielräume und Grenzen einer demokratischen Konfliktbearbeitung auszuloten. Darin macht Müller klar, dass liberale Reaktionen auf den Populismus, die die Schuld gerne bei den „verführbaren“ Bürgerinnen und Bürgern suchen, zu kurzatmig sind.Dass selbst einer der weltweit einflussreichsten Sozialphilosophen wie Charles Tylor unlängst von einer „Verblödung der Wähler“ in den westlichen Demokratien spricht, denen jedes Verständnis für Probleme und Zusammenhänge abgehe, ist für Jan-Werner Müller symptomatisch für eine sich ausbreitende „Demophobie“ (Müller) unter Liberalen, die die Schreckbilder des 19. und 20. Jahrhunderts über eine „Tyrannei der Mehrheit“ wiederaufleben lassen. Eine Vorstellung von Demokratie als „Staffellauf liberaler Eliten“ (Müller), die sich gegenseitig in der Regierung ablösen, verhält sich spiegelbildlich zur populistischen Eliten – und Liberalismuskritik, die im schlechten und korrupten Charakter der Wohlhabenden die Wurzel allen Übels sieht.
Müller geht von dem soziologischen Befund aus, dass in westlichen Gesellschaften eine „zweifache Sezession“ stattgefunden hat, in der sich Teile der Oberschicht politisch von den sozialen Verpflichtungen des Gemeinwesens längst verabschiedet haben und über monetäre Zuwendungen an die beiden großen Parteien ihren Einfluss auf steuer- und finanzpolitischen Gesetzgebung auf indirektem Weg durchsetzen (vgl. S. 42 f. und S. 48 f.), während Teile der Mittel- und Unterschicht von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen, weil sie ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen in den Aussagen der demokratischen Parteien nicht wiederfinden. Die Folge ist eine „sinkenden und insbesondere immer stärker verzerrte Partizipation“, was „politische Eliten und ärmere Bürger immer weiter voneinander entfernt“ (S. 51). Daraus folgt für Müller, dass eine Demokratien offener für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte werden müssen, aber Offenheit bedeutet nicht Grenzenlosigkeit. Am Endes des Kapitels wendet er sich gegen einen Autoritarismus, der einen „Alleinanspruch auf die Vertretung des Volkes“ (S. 56) stellt. Auch eine harte demokratische Auseinandersetzung darf zwei Grenzlinien nicht überschreiten: Erstens, ein demokratisches Volk darf niemals „Bürger (…) vertreiben und entrechten (also gegen ihren Willen ausschließen)“ (S. 60). Zweitens, die Zugehörigkeit zum „demokratisches Volk“ kann nicht „kulturell eindeutig determiniert oder gar von der Natur vorgegeben (…)“ sein (S. 61).
Vertretbare Demokratie: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit
Nach Müller gibt es drei grundlegende demokratischen Prinzipien, die den Spielraum der Konfliktaustragung in einer repräsentativen Demokratie definieren: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Zwischen Freiheit und politischer Gleichheit besteht ein notwendiges Spannungsfeld. Dabei betont Müller, dass nur ein erträgliches Maß an ökonomischer Ungleichheit mit der Grundanforderung politischer Freiheit kompatibel ist. Denn die Möglichkeiten einer politischen Teilnahme hängen in nicht geringem Maße von der Verfügung über finanzielle Ressourcen ab. Einfach gesagt, wer in prekären materiellen Verhältnissen lebt, hat verglichen mit Menschen in privilegierten Lebenslagen weniger Zeit und Muße, um seine politischen Freiheitsrechte zu nutzen. Umgekehrt gilt natürlich auch: ohne politische Freiheit gibt es keine Möglichkeiten, etwas gegen Formen von sozialer Ungleichheit zu tun.
Ein Demokratie, die prinzipiell auf gleichen Rechten beruht, spiegelt sich auch in einer demokratischen Alltagskultur wieder, die durch eine Atmosphäre des gleiches Respekt und der Freundlichkeit gekennzeichnet ist. Ungeachtet bestehender sozialer Hierarchien begegnen sich in ihr Menschen auf gleicher Augenhöhe. Das ermöglicht, dass alle Konflikte der Gesellschaft (von materiellen Interessen bis hin zu sexuellen Identitäten) zum Gegenstand von harten demokratischer Konflikte gemacht werden können, ohne dass das einende Band der Solidarität dabei zerreißen muss.
Die Ungewissheit über den Ausgang der politischen Konflikte um Interessen und Werte, um Gerechtigkeit und die Anerkennung von Lebensformen gehört ganz elementar zur Demokratie. Für Müller bedeutet die Vorstellung, dass der demokratische Wettbewerb erwartbare und in jeder Hinsicht berechenbare Ergebnisse produziert, das Ende einer Demokratie. Demokratie brauche das Geschick kreativer, selbstbewusste Parteien, die in der Lage sind, überraschende und neue Bündnisse zwischen sozialen Gruppen herzustellen und so eine echte demokratische Wahl zwischen „links“ und „rechts“ herbeizuführen. Gegen Ende des Kapitels formuliert der Autor ein ironisches „Lob der Demagogen“ (S. 103 ff.), sofern es Politiker*innen und Parteien gelingt, in Wahlkämpfen klare Entscheidungsalternativen aufzeigen und dabei gemeinsame Interessen der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen herzustellen. In diesem Sinne beförderten sie ein „dynamischeres und kreativeres Verständnis der Repräsentation“ (S. 105).
Kritische Infrastruktur: Was Parteien und Medien für Demokratie leisten müssen
Parteien spielen als „intermediäre Institutionen“ auch zwischen den Wahlen eine entscheidende Rolle. Im Gegensatz zu den altliberalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, etwa bei Tocqueville (vgl. S 118), wo die „corps intermédiaires“ („intermediären Körperschaften“) auf die demokratische Forderungen des Volkes mäßigend einwirken sollen, schwebt Müller eher vor, dass sie den demokratischen Diskussions- und Entscheidungsprozess zuspitzen sollten. Parteien seien als „Kinder der Demokratie und des Massenwahlrechts “ (Max Weber) von der Politik- und Rechtstheorie eher vernachlässigt worden. Dabei würden Parteien im Idealfall für die Bürgerinnen und Bürger politische Wahlmöglichkeiten schaffen, die unterschiedliche „Ideen und Interessen, aber auch Identitäten“ präsentieren, „die bisher nicht zur Geltung kamen.“ (S. 130).
An diesem Anspruch gemessen wirken die etablierten Parteien in den USA und Europa heute auf den Autor „seltsam ausgehöhlt“ (S. 137). Wichtig ist: Parteien dürfen in den Augen Müllers nicht einfach die demoskopisch ermittelte Realität der Wählerwünsche und ihrer Bewertungen widerspiegeln. Sie haben die Aufgabe durch die Inszenierung des demokratischen Konflikts den Erwartungshorizont ihrer Wähler*innen selbst mit zu beeinflussen. Und sie sorgen dabei (ein eher wenig beachteter Aspekt) für eine „Strukturierung politischer Zeit“ (S. 138 ff.), die dem demokratischen Leben einen eigenen Rhythmus verleihen.
Ein wichtiger Punkt ist es, die Finanzierungsquellen von Parteien und Medien. Hier wäre es nach Meinung Müllers dringend notwendig, über Gegenmaßnahmen zur Ausbreitung des Pressesterbens (vgl. S. 156) und die Machtkonzentration im Bereich der sozialen Medien nachzudenken (S. 157). Müller sieht die neue Dimension des Machtproblems darin, dass „letztlich demokratisch nicht belangbare Einzelpersonen die Wahlen zu beeinflussen vermögen. Ein Trump und ein Zuckerberg sind jeder für sich gefährlich für die Demokratie“ (S. 160). In diesem Zusammenhang geht der Autor auch auf das neue Phänomen der „Plattformparteien“, wie Podemos in Spanien oder Grillos „Cinque Stelle“ in Italien, ein, die gerne das Ende der traditionellen Parteienformationen beschwören (S. 160 ff.). Sie vertreten den Anspruch einer demokratischen Beteiligung der „einfachen Leute“ (man könnte auch von einer Ideologie eines „Partizipationismus“ (Gerbaudo) sprechen), aber in der Realität begünstigen sie die Selbstermächtigung nichtparteigebundener Technokraten, die ohne die Kontrolle und Rechenschaftspflicht gegenüber Parteigremien direkt mit dem Wahlvolk kommunizieren (S 168 ff.). Der Autor vertraut daher eher auf eine demokratische Erneuerung des Parteienspektrums, wenn es dem Gesetzgeber gelingen sollte, die finanzielle Autonomie, Transparenz und Rechenschaftspflicht der Parteien zu stärken.
Müllers Urteil bleibt ambivalent: „Parteien und Medien bilden die kritische Infrastruktur der Demokratie. Sie helfen den Bürgern sich miteinander zu verbinden.“ (S. 170). Sie helfen den Einzelnen sich zu organisieren und kollektive Repräsentationsansprüche zu stellen. Aber sie können auch zum „Bestandteil eines verfeinerten Überwachungsapparates (werden, d. Verf.), der Verhalten vorhersagen oder vorhersagbar machen soll“ (S. 170). Um Letzteres zu verhindern, machte der Autor im letzten Kapitel Vorschläge für Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers, die die Einflussmöglichkeiten der einfachen Bürger*innen stärken sollen.
Demokratisches Handeln: Vermittlung, Ausschluss, Rechtsbruch (mit Ansage!)
Einer Vorstellung von Demokratie folgend, die nicht nur die Privilegien der „ohnehin Bessergestellte(n)“ (S. 171) verteidigen, sondern sich stärker „für neue Repräsentationsansprüche“ (S. 172) öffnen will, greift er einen Vorschlag der französischen Ökonomin Julia Cagé auf: der Staat sollte „individuelle Gutscheine“ für eine bestimmte Summe zur Verfügung stellen, „die die Bürger nach und nach (oder alle zugleich) Parteien und Kandidaten ihrer Wahl zukommen lassen, zusammen mit der Möglichkeit, ihnen zusätzlich einen begrenzten Geldbetrag zu spenden (.). Größere Spenden wären verboten (.).“ (S. 179 f.). Diese Art der direkten Finanzierung der Parteien, in der Bürger Gutscheine über Geldmittel an die Parteien und KandidatInnen ihrer Wahl verteilen, sei in den Kommunalwahlen von Seattle schon erfolgreich erprobt worden (S. 181 f.). Julia Cagé schlägt auch ein „ähnliches Gutscheinsystem für Medien“ (S. 184) vor. Es könnte journalistischen Neugründungen eine dringend benötigte Starthilfe bieten. In dieselbe Richtung zielt auch die Idee, dass große und kleine Geldgeber „gemeinnützige Mediengesellschaften“ gründen könnten, „die die Vorzüge von Aktiengesellschaften mit denen privater Stiftungen vereinen würden.“ (S. 184). Insgesamt würde Bürger*innen so eine direkte finanzielle Kontrolle über die demokratische Infrastruktur ermöglicht, die ihnen das Gefühl geben würde, dass es bei den Wahlen mit rechten Dingen zugeht und die Unabhängigkeit der Parteien vor der Einflussnahme durch private Geldgeber ebenso gewahrt bleibt wie einer kritischen Berichterstattung der lokalen Medien. Zudem sollten alle Spenden offengelegt werden. Schließlich macht Müller den Vorschlag für soziale Medien und Netzwerke Gremien einzurichten, die als „Plattformräte“ (entsprechend den Rundfunkräten in öffentlich-rechtlichen Medien) Kontrollfunktionen ausüben.
Im nächsten Abschnitt diskutiert Müller über die Grenzen einer „wehrhaften Demokratie“, die das Mittel des Ausschlusses von Parteien und Vereinigungen aus dem politischen Wettbewerb maßvoll handhabt. Er sieht die Gefahr, dass Demokratien aus Angst vor totalitären Bedrohungen mit der Beschneidung elementarer Freiheiten am Ende „Suizid“ begehen und sich selbst abschaffen. Zwar kann es sinnvoll sein, zum Schutz der Verfassungsrechte von Bürger*innen Parteien und politischen Vereinigungen zu verbieten, doch dürften solche Mittel nur als „ultima ratio“ in Erwägung gezogen werden.
Zuletzt weist Müller noch darauf hin, dass es auch in einer freiheitlichen Demokratie Situationen geben kann, in denen Bürger*innen, weil elementare Verfassungsprinzipien verletzt werden, den ziviler Ungehorsam als Pflicht ansehen. Schließlich kann es immer wieder geschehen, dass sich demokratisch gewählte Regierungen gegenüber jeder Form der Kritik abschotten, wie das die US-Bürgerrechtsbewegungen der 50er und 60er Jahre erfahren mussten, als sie im Namen „der uramerikanischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit“ (S. 212 ) für die Abschaffung der Politik der Rassentrennung eintraten. Diese Ausführungen des Autors dürfen jedoch nicht als Aufforderung zu einer „Politik des Gefühls“ missverstanden werden. Ziviler Ungehorsam unterliegt strengen Argumentationspflichten. Niemand kann sich auf eine Meinungsfreiheit berufen, die ein „Recht auf persönliche Fakten“ (S. 225) beansprucht und das zivile Widerstandsrecht erlaubt schon gar nicht, Mitbürger*innen den „Status eines freien und gleichen Mitglieds des politischen Gemeinwesens“ (S. 225) abzusprechen, um sie nach Lust und Laune zu beleidigen oder körperlich anzugreifen.
Coda. Fünf Gründe für Hoffnung (nicht Optimismus)
Das Schlusskapitel fasst die Schlussfolgerungen des Autors zusammen:
- Der Blick zurück. Der Blick in die Historie zeigt: Im Unterschied zum Deutschland der Weimarer Republik und dem Europa der zwanziger und dreißiger Jahre leben wir „nicht im Zeitalter eines wiederkehrenden Faschismus“ (S. 219). Trotz der Erfolge eines neuen Autoritarismus: der Großteil der Bürger*innen kehrt sich nicht grundsätzlich von der Idee der Demokratie ab.
- Opposition ist möglich. Der zweite Grund zur Hoffnung: ein differenzierter Blick auf die die aktuellen Erscheinungsformen einer „illiberale Demokratien“ in Ungarn oder in Polen zeigt, dass auch dort, wo Populisten die Regierungsmacht erobern, trotz restriktiver Bedingungen im Vergleich zu Autokratien immer noch Spielräume für eine demokratische Opposition fortbestehen, wenn sich die Opposition zusammenschließt und der Druck von Seiten der Europäischen Union verstärkt wird (siehe dazu auch Ágnes Hellers Essay „Paradox Europa“).
- Schlechte Entscheidungen können in der Demokratie korrigiert werden. Zu den unangenehme Wahrheiten gehört, dass Menschen nur allzu bereit sind, eine destruktive, antidemokratische Politik zu tolerieren, weil sie sich von dieser Politik persönliche Vorteile versprechen. Wachsende Ungleichheit und innere Separierung verschiedener Gesellschaftsschichten spielen dabei eine entscheidende Rolle. Gesellschaftliche Fehlentwicklungen können aber durch eine Wirtschafts- und Sozialpolitik auch wieder korrigiert werden. Sie sind nicht „Gegebenheiten der menschlichen Natur“ (S. 220), sondern „kontingente Ergebnisse der Darstellung und Austragung von Konflikten“ (S. 220).
- Die Chancen für eine andere Politik. Ein Gesetzgeber, der die Tendenz des demokratischen Parteiensystems zu wechselnden Machtkartellen unterstützt, ohne dass sich die Inhalte der Politik verändern, fördert die politische Apathie. Reformen, die die Autonomie des Parteiensystems stärken und die bestehende finanziellen Abhängigkeit von Zuwendungen aus der Wirtschaft und dem Staat einschränkt, ermöglichen demokratischen Alternativen, die mehr Menschen davon überzeugen werden, dass „das, was sie verbindet, wichtiger ist, als das, was sie voneinander trennt“ (S. 223).
- Professionelle und soziale Medien. Professionelle Medien spielen weiterhin eine zentrale Rolle als Quelle unabhängiger Informations- und Meinungsbildung und faktenbasierter Auseinandersetzungen (deshalb sollte alles dafür getan werden, damit insbesondere das finanzielle Überleben eines kritischen Lokaljournalismus gesichert ist und sei es in Form gemeinnütziger Stiftungen). Entgegen „kulturpessimistischen Vorstellungen“ können auch soziale Medien „einen besseren Zugang zu öffentlichen Debatten erleichtern“ (S. 214). Um zu verhindern, dass soziale Medien von kommerziellen Überwachungsunternehmen abhängig werden, müsste der Gesetzgeber demokratischen Kontrollen durchsetzen (S. 234).
Diskussion
Jan-Werner Müllers Buch unterscheidet sich von anderen Beiträgen zum Thema „Demokratiekrise“ (siehe dazu die jüngsten Veröffentlichungen Adam Przeworski über „Krisen der Demokratie“, Berlin 2020, oder von Armin Schäfer und Michael Zürn „Die demokratischen Regression“, Berlin 2021) darin, dass er den Akzent stärker auf Handlungsmöglichkeiten des demokratischen Gesetzgebers legt, die über deprimierende Krisendiagnosen hinaus Perspektiven einer stärkeren politischen Teilnahme eröffnen wollen. Ohne hier die Vorschläge des Autors zur gesetzgeberischen Stärkung der Unabhängigkeit und Vielfalt innerhalb des Parteien- und Mediensystems im einzelnen zu bewerten, die Pointe seiner Überlegungen weist in eine richtige Richtung: Ohne eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der seinen Informations- und Bildungsauftrag wieder ernster nimmt, und ohne eine Revitalisierung der demokratischen Konfliktaustragung in den Parteien, die einem breiten Publikum demokratische Alternativen zwischen „links“ und „rechts“ einsichtig machen, trocknet die Demokratie aus; und es werden sich auch zukünftig wichtige Teile der Wählerschaft von der Demokratie abwenden, weil sie sich von ihr nicht repräsentiert fühlen. Das allerdings würde voraussetzen, dass die demokratischen Parteien endlich entschlossen die Probleme der wachsenden sozialen Ungleichheit und der ökologischen Umbaus der Wirtschaft anpacken, statt wie das Kaninchen auf die Schlange eines erstarkten Rechtspopulismus zu starren.
Fazit
Das Buch Jan-Werner Müllers plädiert für eine Öffnung und Weiterentwicklung des bestehenden Parteien- und Mediensystems, die beide zusammen die „kritische Infrastruktur“ einer Demokratie bilden. Im Kern geht es dem Autor um die Wiederbelebung einer liberalen Konflikttheorie, die eine stärkere demokratische Polarisierung der Öffentlichkeit bewirken soll. Nur dadurch kann es gelingen, die relevanten politischen Themen der Gegenwart auf die Agenda der Parlamente zu setzen. Auch wenn in der zu Ende gehenden Merkel-Ära davon wenig zu spüren ist: nach Müller darf sich die Idee der Demokratie nicht im politische Alltagsgeschäft eines kleinteiligen Pragmatismus erschöpfen, der sich mit einer additiven Befriedigung von Gruppeninteressen begnügt. Einstweilen wird die von Jan-Werner Müller gewünschte Belebung des demokratischen Streits zwischen den Parteien, die dem Publikum klare Wahlalternativen zwischen konservativem Pragmatismus und radikaldemokratischem Reformismus vor Augen führt, noch etwas auf sich warten lassen.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 24.06.2021 zu:
Jan-Werner Müller, Michael Bischoff: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie? Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2021.
ISBN 978-3-518-42995-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28390.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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