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Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 06.05.2021

Cover Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls ISBN 978-3-7799-6247-2

Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 196 Seiten. ISBN 978-3-7799-6247-2. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR.

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Thema

Sznaiders Essay behandelt die Entstehung von Mitgefühl – jenseits der Figur des barmherzigen Samariters – als eine „Ethik des Nie Wieder“ im Rahmen einer heute globalisierten Menschenrechtspolitik. Mitgefühl sei ein Merkmal der Moderne. Eine Politik des Mitgefühls sei keineswegs ein Widerspruch zur Natur des Kapitalismus, im Gegenteil.

Autor

Prof. Dr. Natan Sznaider ist seit 1996 Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv-Jaffo. Geboren 1954 in Mannheim als Kind von aus Polen stammenden displaced persons, ging er in Mannheim zur Schule und im Alter von 20 Jahren nach Israel, wo er Soziologie, Psychologie, Geschichte und Philosophie studierte. Er promovierte an der Columbia University in New York City und hatte an deutschen bzw. deutschsprachigen Universitäten mehrere Gastprofessuren inne, zuletzt die Sigi Feigel-Gastprofessur am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich. Zu seiner Identität äußerte er in einem taz-Interview: „Wenn mich jemand fragen würde „Bist du Deutscher?“, würde ich sagen: Nein. Ich bin Israeli.“

Entstehungshintergrund

Zu Sznaiders Themengebieten gehören soziologische und politische Theorie, Globalisierung und Kultursoziologie. Auf Deutsch veröffentlichte er u.a. „Gesellschaften in Israel“. Die hiesige Thematik nahm bereits mit seiner Promotion „Die Soziologie des Mitleids“ (1992) ihren Ausgang.

Aufbau

Formal hat der Band eine Einleitung (27 S.), drei Kapitel und einen Schlussteil (5 S.). Kapitel 1 „Mitgefühl und Kapitalismus“ (63 S.) konzentriert die theoretischen Herleitungen, Kapitel 2 „Menschenrechte fühlen“ (46. S.) und Kapitel 3 „Geflüchtetes Mitgefühl“ (34 S.) dagegen eher Anwendungen. Alle Teile jedoch haben eine Reihe von Zwischenüberschriften bzw. Unterkapiteln, die dieser Gliederung immer wieder entgegenstreben. In einer mäanderhaften Darstellungsweise ergeben sich dadurch vielfache Wiederholungen und Teilanknüpfungen (Sznaider nennt dies die Formen der „Analepse, der Prolepse und der Schichtung“ (S. 34), die das Lesen auf den ersten Blick nicht erleichtern, aber sicherlich für die Textform Essay nicht nur so gewollt sind, sondern möglicherweise für diese Inhalte auch erforderlich sind.

Inhalt

Sznaider beginnt seinen Essay mit Bob Dylans Lyrik „Desolation Row“ (über einen Lynchmord 1920) sowie „ikonischen“ Bilddarstellungen und -Erklärungen von Rembrandts „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“ und Rubens „Minerva beschützt den Frieden vor dem Krieg“. Letzteres, aus Anlass des Friedensvertrages zwischen England und Spanien vom Diplomaten der spanischen Krone Rubens dem englischen Hof geschenkt, versinnbildliche die Vorteile einer neuen bürgerlichen Gefühlswelt, in der Wohlstand am Ausgang des Dreißigjährigen Krieges durch Frieden garantiert werde. Andere ikonische Bilder seien Francisco de Goyas „Die Schrecken des Krieges“, die Bilder der Befreiung der Konzentrationslager von 1945, das Foto des 1972 vom Napalm-Angriff getroffenen südvietnamesischen Mädchens Phan Thi Kim Puc oder das Foto des Leichnams des 2015 an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmten zweijährigen syrischen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi.

Im Gegensatz zur Vormoderne, wo Folterungen und öffentliche Hinrichtungen zur Schau gestellt werden (konnten), was heute unvorstellbar sei (Anm. d. R.: mit wenigen Ausnahmen), mobilisierten derartige Bilder heute Mitgefühl. Das „Nie wieder“ der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der israelischen Unabhängigkeitserklärung und des Berichts der argentinischen Nationalkommission zum Verschwinden von Personen habe die Erlösung durch den barmherzigen Samariter abgelöst und sei heute die „‘säkulare‘ Religion der Ethik“ (S. 181).

Dabei gehe es Sznaider um eine „empirische Ethik, die eine Form der Praxis und Mobilisierung beinhaltet, die jenseits des Universalismus und diesseits des fragmentierenden Relativismus die Figur des Nie Wieder als Leitmotiv an den großen historischen Katastrophen im wahrsten Sinne des Wortes nachzeichnet. Der Motor des Nie Wieder ist das Mitgefühl. Wir müssen imstande sein mitzufühlen, wenn wir verlangen, dass etwas nie wieder geschehen soll. Es ist ein absolutes Verbot aufgrund von historischen Katastrophenerfahrungen. Das Nie Wieder braucht eine Konzeptualisierung und Definition des Wieder. Daran steckt eine wesentliche Voraussetzung. Die Katastrophe ist schon geschehen und soll in Zukunft verhindert-vermieden werden. Es geht also um Antizipation und Inszenierung einer drohenden Zukunft auf dem Hintergrund einer erinnerten Vergangenheit.“ (S. 11).

Neben anderen (darunter besonders Norbert Elias, Zygmunt Baumann und Michel Foucault) arbeitet sich Sznaider am meisten an Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie ab, für die öffentliches Mitleid keine Kategorie sei, die Solidarität und Repräsentation ersetzen könne; Sentimentalitäten hätten in der Politik nichts zu suchen. Gleichwohl will Sznaider den Arendt’schen Einwand gegen öffentliches Mitleid als „mahnenden Zeigefinger“ (S. 12) im Auge behalten. Dem Mitleid setzt er jedoch öffentliches Mitgefühl als „organisierte Kampagne zur Verminderung des Leidens von Fremden“ (S. 35) entgegen.

Den Ansatzpunkt für die Entstehung von Mitgefühl, wie im ersten Kapitel dann weiter ausgeführt, sieht Sznaider in den Ideen des „anglosächsischen“ (S. 48) politischen Liberalismus als Wegbegleiter des Kapitalismus. Einerseits Märkte, andererseits Demokratie bildeten die Voraussetzung für die „Wahlverwandtschaft zwischen diesen Strukturen und Mitgefühl“ (S. 33). In diesem Sinne sei Mitleid und seien Gefühle elementare Aspekte der Demokratie, in der sie als Teil des Kapitalismus ‚vermarktet‘ werden.

„Die schottischen Aufklärer wie Adam Smith oder auch David Hume lehnten diejenigen Kultursysteme ab, die sich auf militärischen Ruhm und religiösen Eifer beriefen, und schlugen ein neueres System einer ‚reiferen‘ Zivilisation vor, die auf Handel und Konsum basieren sollte“ (S. 52). Demokratie und Marktwirtschaft verbreiteten „zugleich, wenn auch ungewollt, moralisches Empfinden für andere“, „die Konsumgesellschaft setze eine ‚Gesellschaft‘ und keine ‚Gemeinschaft‘ der moralischen Individuen voraus“ (S. 53). „Für das kommerzielle Interesse ist es daher auch notwendig, dass man Höflichkeit und Sensibilität entwickelt. Konsum kann daher als Teil der sozialen Zähmung des Körpers verstanden werden“ (S. 54). Die zivilisatorischen Eigenschaften des Marktes seien für Adam Smith „eine wahre historische Errungenschaft, die durch distanzierte Achtlosigkeit erst möglich wird“ (S. 49), was Ervin Goffman ‚civil inattention‘ genannt habe (S. 49 f.) und die Voraussetzung für das Mitfühlen mit den anderen sei.

Unter den diskutierten Belegen für diese These führt Sznaider unter anderem Traktate des 19. Jahrhunderts an, wonach auch Tiere Gefühle hätten, die moralischen Respekt erforderten. Als eine hier genuin soziologische Erklärung imponierte dem Rezensenten die hierzu gegebene Erklärung, dass „sowohl Tiere als auch Kinder im zunehmenden Industrialisierungsprozess wirtschaftlich nutzloser wurden (Anm. d. R.: allerdings keineswegs konflikt- und widerstandslos) und damit gleichzeitig ihr Gefühlswert stieg“ (S. 77).

Konnte das so entstandene Mitgefühl gegenüber Tieren, Kindern und Frauen auch auf Juden und Jüdinnen erweitert werden? Der neue Gedanke des 18. und 19. Jahrhunderts, Juden seien wie andere Menschen auch, führt zur Literatur über die Judenemanzipation und einer Vielzahl jüdischer Denker und auch jüdischer Soziologen, die Sznaider an etlichen Stellen behandelt, was letztlich zur Aussage führt, im „Projekt der Judenvernichtung wurden auch gleichzeitig die Moderne selbst und dessen Träger vernichtet“ (S. 98).

Wenngleich die Moralsoziologie heute eine Leerstelle in der Soziologie geworden sei, könne sie sich doch immerhin auf Émile Durkheim stützen. Durkheims Klassiker „Über die soziale Arbeitsteilung“ erkläre diese nicht nur als ökonomisches Prinzip, sondern Arbeitsteilung sei „auch die einzige Grundlage des ethischen und sozialen Lebens“ (S. 88). Da Arbeitsteilung für Durkheim zur Hauptquelle sozialer Solidarität werde, werde sie zugleich zur Grundlage der moralischen Ordnung. Sowohl Pflicht als auch Streben nach dem ‚Guten‘ seien Produkte der sozialen Interaktion unter spezifischen sozialen und historischen Umständen. Damit habe Durkheim versucht, die moralische Dimension der Soziologie zu retten, indem seine Idee des Liberalismus als eine Religion fungiere – „im Sinne von Werten, die jeden modernen Staat beleben und an den die Menschen bedingungslos glauben, so wie sie an Religion glauben“ (S. 88 f.).

Neben Arendt, Nietzsche, Foucault und anderen steht als eigentlich bekanntester Antipode der positiven Bewertung der Moderne und ihrer kapitalistischen Grundlagen für das Mitgefühl Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Klassiker „Dialektik der Aufklärung“ entgegen, dieser Kritik am Herrschaftscharakter der Vernunft, mit der anlässlich des Nationalsozialismus festgestellten „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit“. Auf diese beiden Klassiker geht Sznaider weniger als auf andere ein; ein Ansatzpunkt hierbei ist, dass Adorno und Horkheimer hier die Marx‘sche Denkweise über den Kapitalismus, dieser habe die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst, „noch verfeinert“ hätten (S. 68). Wenngleich eine solche „Kausalitätsvermutung von Moderne und Barbarei“ (S. 121), so auch in Zygmunt Baumanns Buch „Die Moderne und der Holocaust“, von uns ernst genommen werden sollte, so könne „dieser verzweifelte Abschied von der Moderne nicht das letzte Wort sein“. (S. 122). An einer Stelle bringt Sznaider seine Position hierzu kurz auf den Punkt: „Den Holocaust als Konsequenz der Moderne zu betrachten bedeutet, Nazi-Deutschland als Konsequenz der Moderne zu betrachten und das ist wohl, die Ausnahme zur Regel zu machen“. (S. 125)

Im zweiten Kapitel „Menschenrechte fühlen“ wendet Sznaider seine These stärker auf die Menschenrechtspolitik seit dem Ende des zweiten Weltkriegs, im dritten Kapitel „Geflüchtetes Mitgefühl“ stärker auf die heutige Flüchtlingspolitik an, Letzteres allerdings beginnend mit Hannah Ahrendts Situation in Lissabon 1941, zu der Zeit der einzige Ort, wo Flüchtlinge noch auf ein rettendes Schiff hoffen konnten, wenn sie es – im Gegensatz etwa zu Walter Benjamin – bis hierher geschafft hatten. Auch diese Kapitel, wie auch der Schluss, sollen nochmals die These illustrieren, dass Mitgefühl, als Teil des Kapitalismus, möglich sei, was in einer „inzwischen schon fast überschäumenden Kulturkritik“ (S. 184) drohe übersehen zu werden. Die Moderne müsse sich aber ihrer eigenen gefährdeten Modernität bewusst werden. Mitgefühl basiere nicht auf der Hoffnung auf bessere Zeiten, sondern auf der Furcht vor schlechteren.

Diskussion

Die Thematik und die Fülle des präsentierten Materials sind zweifelsfrei beachtlich. Mit der Schreibweise muss man sich allerdings erst anfreunden. Wie gesagt hielt Sznaider es vielleicht angesichts der Komplexität des Themas für notwendig, in dieser Weise zu schreiben. Hierbei ist er auch durchaus nicht allein, wie das bei einigen der von ihm herangezogenen frühsoziologischen Klassiker der Fall ist (z.B. Georg Simmel oder der in späteren Jahren zumindest ambivalent zu bewertende Werner Sombart). Man muss sich aus stilistischen, aber möglicherweise ebenfalls inhaltlich bedingten Gründen auch auf eine Sprache mit gelegentlichen religiösen Metaphern einlassen. Manches sei eben Glaubenssache.

Dem Band ist aufgrund seiner Thematik durchaus Verbreitung zu wünschen. Wenn es dadurch zu einer weiteren Auflage käme, wäre von einem Lektorat zu wünschen, die Vielzahl von kleineren Setzfehlern zu beseitigen, deren ärgerlichster „Frank Kafka“ ist (S. 109).

Fazit

Natan Sznaider beleuchtet in diesem Essay den Zusammenhang von Mitgefühl und Kapitalismus, in dem Gefühle inzwischen als Aspekte der Demokratie vermarktet werden. Dabei sei die bürgerliche Aufklärung nicht etwa gescheitert. Dem stehe auch nicht die Shoah entgegen, denn diese sei ein Versuch der Vormoderne gegen die Moderne und deren Träger, die Juden, gewesen. Vielmehr sei die Entstehung von Mitgefühl konstitutiv für den Kapitalismus.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 06.05.2021 zu: Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. ISBN 978-3-7799-6247-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28396.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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