Leokadia Brüderl, Ines Riessen et al.: Therapie-Tools Selbsterfahrung
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 08.12.2021

Leokadia Brüderl, Ines Riessen, Christine Zens: Therapie-Tools Selbsterfahrung. Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2021.
2., überarbeitete und erweiterte Auflage.
393 Seiten.
ISBN 978-3-621-28810-1.
D: 44,95 EUR,
A: 46,50 EUR.
Reihe: Therapie-Tools.
Autorinnen
Dr. phil. Brüderl, Dr. rer. soc. Riessen und Zens sind Diplompsychologinnen, Psychologische Psychotherapeutinnen (B. auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin) und langjährige Dozentinnen, Supervisorinnen und Selbsterfahrungsleiterinnen für Verhaltenstherapie, B. u. Z. auch in Schematherapie. Sie sind in Stuttgart, Tübingen und Hamburg in eigenen psychotherapeutischen Praxen niedergelassen. Die Autorinnen sind erfahrene Vertreterinnen der jüngeren Generation der um die Schematherapie erweiterten kognitiven Verhaltenstherapie.
Thema
Selbsterfahrung in der Verhaltenstherapie ist erst mit dem Psychotherapeutengesetz vom 23.6. 1998 verbindlich vorgeschrieben worden. Vorbild aller therapeutischen Selbsterfahrung ist die sogenannte Lehranalyse, die Freud 1910 auf dem Nürnberger Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gefordert; seit dem Berliner Kongress 1922 ist diese verbindlicher Bestandteil der Psychoanalytischen Ausbildung. In den 40er und 50er Jahren folgten entsprechende Vorgaben für die Humanistischen Verfahren. Dass die Verhaltenstherapie als Letztes Therapieverfahren die therapeutische Selbsterfahrung einführt (die Autorinnen schlagen 120 Stunden Gruppenselbsterfahrung vor), hängt mit ihrer Vergangenheit in der experimentellen Psychologie zusammen, die ein “objektives“ Herangehen an Probleme fordert: Experimente sollen von jeder Person mit dem gleichen Ergebnis wiederholt werden können (für eine subjektive Therapeut*innenpersönlichkeit wäre dabei kein Platz). Nach der sogenannte kognitiven Wende der 70er Jahre und der emotionalen Wende seit den späten 90er Jahren hat sich die VT ein eigenes Repertoire an Selbsterfahrungspraktiken erarbeitet, das hier manualisiert vorgelegt wird.
Entstehungshintergrund
Mit der Schematherapie entwickelten Vertreter*innen dieser Therapierichtung erstmals ein stringentes Konzept zur Untersuchung lebensgeschichtlicher emotionaler Erfahrung und einer differenzierten Persönlichkeitsentwicklung vor dem Hintergrund emotionaler Schemata. Die Verhaltenstherapie hat damit ihre Entwicklung zu einem psychotherapeutischen Verfahren abgeschlossen, das alle Aspekte des Menschlichen beachtet und ggf. zu beeinflussen sucht. Selbst existenzielle und spirituelle Aspekte des Lebens finden Berücksichtigung. Damit haben die psychodynamischen und humanistischen Richtungen der Psychotherapie dahingehend ihr Alleinstellungsmerkmal verloren; zukünftig muss die Verhaltenstherapie als ein Verfahren gelten, das nicht nur symptomatische Veränderungen anstrebt sondern ggf. auch eine Entwicklung der Persönlichkeit.
Aufbau
Das Buch ist in 6 Kapitel gegliedert:
- Biographiearbeit: Blick in die eigene Lebensgeschichte
- Emotionale Kompetenzen: Basis für gelingendes Miteinander
- Selbstwert: Treppe zum gestärkten Selbstwertgefühl
- Arbeit mit Selbstanteilen: innere Multiplizität erkennen und nutzen
- Die individuelle Therapeutenidentität: Ein beständiger Entwicklungsprozess
- Tod – Trauer – Abschied: Der eigene Umgang mit Verlust
Der Anhang enthält eine Sammlung von ressourcenorientierten und Lockerungsübungen sowie das Literaturverzeichnis.
Alle Kapitel enthalten kaum wissenschaftliche Prosa zum entsprechenden Thema, stattdessen außer knappen Einleitungen didaktische Arbeitsblätter und Übungsanleitungen und gelegentlich Beschreibungen von Rollenspielformaten für Klein- und Großgruppen.
Inhalt
Der Inhalt des gesamten Programms folgt einer Gliederung aufeinander folgenden Infoblöcken und Arbeitsgruppen. Für das erste Kapitel z.B. sind Übungen wie folgt benannt:
Skalierung im Raum/Motivation zur Selbstöffnung stärken/Generationsübergreifender Blick in das Beziehungsgeflecht der eigenen Herkunftsfamilie/​Arbeit an der Lebenslinie/​Beziehungserfahrungen mit prägenden Bezugspersonen/​Auseinandersetzung mit Grundbedürfnissen/​Lebensmotto/​Entwicklung eines eigenen hypothetischen Persönlichkeitsmodells. Die Übungen enthalten relativ genaue Beschreibungen. Jeder Teil ist in mehrere Arbeitsblätter gegliedert, die überwiegend erlebnisaktivierende Rollenspiele in der Gruppe umfasst aber auch Arbeitsblätter für Notizen, Visualisierungen etc.
Durchgehend sind die Formate moderne gruppenpädagogische Konzepte, die der Aktivierung von Emotionen, Erinnerungen, Körperwahrnehmungen usw. dienen. Die Autorinnen sprechen von einem ressourcenorientiertem Stil, der „toxische“ Probleme oder pathologische Ursachenzuschreibungen zu vermeiden sucht. Fallen solche Etikettierungen im Teilnehmer*innenkreis, ersuchen die Leiter*innen zu intervenieren und solche Zuschreibungen etwa ressourcenorientiert umzudeuten.
Die Voraussetzung für ein konstruktives Arbeiten wird in einem haltenden Rahmen gesehen, der durch zehn Gruppenregeln konstituiert wird. Dazu gehören eher selbstverständliche wie Schweigepflicht und Pünktlichkeit, aber auch spezifische wie Kommunikationsregeln nach klientzentrierten Basisvariabeln, oder Konkretisierung: „Je konkreter Verhaltensbeschreibungen und mitgeteilte Gefühlsregungen sind, desto weniger Raum bleibt für Interpretationen, Spekulationen, Bewertungen…“; „Kritik sollte stets wohlwollend und wertschätzend geäußert werden“. Hier zeigt sich etwas aus meiner Sicht für das verhaltenstherapeutische Vorgehen Typische, nämlich eine Tendenz zur Einhegung: Nicht Störungen haben Vorrang oder freies Assoziieren soll gefördert werden, sondern die ressourcenorientierte Kommunikation. Regression soll vermieden, Widerstand oder irrationale Impulse sollen indirekt beeinflusst werden.
Diskussion
Die Selbsterfahrungs-Tools der verhaltenstherapeutischen Autorinnen Leokadia Brüderl, Ines Riessen und Christine Zens bilden ein breites Spektrum an Interventionen und Fragestellungen ab, von denen viele ursprünglich im systemischen, humanistischen oder psychodynamischen Kontext beheimatet sind. Die Provenienz geht weder aus dem Literaturverzeichnis hervor, noch wird sie irgendwo explizit festgestellt. Einige Übungen, die heute Gemeingut sein mögen, kenne ich aus der Gestalttherapiegruppe, aus der systemischen Therapie Virginia Satirs oder aus Seminaren Martin Kirschenbaums. Die umstandslose Aneignung des humanistischen Erbes einer mehr als 100-jährigen Psychotherapietradition würde m.E. eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Konzepten erfordern, mindestens aber ein angemessenes Zitieren. Wenn, mit Markgraf [1] gesprochen, „moderne Verhaltenstherapie“ die gesamte empirische Psychologie zu Grundlage hat, setzt das elemantare Zitierregeln nicht außer Kraft.
Die vorgestellten Therapie-Tools umfassen eine erstaunliche Breite an Themen und emotionalen Aspekten unserer therapeutischen Professionalität. Dennoch ist ein Mangel enthalten, der der Lehranalyse im Einzelsetting oder auch einer psychodynamischen Gruppenselbsterfahrung so nicht anhaftet: Gestaltet die Kandidat*in im psychodynamischen Feld (Ferro, 2003) ihre innere Welt und persönliche Realität im Rahmen der Übertragungsbeziehung, von unbewussten Impulsen getrieben, so wirkt eine Gruppenselbsterfahrung wie im vorliegenden Werk beschrieben seltsam stubenrein: Für die Subversivität des Begehrens ist kein Platz, wie auch nicht für andere, gar destruktive Impulse.
Mir fehlt vielleicht die Phantasie, mir die in diesen Gruppen sicher gehaltvollen emotionalen Prozesse umfassend vorzustellen. Jedoch scheint mir ein Konzept, das sich nur implizit auf das auch unbewusste Gewordensein bezieht, nicht ausreichend. Das Unbewusste, das sich u.a. in Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen abbildet, sollte ausdrücklich bearbeitet werden.
Ebenso scheint geboten, mehr Tools für einen Umgang insbesondere mit Aggression, Destruktivität und Macht zu verlangen, um zu einer nachhaltigen Reifung der Therapeut*inpersönlichkeit beizutragen. Denn das ist ja das Ziel einer Selbsterfahrung.
In diesem Zusammenhang zentral auf die Interventionstechniken zu bauen, die auf Wertschätzung und andere ressorcenstärkende Strategien basieren, verkennt wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz, wie Neid, Eifersucht, Hass und Wut, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, die sich nur schwer positiv umdeuten lassen (vgl. Guggenbühl-Caig 1978). Selbst wenn viele Begriffe psychodynamischer Herkunft inzwischen in den Common Ground der empirischen Psychologie eingemeindet sind, bedarf es für diesen Themenkomplex einer ausdrücklichen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen psychodynamischer Selbsterfahrung.
Fazit
Die „Therapie-Tools Selbsterfahrung“ von Brüderl, Riessen und Zens geben einen guten Einblick darin, wie viel weiter der Horizont der modernen Verhaltenstherapie inzwischen gezogen ist. Die Engführung auf verschiedene Formen der Lerntheorie gehört nicht mehr zu den Begrenzungen des verhaltenstherapeutischen Vorgehens, auch wenn ursprünglich psychodynamische Konzepte noch etwas unter die Räder kommen und in diesem Vorgehen auch den Stachel des Kulturkritischen verlieren.
Literatur
Ferro, A. (2003): Das bipersonale Feld. Konstruktivismus und Feldtheorie in der Kinderanalyse Gießen: Psychosozial-Verlag
Guggenbühl-Craig, A. (1978): Macht als Gefahr beim Helfer 5. unveränderte Auflage, Basel: Karger
Margraf, J und S.Schneider (2009): Lehrbuch der Verhaltenstherapie Band 1., 3. Auflage. BerlinHeidelberg: Springer
[1] Verhaltenstherapie ist der Versuch, den gesamten empirischen und theoretischen Wissensbestand, wie er durch den Einsatz experimenteller Methoden in der Psychologie und ihren Nachbardisziplinen (Physiologie und Neurophysiologie) angesammelt werden konnte, in systematischer Weise zu benutzen
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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