Melanie Hartung: Kollegiale Fallberatung für die Führungskräfte
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.01.2022
Melanie Hartung: Evaluation der Qualifizierungsmaßnahme Kollegiale Fallberatung für die Führungskräfte eines öffentlichen Jugendhilfeträgers. Eine qualitative Studie. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2021. 116 Seiten. ISBN 978-3-8309-4341-9. 24,90 EUR.
Sinnstiftung
Eine funktionierende, menschenwürdige Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass die Mitglieder ihr Wissen und Können professionell einbringen. Qualifizierte Aus- und Fortbildung in beruflichen Tätigkeiten sind unverzichtbare, konstitutive und institutionalisierte Anforderungen dazu. Dafür sind grundlegend zwei unterschiedliche Theoriekonzepte vorhanden. Da ist zum einen der „funktionalistische Sinnbegriff“, wie ihn Niklas Luhmann erdacht und Rudolf Stichweh professionstheoretisch weiterentwickelt hat, zum anderen der „hermeneutische Sinnbegriff“, wie er von Ulrich Oevermann anthropologisch, sozial- und existenzphilosophisch begründet und von Emil Frankl aktualisiert wurde (vgl. dazu: Ralf Lutz, Sinnvergessenheit in der Professionalisierung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26075.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Im beruflichen Aus- und Fortbildungsdiskurs wird vom „Heben verborgener Schätze“ (Gerd Wiendieck) gesprochen, wenn es um die Frage nach den personellen, qualifizierten Anforderungen in beruflichen Zusammenhängen geht. „Wer rastet, der rostet!“. Einmal schulisch und beruflich erworbene Kompetenzen müssen permanent gefestigt, angewandt, korrigiert, verändert und erweitert werden, und zwar individuell und kollektiv. Es sind Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, die Horizonte schaffen und Funktionen ermöglichen. Die institutionalisierten Angebote sollen das „personelle Kapital“ im gesellschaftlichen Miteinander festigen und zum grundlegenden Bestandteil der Conditio Humana werden. Die Arbeits- und Organisationspsychologin, Lehrcoachin, Fortbildnerin und Beraterin Melanie Hartung hat als Begleitforschung ein Fortbildungsprojekt mit Leitungskräften von öffentlichen Jugendhilfe-Einrichtungen in der nordrhein-westfälischen Stadt Brühl durchgeführt. Sie berichtet über das theoretische Konzept und die praktischen Weiterbildungsmaßnahmen. Mit der Evaluation des Vorhabens will sie einen professionellen Beitrag zur Qualitätssicherung in Bereichen der Sozialen Arbeit leisten. Und, soweit lässt sich bereits an der Stelle verdeutlichen, als Transfer-Angebot auch für andere „helfende“, „pädagogische“, „verwaltende“ wie „produzierende“ Berufe aufzeigen.
Aufbau und Inhalt
Die qualitative Studie wird, neben dem Vorwort durch den wissenschaftlichen Betreuer der Masterarbeit von Melanie Hartung, im Rahmen des Weiterbildenden Masterstudiengangs „Arbeits- und Organisationspsychologie“ an der Universität in Wuppertal, Gerd Wiendieck, in sechs Kapitel gegliedert: Im ersten führt die Autorin in die Studie ein und formuliert die Zielsetzung der wissenschaftlichen Arbeit als „differenzierte Auseinandersetzung mit den Merkmalen der Qualifizierungsmaßnahme, den Merkmalen der Fortbildungsteilnehmenden und der Arbeitsumgebung“. Im zweiten Kapitel wird der theoretische Hintergrund des Fortbildungsprojektes thematisiert und die Bedeutung von „Human Ressourcen“ in der Personalentwicklung hervorgehoben. Es sind Bildungsziele und -methoden, die für jede Form von Fort- und Weiterbildung formuliert werden müssen; und es sind die speziellen Formen der „Kollegiale Fallberatung“, die eine eingehende theoretische und praktische Erörterung erforderlich machen. Im dritten Kapitel zeigt die Autorin die in der Masterarbeit formulierten Fragestellungen, Zielsetzungen und Untersuchungsmethoden auf. Das vierte Kapitel setzt sich mit der durchgeführten empirischen Untersuchung der speziellen „Multiplikatoren-Schulung zur Kollegialen Fallberatung der Leitungskräfte“ auseinander und verdeutlicht die differenzierten Kriterien, wie z.B.: teilstandardisierte, leitfadengestützte Interviews und Analyse-Methoden. Im fünften Kapitel werden die (Begleit-)Forschungsergebnisse dargestellt. Und im sechsten Kapitel werden fragende, erfüllende und kritische Blicke auf das abgelaufene Fortbildungsvorhaben gerichtet
Diskussion
Formaler und informeller Austausch von professionellen Erfahrungen, Fragen, Erfolgen, Wünschen, Anforderungen und Defiziten kann Fortbildung sein, gezielte, fach- und sachbezogene Weiterbildungsmaßnahmen auch. Das von der Autorin vorgestellte Konzept „Kollegiale Fallberatung“ ist nicht neu. Es wird angewandt in offenen und geschlossenen Gesprächszirkeln, und in schul- und betriebsinternen Veranstaltungen und Zusammenkünften. Personal- und Organisationsentwicklung sind unterschiedliche, jedoch zusammengehörende Strategien für wichtige Ordnungs- und Kooperationsformen für das individuelle und kollektive Leben. Die verschiedenen Anforderungen, Kompetenzen und Motivationen sind jeweils personal, sachlich und fachlich differenziert: „Die Kollegiale Fallberatung zählt zu den lösungs- und ressourcenorientierten Methoden und trägt zu einer Professionalisierung des beruflichen Handelns bei“. In besonderem Maße sind dabei die Identitätsbildung der beteiligten Individuen gefragt: Auf Augenhöhe kommunizieren! Bedeutsam und zielführend ist, wenn es gelingt, ein dialogisches Verhältnis herzustellen und ein Rollenverständnis zu erreichen. Im Gegensatz zu spontanen Treffen, freundschaftlichen und kameradschaftlichen Gesprächen, kommt es bei der kollegialen Beratung darauf an, gemeinsam Strukturen, Termine und Inhalte festzulegen und gezielt und diszipliniert abzuarbeiten. Nicht Führung, sondern Koordination ist notwendig. Nicht zwingend, jedoch hilfreich und förderlich ist es, Gesprächs- und Beratungsorte und -zeiten gemeinsam zu vereinbaren. Das in der Studie vorgestellte Fortbildungsprojekt als Begleitforschung bedarf natürlich Vorbereitungen und Strukturen, die nicht bei jeder kollegialen Fallberatung notwendig sind; unverzichtbar jedoch ist eine professionelle Begleitung, die sich sowohl aus den vorhandenen Kompetenzen der direkt Beteiligten, als auch durch außenstehenden Auftrag bilden kann. Die (anfängliche) Konzentration auf ausgewählte, praktische, wirkliche Fallbeispiele qualifiziert für Transfer auf weiteres, qualitatives, berufliches Schaffen. Protokollierung und Dokumentation der Gesprächsverläufe, Vereinbarungen, Beschlüsse und Zielsetzungen sind hilfreich und nützlich.
Fazit
Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, sowohl als individuelles Lernen, als auch als Transfer-, Koordinierungs- und Führungsaufgaben, sind dann erfolgreich, „wenn der Lerntransfern in dem Maße erfolgt, dass das gelernte Wissen und die erworbenen Fertigkeiten und Haltungen anschließend im Berufsalltag langfristig (und nachhaltig, JS) angewendet werden“. Zwar in der Studie nicht dezidiert angesprochen, jedoch eine für verantwortungsbewusste Fort- und Weiterbildung unverzichtbare kritische Auseinandersetzung mit humanen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen im Arbeitsalltag macht es notwendig, Fort- und Weiterbildung als ein Mittel zur intellektuellen Aufklärung zu verstehen (siehe z.B. dazu auch: Ramona M. Kordesch, u.a. [Hrsg.], Die Arbeit der Zivilgesellschaft, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25339.php).
Die Studie „Kollegiale Fallberatung“ ist ein Baustein, um eine menschenwürdige, humane, gerechte, gleichberechtigte, demokratische Gesellschaft mit zu bauen, ganz konkret, vor Ort und direkt!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.01.2022 zu:
Melanie Hartung: Evaluation der Qualifizierungsmaßnahme Kollegiale Fallberatung für die Führungskräfte eines öffentlichen Jugendhilfeträgers. Eine qualitative Studie. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2021.
ISBN 978-3-8309-4341-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28406.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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