Wolfgang Wahl: Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 08.09.2021

Wolfgang Wahl: Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2021. 246 Seiten. ISBN 978-3-7799-6458-2. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR.
Thema
Das Thema des Buches ist durch seinen Titel hinsichtlich seiner charakteristischen Elemente zwar knapp, aber hinreichend skizziert. Es geht um
- „Erlebnispädagogik“, und zwar
- um eine solche, die als eigenständiger disziplinärer und professioneller Ansatz (wahlweise kann man hier Ansatz ersetzen durch: Arbeitsweise, Handlungsansatz, Methode) in der deutsch(sprachig)en Sozialpädagogik verortet wird, wobei
- der Autor als das Besondere (das Proprium, die differentia specifica) dieses sozialpädagogischen Handlungsansatzes „Erlebnispädagogik“ markiert, er gehöre ins Reich des „Außeralltäglichen“ (womit in aller Klarheit eine Grenze zu so etwas wie einer naiven „Lebenswelt“-Sozialpädagogik gezogen ist).
Wie eine so näher bestimmte „Erlebnispädagogik“ definitorisch zu fassen sei, hat der Autor gegen Ende des Buches so formuliert: „Erlebnispädagogik ist eine sozialpädagogische Praxis in außeralltäglichen Räumen. Durch Begegnung und im aktiven Tun entstehen Selbst-, Gruppen- und Naturerlebnisse: Die sich dabei ergebenden Bildungsangelegenheiten können durch Reflexion zu Lernerfahrungen werden und sich positiv auf die Entwicklung der personalen und sozialen Kompetenzen der Teilnehmer auswirken.“ (S. 178)
Man kann, ja muss diese Definition lesen als Summa all der zuvor angestellten Überlegungen. Das meint im Umkehrschluss: Das Buch ist im Wesentlichen die Entfaltung und Begründung einer These, wie sie in obiger Definition in aller Kürze zusammengefasst ist.
Autor
Wolfgang Wahl vertritt nach Angaben auf der Homepage der Technischen Hochschule Nürnberg Georg-Simon Ohm dort die Lehrgebiete Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit, Theorien der Sozialen Arbeit, Erlebnispädagogik, Bewegung und Sport, Wissensmanagement, Teamenwicklung und Organisationslernen; als Forschungsgebiete sind angegeben: Professionalisierung der Sozialen Arbeit, Erlebnispädagogik, Bewegungs- und sportorientierte Soziale Arbeit sowie Jugendarbeit. Angaben zu seinem Lebens- und Bildungslauf sind dort und anderswo nur in Gestalt von Publikationshinweisen zu finden. Eine „Vita“ ist nicht auffindbar und über sein Leben außerhalb jenes eines Literaturschaffenden schweigt sich Wolfgang Wahl aus.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat zwischen einem knappen Vorwort und einem Literaturverzeichnis sowie Sachregister (nicht auch Personenregister) 15 Kapitel, die sich verteilen auf eine „Einleitung“ (Kapitel 1), einen Teil I „Die Praxis der Erlebnispädagogik: Was tun Erlebnispädagogen?“ (Kapitel 2–5), einen zweiten Teil „Die Praxis der Erlebnispädagogik: Was und wie erleben die Teilnehmer?“ (Kapitel 6–9) sowie einen dritten „Theorie der Erlebnispädagogik“ (Kapitel 10–15).
Es scheint mir zur Skizzierung des Buchinhaltes hinreichend informativ die jeweiligen Überschriften der einzelnen Buchteile sowie der dort versammelten Kapitel wiederzugeben; sie sind prägnant. Jedenfalls wüsste ich nicht, wie auf anderem Wege der Buchinhalt in gebotener Kürze besser dargestellt werden könnte.
Die Einleitung (Kap.1) darf man als Horizonteröffnung lesen, da hier für die spätere Lektüre relevante Themen angerissen bzw. bedeutsame Aspekte eingeführt werden:
- Schlüsselsituationen in der Erlebnispädagogik
- Praxis und Theorie, zwei Seiten einer Medaille
- Was tun Erlebnispädagoginnen und -pädagogen?
- Was und wie erleben die Teilnehmer erlebnispädagogische Programme?
- Die Methode der ethnografischen (teilnehmenden) Beobachtung
- Wer ist ein Erlebnispädagoge und um was geht es in der Erlebnispädagogik?
- Schlüsselsituationen
Teil I: Die Praxis der Erlebnispädagogik: Was tun Erlebnispädagogen? enthält folgende vier Kapitel:
- Der Übergang in den erlebnispädagogischen Raum
- Reduktion von Komplexität und die Bildung von Vertrauen
- Positionierungspraktiken
- Beobachten, Handeln, Deuten
Teil II: Die Praxis der Erlebnispädagogik: Was und wie erleben die Teilnehmer? hat ebenfalls vier Kapitel – und zwar diese:
- Missgeschicke erleben: Vom Umgang mit dem Scheitern
- Leiblich-mimetische Resonanz
- Die affektive Betroffenheit durch Atmosphären und die Lesbarkeit der Natur
- Die Erfahrung der Wirklichkeit: Raumaneignung und Selbstentfaltung durch Bewegung
Teil III: Theorie der Erlebnispädagogik wartet mit diesen sechs Kapiteln auf:
- Zwischen Alltag und Alaska – die zwei Seiten der Bildung
- Der Raum als „dritter Erzieher“
- Empfinden, Spüren, Erleben: Leibphänomenologische Grundlagen
- Was ist Erlebnispädagogik? Strukturmerkmale einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen
- Lernmodelle in der Erlebnispädagogik
- Professionell Handeln: Vom Umgang mit Paradoxien und Dilemmata in außeralltäglichen Räumen
Diskussion
Aufs Ganze des Buches gesehen, sei zunächst notiert: Einen stringenten Zusammenhang zwischen den untereinander sachlich gut verknüpften beiden ersten Teilen und dem dritten mag ich nicht erkennen; vielleicht sind andere Beobachter(innen) da hell-, um- und weitsichtiger. Nach meinem Dafürhalten kann man die Teile I und II einer- und den Teil III gesondert und je für sich lesen, ohne dass dies notwendigerweise mit Informations- und Sinnverlust einher gehen müsste.
Was die Diskussion der Material-Seite hin betrifft, so möchte ich unterscheiden zwischen drei Aspekten: Was habe ich vermisst, wo muss ich widersprechen und worüber würde ich gerne mit dem Autor ins Gespräch kommen.
Was habe ich vermisst? Bei der von Wolfgang Wahl betrachteten Klientel spielt jene, die sich aus „Erlebnispädagogikklassenfahrten“ rekrutiert, eine große Rolle. Das ist sachlich gerechtfertigt, weil „Erlebnispädagogikklassenfahrten“ einen Großteil des Geschäfts von Erlebnispädagogik-Anbieter(inne)n stellen. Nun ist es ja so, dass diese „Erlebnispädagogikklassenfahrten“ in juristischer Hinsicht jeweils dem Schulrecht jener Bundesländer unterliegen, aus denen die jeweiligen Schulklassen stammen. Ferner werden diese Schulklassen ja jeweils von Pädagog(inn)en begleitet oder geführt, die ihre Verantwortlichkeit nicht am Eingangstor (das auch ein bloßes Gatter sein kann) der jeweiligen Institution abgeben können – wenn sie es denn überhaupt wollten. Zudem bleiben die betreffenden „Von-Zuhause-Pädagog(inn)en“ ja offensichtlich nicht in der jeweiligen „Basis-Station“, welcher Art auch immer diese sein möge, liegen oder sitzen, sondern gehen – weil sie müssen oder wollen – mit on tour.
Lassen wir mal die Frage beiseite, wie all dies mit den bundesrechtlichen Regelungen zur Arbeitszeit unter einen Hut gebracht werden kann. Konzentrieren wir uns auf die Frage, wie eigentlich „Vor-Ort-Erlebnispädagog(inn)en“ oder „Teamer(innen) und „Von-Zuhause-Pädagog(inn)en“ in Entscheidungssituationen gegen- oder miteinander agieren. Ich nehme hier nur ein einziges Beispiel, das sich sinngemäß in vorliegendem Buch findet. Da bemerken etwa die „Teamerin“ und die „Von-Zuhause-Pädagogin“, dass auf einer Ein-Tages-Tour die Schülerin M. weit hinterhinkt – hinkt, weil sie sich gestern offensichtlich eine Beeinträchtigung ihres Fußknöchels zugezogen hat. Die Frage ist nicht nur „Was ist zu tun“? – sondern auch: „Wie wird durch und im pädagogischen Inside-/Outside-Duo entschieden, was zu tun ist?“ Wolfgang Wahl hat uns im 15. Kapitel seines Buches berichtet „Vom Umgang mit Paradoxien und Dilemmata in außeralltäglichen Räumen“. Nur fehlt dort eben die Behandlung des hier angesprochenen Punktes. Warum? Erscheint es dem Autor nicht bedeutsam? Oder ist ihm das ein so „heißes Eisen“, dass er es nicht anfassen möchte?
Kommen wir zum zweiten Aspekt von „Diskussion“, dem, wo ich Wolfgang Wahl ausdrücklich widersprechen muss. Er notiert zum Buchanfang: „Ihre [sc. der deutschsprachigen Erlebnispädagogik] Wirksamkeit ist also zu Genüge nachgewiesen.“ (S. 12) Und kurz zuvor werde ich für die postulierte Wirksamkeit der deutschsprachigen Erlebnispädagogik mit dem Hinweis „Heekerens 2019“ in den Zeugenstand gerufen. Es ist nicht ganz klar, worauf sich „Heekerens 2019“ bezieht, denn in seinem Literaturverzeichnis fehlt eine entsprechende Angabe. Es gibt guten Grund zur Annahme, Wolfgang Wahl beziehe sich hier (wie an anderen Stellen, wo er auf „Heekerens, 2019“ verweist) auf mein Buch „100 Jahre Erlebnispädagogik. Rück-, Rund- und Ausblicke“ (Heekerens, 2019) und dort speziell auf den Buchteil „Wirksamkeitsforschung zur Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum: ein Scoping Review“, eine Sekundäranalyse evaluativer Primärstudien nach interdisziplinärem und internationalem Standard.
Ich halte dieses Scoping Review nach wie vor für die methodisch sauberste Analyse der Wirksamkeit erlebnispädagogischer Maßnahmen im deutschsprachigen Bereich, an deren Aussagen deshalb nichts zu ändern ist, weil es primäre Evaluationsstudien, die zu einer Korrektur zwingen würden, seit dem damaligen Berichtszeitraum (Mitte der 2019er) nicht gegeben hat. Ich zitiere hier aus meiner zusammenfassenden Bewertung: „Selbst wenn wir Fragen der internen Validität als hinreichend befriedigend ansehen könn(t)en, wären die unter dem Aspekt der externen Validität aufgeworfenen so groß, dass wir keine einfache und klare Auskunft darüber geben, ob Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum ihre Wirksamkeit überzeugend nachgewiesen hätte. Das gilt selbst für die Gruppe der 'Erlebnispädagogikklassenfahrten'.“ (Heekerens, 2019, 163–164) An einem Beispiel illustriert: Würde die deutschsprachige Erlebnispädagogik bei einer Institution, die dem Wissenschaftlichen Beirat vergleichbar und dessen Kriterien anlegend, die bisherigen Evaluationsstudien vorlegen zur Prüfung der Frage, ob denn die Erlebnispädagogik ein „wirksames“ Verfahren im Sinne der interdisziplinären und internationalen Evaluationsforschung sei, so wäre die Antwort ein klares „Nein“!
Dergleichen ficht Wolfgang Wahl nicht an. Er befindet sich damit in „bester Gesellschaft“, denn die deutschsprachige Pädagogik im Allgemeinen und die Sozialpädagogik im Besonderen hat sich seit Jahr und Tag gleichsam darauf verschworen, die Kriterien der interdisziplinären und internationalen Evaluationsforschung schlichtweg zu ignorieren (Heekerens, 2016a). Ich habe vor Jahren am Beispiel psycho-sozialer Interventionen im Rahmen der deutschen Sozialen Arbeit demonstriert, dass nur behauptet wird, nicht aber bewiesen ist, dass hier irgendein nachweisbarer Nutzen für die Klientel generiert würde (Heekerens, 2016b). Wolfgang Wahl befindet sich also in bester (sozial-)pädagogischer Gesellschaft, wenn er sich in Sachen „Wirksamkeit der Erlebnispädagogik im deutschsprachigen Raum“ eine Wirklichkeit konstruiert, die zu seinen Vorstellungen passt. Wolfgang Wahl reitet in seinem Buch mehrere Attacken gegen das, was er für „Konstruktivismus“ hält. Dass er selbst quasi by doing ein praktizierender Konstruktivist erster Klasse ist, entgeht ihm.
Kommen wir zum dritten „Diskussions“-Part. Jenem, in dem – ansatzweise und beispielhaft – Punkte oder Sujets anzuführen sind, über die ich mit dem Autor gerne ins Gespräch kommen würde, da mir hier die dafür notwendige gemeinsame Basis vorhanden zu sein scheint.
Nehmen wir als Erstes Beispiel dieses. Da heißt es anfangs: „Einem kritischen Betrachter der Szene erscheint die Erlebnispädagogik kaum mehr als ein Sammelbegriff für alle möglichen, unkonventionellen Lehr- bzw. Lernmethoden zu sein. Deren Erfolg liegt vor allem darin begründet, dass sie im Ungefähren belässt, was es mit dem Erlebnis in der Pädagogik genau auf sich hat.“ (S. 11) Und später notiert er: „Um sich nicht mit den historischen Altlasten der Lebensphilosophie, der Hermeneutik oder Phänomenologie auseinandersetzen zu müssen, beschäftigt sich die 'moderne' Erlebnispädagogik mit dem Begriff des Erlebnisses so gut wie gar nicht mehr.“ (S. 153–154). Ich weiß nicht, wen Wolfgang Wahl zur „modernen“ Erlebnispädagogik zählt. Offensichtlich andere als ich. Im Sommer 2021 erscheinen in der Zeitschrift e&l, das ich zu den Publikationsorganen der „modernen“ Erlebnispädagogik zähle, gleich zwei Artikel, die das angesprochene Thema berühren. Und das aus der Feder von Autoren, denen ich die Zugehörigkeit zur „modernen“ Erlebnispädagogik nicht absprechen möchte.
Der erste angesprochene Artikel stammt von Rainald Baig-Schneider, der 2012 das Buch „Die moderne Erlebnispädagogik. Geschichte, Merkmale und Methodik eines pädagogischen Gegenkonzepts“ (Baig-Schneider, 2012) vorgelegt hat, und hat als Überschrift „Entwicklungsprozesse zur modernen Erlebnispädagogik im internationalen Kontext“, wo es heißt:
„1996 führte Jörg Ziegenspeck, mit seiner Rückbesinnung auf die Reformpädagogik und auf die geisteswissenschaftliche pädagogische Tradition rund um Wilhelm Dilthey, eine neue Tradition der theoretischen Begründung der 'Erlebnis-Pädagogik' ein. Damit wurde das Erlebnis als pädagogischer Begriff in die pädagogische Geschichte integriert und Bezüge zu Rousseau, Pestalozzi, Kerschensteiner usw. möglich. Der erlebnispädagogische Baum erhielt damit viele Äste und Blätter. Eine theoretisch stringente Begriffsklärung unterblieb aber. Allerdings entstanden einige an Ziegenspeck anschließende, vielversprechende, jedoch wenig rezipierte, Ansätze zur inhaltlichen Klärung des Begriffs. Mit diesen Ansätzen kann Erlebnis und Erleben differenziert dargestellt und für die Erlebnispädagogik pädagogisch nutzbar gemacht werden.“ (Baig-Schneider, 2021, S. 60) Das klingt nicht nach einem „Aus“ für die „Erlebnis“-Debatte.
Der zweite e&l-Beitrag vom Sommer 2021 stammt von Hans G. Bauer, dem langjährigen 1. Vorsitzenden des Bundesverbandes Individual- und Erlebnispädagogik, und trägt den Titel „Der Corona (Alb-)Traum der Erlebnispädagogik“. Dort erklärt er: „Der sprachlich so schlicht daherkommende Begriff des 'Erlebnisses', mit ihm schier zwillingshaft verknüpft der der 'Erfahrung', (ver-)birgt eine Fülle von unterschiedlichen Verständnissen und Formen des Umgangs mit ihm.“ (Bauer, 2021, S. 42) Das hört sich nicht so an, als gehörte die Sache mit dem „Erlebnis“ zum alten Eisen.
Ich habe sowohl in meinem vorletzten Buch zur Erlebnispädagogik (Heekerens, 2019) als auch – und das vermehrt – in meinem jüngsten (Heekerens, 2021) gute Gründe dafür vorgebracht, das Konzept „Erlebnis“ mit aller Nüchternheit, die sich aus historischen und sachlichen Gründen ergibt, zu betrachten. Ich bin ein erklärter Gegner eines Modells „'Erlebnis' mit Pomp und Gloria“. Nur halte ich die Debatte zur Thematik im Unterschied zu Wolfgang Wagner eben noch nicht für beendet. Es würde der Sache „Erlebnispädagogik“ schaden, täte man dies. Denn hier wird die zentrale Frage angesprochen, was denn unter all den Blumen des großen und bunten Straußes „erlebnisorientierte Pädagogik“ jene eine auszeichnet, die sich „Erlebnispädagogik“ nennt. Was ist ihr spezifisch Eigenes, was macht ihre differentia specifica aus, was ist ihr Proprium? Wenn wir diese Frage offenhalten, können wir das vorliegende Buch auch als Diskursbeitrag zu einer unabgeschlossenen Frage behandeln.
Dann das Thema „Vertrauen“. Ich bin Wolfgang Wahl sehr dankbar dafür, dass er „Vertrauen“ als praktisch bedeutsames und theoretisch zu klärendes Thema auf die Agenda gesetzt hat. „Vertrauen“ ist nach meiner Einschätzung eine der, wenn nicht die zentrale Komponente der Beziehungsgestaltung bei erlebnispädagogischen Unternehmungen – sowohl zwischen Leiter(inne)n oder Teamer(inne)n und den Teilnehmer(inne)n als auch zwischen den Teilnehmer(inne)n selbst. Ich habe den in der erlebnispädagogischen Literatur des deutschsprachigen Raumes nahezu nicht thematisierten Punkt „Beziehungsgestaltung“ als auf die Tagesordnung zu setzenden vor knapp einem Jahrzehnt angemahnt (Heekerens, 2012) – und zwar im Nachgang zu meinen Reflexionen über „Beziehungsgestaltung in Form von Pädokriminalität“ an der Odenwaldschule in Ober-Hambach (OSO; Heekerens, 2010). Ausgeführt habe ich dazu freilich nichts; mir erschien die von mir schon früher behandelte Frage der Evidenzbasierung der Erlebnispädagogik wichtiger (Heekerens, 2013, 2018) und in meinen beiden Büchern (Heekerens, 2019, 2021) drängten sich andere Themen in den Vordergrund.
Umso mehr weiß ich zu würdigen, dass sich Wolfgang Wahl dem Thema „Vertrauen“ breit gewidmet hat; nach Auskunft des Sachverzeichnisses ist davon auf 21 Buchseiten die Rede. Wolfgang Wahl stützt sich bei seiner Behandlung der „Vertrauens“-Thematik weitgehend, wenn nicht ausschließlich auf Niklas Luhmanns (2014) „Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität (Konstanz – München: UVK). Ich schätze dieses Buch in mindestens demselben Maße wie das Werk desselben Autors (Niklas Luhmann, 1990) „Risiko und Gefahr“ (Aulavorträge 48; St. Gallen: Hochschule St. Gallen). Ich habe mich bei meinen Publikationen zur „Risiko-“Thematik (Heekerens, 1995, 2019) stets an diesem Buch orientiert. Und habe bei meinen Arbeiten die Erfahrung gemacht, dass man die – ohne Zweifel brillanten – Gedanken Niklas Luhmanns zu „Risiko und Gefahr“ für lebenspraktische Fragen nicht einfach „herunterbrechen“ kann, sondern „Vermittler(innen)“ sozialpsychologischer und psychologischer Provenienz braucht.
Und genau solche vermisse ich bei Wolfgang Wahls Ausführungen zur „Vertrauensfrage“. Um es zu illustrieren: Beim „Vertrauensfall“ helfen uns die Überlegungen des Soziologen Niklas Luhmanns zur „Reduktion sozialer Komplexität“ wenig – ganz sicher wenig in praxisrelevanter Hinsicht. Der erlebnispädagogisch-alltägliche „Vertrauensfall“ ist der Musterfall der praktisch gewendeten „Vertrauens“-Frage. Und da frage ich Wolfgang Wahl: Wollen Sie das auf der Basis hoch-abstrakter Begrifflichkeiten, wie sie Niklas Luhmann zu bieten hat regeln – oder zumindest glauben, regeln zu können? Wäre es nicht sinnvoll, wenn gar nicht notwendig, sich der einschlägigen Expertise der (Sozial-)Psychologie zu vergewissern. Etwa der des allzu früh verstorbenen Franz Petermann in und mit seinem Buch „Psychologie des Vertrauens“ (4. überarb. Aufl., Göttingen: Hogrefe).
Kommen wir zu einem weiteren Punkt, der beispielhaft illustrieren mag, dass es sich mit dem Autor zu diskutieren lohnt. Auf Helmuth Plessner geht die Formulierung zurück, dass wir einen Körper haben, aber ein Leib sind. Die sinngemäße Urformulierung findet sich auf S. 43 des im – von den Nazis erzwungenen – niederländischen Exil verfassten und schon unter Wehrmachtsbesatzung erschienenen Buches „Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“ (Arnhem: Van Loghum Slaterus). Jenes Diktum enthält gleich zwei Grund-Unterscheidungen: Die von „Haben und Sein“ sowie jene von „Körper und Leib“. Hauptsächlich mit der zweiten Unterscheidung arbeitet Wolfgang Wahl im vorliegenden Buch. Das verwundert niemanden, der weiß, wo dessen geistige Ursprünge liegen: Er wurde promoviert mit einer Schrift, die 1998 unter dem Titel „Feuerbach und Nietzsche. Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und des Leibes in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts“ (Würzburg: Ergon) veröffentlicht wurde. Noch im selben Jahr erschien in Heft 6 der e&l (S. 19–23) sein Artikel „Unmittelbarkeit oder Vermittlung? Überlegungen zum Erlebnis-Begriff in der Pädagogik“. Seit Lektüre jenes e&l-Beitrages lese ich Publikationen von Wolfgang Wahl.
Man muss nicht alles von ihm lesen, aber was die Thematik „Körper – Leib“ betrifft, so empfehle ich aufmerksame und be-sinnliche Lektüre. Ich wurde ab 1977 an dem 1974 gegründeten Fritz Perls Institut für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung (FPI) in Gestalt(psycho)therapie/Integrativer Therapie ausgebildet. Einer der FPI-Gründer und einer meiner Ausbilder, Hilarion Petzold, hat im Anschluss an den vom ihm hochgeschätzten Gabriel Marcel immer wieder und in aller Dringlichkeit er- und gemahnt, auf die – auch und vor allem gesellschaftlich konstruierten – Unterschiede von „Körper“ und „Leib“ zu achten (Petzold, 2009). Mein Lehrtherapeut war nicht nur Gestalttherapeut, sondern auch Bioenergetischer Therapeut. Ich hatte bei und mit ihm viele leibhafte Erfahrungen dafür und dazu, was den – fundamentalen! – Unterschied zwischen „Körper“ und „Leib“ ausmacht. Ich wünsche mir, Erlebnispädagog(inn)en nähme diesen Impuls des Wahlschen Buches auf. Würden wir jenes Element der Hahnschen „Erlebnistherapie“, das unter dem Begriff „Körperliche Übungen“ daher kommt, in Herz und Hirn konzipieren als „Leibliche Übungen“, unser Handeln fiele anders aus. So meine These.
Ich fühle mich zu dieser auch weiterhin ermuntert. Am Philosophischen Seminar meiner Heimat-Universität Heidelberg wurde eine Karl-Jaspers-Professur für philosophische Grundlagen der Psychiatrie eingerichtet, um Brücken zwischen Philosophie, Psychiatrie und Neurowissenschaften zu schlagen. Am 1. Mai 2010 wurde der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs auf die Professur berufen. Dessen prägnanten Beitrag „Zwischen Leib und Körper“ (S. 82 – 93) in dem 2013 von Martin Hähnel und Marcus Knaup herausgegebenen Sammelband „Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit“ (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft) empfehle ich näher Interessierten als Einstiegslektüre. Thomas Fuchs ist im Gespräch mit der österreichischen Integrativen Therapie (Stefan, 2018); davon könnte die Erlebnispädagogik lernen, wie man mit Thomas Fuchs in einen fruchtbaren Dialog treten kann.
Eine der bedeutendsten Schriften von Thomas Fuchs trägt den Titel „Leib – Raum – Person. (Stuttgart: Klett-Cotta, 2. Aufl. 2018). In phänomenologischer Tradition kann man zu „Raum“ nicht schweigen, wenn man von „Leib“ spricht. Das tut Wolfgang Wahl denn auch nicht. Er widmet „Raum“ einigen Platz in sonstigen Kapiteln und Kapitel 11 ganz diesem Thema: Der Raum als „dritter Erzieher“. Damit sind wir beim letzten Punkt, der anzeigen soll, dass sich die Diskussion mit Wolfgang Wahl lohnt. Und an diesem Punkt zeigt sich auch die Gefahr, dass phänomenologisches Denken sich allzu schnell in dunklem Geraune mehr verhüllt als offenbart. Nehmen wir zur Anschauung jene Passage aus dem Wahlschen Werk, wo er sich direkt auf das Werk „Gefühlsraum“ von Hermann Schmitz (1969), der als Begründer der Neuen Phänomenologie gilt, bezieht. Die relevante Passage im Wahlschen Werk hat folgenden Text:
„Für ein Verständnis dessen, was beim Erleben vor sich geht, ist es wichtig, kurz auf die von Schmitz so bezeichnete Räumlichkeit der Gefühle einzugehen. Entgegen der in der Psychologie dominanten Vorstellung, Gefühle seien subjektive Emotionen, die Körperzustände oder Wahrnehmungen einer Person begleiten, versteht Schmitz Gefühle als räumliche Phänomene, die unabhängig vom Wahrnehmenden existieren. Gefühle sind Atmosphären, die den Menschen umgeben, ihnen widerfahren und am eigenen Leibe spürbar werden (Schmitz 1969, S. 91 ff.). So kann beispielsweise die leibliche Atmosphäre einer hügeligen Landschaft gleichermaßen wie das Schroffe einer felsigen Landschaft von Besuchern am eigenen Leib gespürt werden.“ (S. 167)
Es geht hier nicht um die (Neben-)Frage, ob Wolfgang Wahl Hermann Schmitz richtig verstanden hat oder nicht, sondern um die (Haupt-)Frage, was man von dem zu halten, was Wolfgang Wahl – sich nun zu Recht oder zu Unrecht auf Hermann Schmitz berufend – als seine Meinung vorträgt. Gegen diese lege ich Widerspruch ein: Ob eine Wiesenlandschaft „lieblich“ und eine Felsküste „schroff“ ist, liegt im Auge des Betrachters oder – in Luhmannscher Formulierung – ist das Urteil eines externen Beobachters. Und zwei Beobachter(innen) können beim gleichzeitigen Anblick derselben Landschaft dieser ganz andere Bezeichnungen geben.
Dass zwei, mehrere, viele oder gar alle Beobachter(innen) von „Natur“ zum selben Beobachtungsurteil – etwa „ehrfurchtgebietend“ – kommen, ist kein Beweis dafür, dass jenes Prädikat eine Eigenschaft der „Natur“ als solcher sei. Die Einheitlichkeit des Urteils, das sich nur zum geringsten Teil, wenn überhaupt, bewusster Reflexion verdankt, könnte einfach Folge eines kollektiven Klischees sein. Solche kollektiven Klischees haben einen mehr oder minder großen numerischen Umfang. Fahren Sie in einer von einem beliebigen Reiseunternehmen zusammengesammelten Gruppe in irgendeine alte Stadt an der kroatischen Küste. Da wird beim Anblick eines bestimmten Gebäudes den einen das Herz aufgehen, weil sie unter dem bröckelnden Putz istrische Marmorquadern aus Venezianischer Zeit sehen, die vom „Modernisierungswahn“ verschont wurden, während andere sich schnell einig werden darin, dass „hier mal was gemacht werden müsste“ – und im Geiste schon Baugerüste errichteten. Man ahnt: Beide Gruppen lassen sich anhand von einer Handvoll Kriterien sozio-ökonomischer Kriterien recht trennscharf unterscheiden.
Manchmal gibt es sogar Großklischees, die nicht nur Bildungs-, sondern sogar Landesgrenzen überschreiten. Das gilt beispielsweise für die Art und Weise der Produktion von Bezeichnungen des großen „Natur“-Raumes der Alpen. Matthias Stremlow hat in „Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena“ (Bern – Stuttgart – Wien: Paul Haupt, 1998) eindrucksvoll Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700 dargelegt. Nicht „die Alpen“ haben sich gewandelt, wohl aber in Folge gesellschaftlicher Veränderungen die Beobachter(innen).
Fazit
Lesen? Ja unbedingt! Geist- und kritiklos lesen: Nein, nein und nochmals nein! Das vorliegende Buch hat ein Recht auf Würdigung. Es wird in wenigen Jahren zu den Büchern gezählt werden, die einen Beitrag zur systematischen Identität einer Modernen Erlebnispädagogik geleistet haben. Selbst wenn man alles, was Wolfgang Wahl hier jenseits des Anekdotischen und Praxeologischen vorgebracht hat, qualifiziert in Frage stellen wollte, so würde allein solches Befragen, wenn es denn geist- und kenntnisreich sein sollte, einen qualitativen Fortschritt im Diskurs der Erlebnispädagogik bedeuten. Wer bei der Diskussion um eine disziplinäre Begründung der Erlebnispädagogik künftig mitreden will, kommt – will sie oder er sich nicht der Verkennung zeihen lassen – an Wolfgang Wahl nicht vorbei.
Quellen
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Bauer, H.G. (2021). Der Corona (Alb-)Traum der Erlebnispädagogik. e&l, 29(3&4), 42–45.
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Heekerens, H.-P. (2018). Ergebnis- und Prozessforschung in der Erlebnispädagogik. In W. Michel & H. Seidel (Hrsg.), Handbuch Erlebnispädagogik (S. 314–321). München: Reinhardt.
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Heekerens, H.-P. (2021). Outward Bound in der Bonner Republik. Goßmannsdorf: ZKS-Verlag (im Druck und Online-Publikation).
Petzold, H. (2009). Körper-Seele-Geist-Welt-Verhältnisse in der Integrativen Therapie. Der „Informierte Leib“, das „psychophysische Problem“ und die Praxis. Psychologische Medizin, 20/2009, 20–33. Verfügbar unter: https://www.fpi-publikation.de/downloads/?doc=textarchiv-petzold_pdf-petzold-2009c-koerper-seele-geist-welt-verhaeltnisse-in-der-integrativen-therapie.pdf.
Stefan, R. (2018). Thomas Fuchs im Gespräch mit der Integrativen Therapie. Ko-respondenzen und Differenzen. Resonanzen-journal, 1/2018, S. 3–19. Verfügbar unter: file:///C:/Users/HANS-P~1/AppData/Local/Temp/415-1591-1-PB.pdf.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 08.09.2021 zu:
Wolfgang Wahl: Erlebnispädagogik. Praxis und Theorie einer Sozialpädagogik des Außeralltäglichen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2021.
ISBN 978-3-7799-6458-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28411.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
Urheberrecht
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