Anna Juliane Heinrich, Séverine Marguin et al. (Hrsg.): Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung
Rezensiert von Mandy Hauser, 03.04.2023
Anna Juliane Heinrich, Séverine Marguin, Million Angela, Stollmann Jörg (Hrsg.): Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung. transcript (Bielefeld) 2021. 400 Seiten. ISBN 978-3-8252-5582-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 37,50 sFr.
Thema
In den Kultur- und Sozialwissenschaften gewinnt der Raum bzw. die Verräumlichung spätestens seit dem sogenannten spatial turn in den 1990er Jahren an Bedeutung. Die Kategorie Raum geht dabei weit über das physikalische oder geografische Verständnis des Raumbegriffs hinaus und kann als ein Ordnungsversuch der Komplexität gesellschaftlicher Phänomene und Wandlungsprozesse verstanden werden, der je nach Fragestellung unterschiedliche Raumkonzeptionen und -theorien hervorbringt. Ebenso komplex wie die betrachteten gesellschaftlichen Phänomene stellt sich auch deren empirische Erfassung und Analyse im Rahmen interdisziplinärer Raumforschung dar. Durch die interdisziplinäre Verschränkung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und damit zusammenhängend differenter methodologischer und methodischer Traditionen und Vorgehensweisen entfaltet sich eine Vielfalt empirischer Instrumentarien, die einer fokussierten Reflexion über deren Einsatz(möglichkeiten) zur Erforschung von Räumen bedarf – dieser Aufgabe stellt sich die vorliegende Herausgeber:innenschaft.
Herausgeber:innen
Dr. Anna Juliane Heinrich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Städtebau und Siedlungswesen am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin.
Dr. Séverine Marguin ist Soziologin und Leiterin des Methodenlabs im Sonderforschungsbereich SFB 1265 »Re-Figuration von Räumen« an der Technischen Universität Berlin
Prof. Dr. Angela Million ist Professorin für Städtebau und Siedlungswesen am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin sowie Ko-Direktorin des „DAAD – Global Center of Spatial Methods for Urban Sustainability“.
Prof. Dr. Jörg Stollmann ist Professor für Städtebau und Urbanisierung am Institut für Architektur der Technischen Universität Berlin.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber:innen arbeiten gemeinsam in dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 1265 „Re-Figuration von Räumen“ an der Technischen Universität Berlin. Der Sonderforschungsbereich (SFB) untersucht die sozialräumlichen Veränderungen, die u.a. durch Bedingungen und Phänomene der Globalisierung, wie die Intensivierung transnationaler Formen des Wirtschaftens oder die Entwicklung und Verbreitung digitaler Kommunikationstechnologien seit den späten 1960er Jahren verursacht wurden. Der SFB arbeitet im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsverbunds mit Vertreter:innen der Geographie, Soziologie, Architektur, Medien- und Kommunikationswissenschaften und Kunst. Aus der Erfahrung der interdisziplinären Zusammenarbeit im SFB und dem Desiderat eines Handbuchs für qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung mit „How-To-Charakter“ (Heinrich et al. in diesem Buch, 10) entstand die Idee zur vorliegenden Herausgeber:innenschaft.
Aufbau
Der Aufbau weicht von der klassischen Gliederung eines Methodenhandbuchs ab. Statt der dreiteiligen Gliederung in Erhebung, Auswertung, Ergebnispräsentation erfolgt im vorliegenden Handbuch nach dem theoretischen und übergreifenden methodologischen Kapitel Raum erforschen eine Gliederung der Kapitel entlang der verschiedenen Zugänge zu Erkenntnissen über Raum: Sprechen & Erzählen; Beobachten & Erleben; Zeichnen & Visualisieren; Lesen & Rezipieren. Die Herausgeber:innen begründen diese Vorgehensweise zum einen mit der Möglichkeit, die verschiedenen disziplinären Zugänge innerhalb der Kapitel mischen zu können. Zum anderen argumentieren sie, dass die im Handbuch dargestellten und reflektierten Methoden häufig eine Verschränkung von Erhebung, Auswertung und Ergebnispräsentation aufweisen und eine Kategorisierung und Trennung der Methoden entlang der klassischen Dreiteilung nicht zielführend erscheint.
Inhalt
Kapitel I. Raum erforschen: Theoretische und Übergreifende methodologische Aspekte der Qualitativen Raumforschung befasst sich mit grundlegenden methodologischen Überlegungen und umfasst acht Beiträge. Im ersten Beitrag spricht Martina Löw mit zwei der Herausgeberinnen, Anna Juliane Heinrich und Séverine Marguin, über die Beziehung zwischen Theorien und Methoden der qualitativen Raumforschung. Im zweiten Beitrag des Kapitels äußert sich Ignacio Farías und Julio Paulos zu Fragen des Raums in der Akteur-Netzwerk-Theorie und verdeutlichen die Potenziale dieses Ansatzes für die Raumforschung. Im folgenden dritten Beitrag widmet sich Sandra Huning queer/​feministischen Perspektiven auf die qualitative Raumforschung und wirft einen kritischen Blick auf hegemoniale Formen der Wissensproduktion und kennzeichnet Möglichkeiten kritisch-reflexiver Raumforschung. Für den vierten Beitrag des Kapitels übersetzte Sarah Eltz einen Aufsatz von Gillian Rose über das Verhältnis von visuellen Forschungsmethoden und zeitgenössischer visueller Kultur, der 2014 in The Sociological Review erschien und sich an die nach wie vor aktuellen Debatte über die Produktion von Wissen durch Wissenschaftler:innen und die Produktion von Wissen durch soziale Akteure anlehnt. Anke Haarmann schreibt im fünften Beitrag zur künstlerischen Raumforschung und erfragt die Möglichkeit ästhetischer Methoden in der Raumforschung. Der sechste und siebente Beitrag ist jeweils von Gabriela Christmann und Nina Baur verfasst, wobei sich ein Beitrag mit der Frage der Konstruktion der Begriffe Fall, Kontext und Kultur im Forschungsprozess befasst; der zweite auf die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von notwendiger Fallauswahl und der Generalisierbarkeit von Forschungsergebnissen zielt. Im achten und letzten Beitrag des ersten Kapitels analysiert Anna Juliane Heinrich das Verhältnis von visuellen und verbalen qualitativen Daten sowie der Integration beider Datentypen innerhalb eines Forschungsprojekts.
Im Kapitel II. Sprechen & Erzählen geht es in fünf Beiträgen um die Produktion von Erkenntnissen über die Methode des Interviews. Gunter Weidenhaus und Maria Norkus widmen sich im ersten Beitrag den Besonderheiten biografisch-narrativen Interviews in der Erhebung und Analyse von Raumwissen. Sarah Klepp und Felix Bentlin schreiben im zweiten Beitrag zur Verbindung verbaler und visueller Erhebungsmethoden und der Anwendung des biografischen Zeitstrahls als grafisches Elizitationsverfahren. Im dritten Beitrag geht Cornelia Thierbach auf die Herausforderung ein, Menschen über Räume sprechen zu lassen und widmet sich hierbei den Anforderungen und Möglichkeiten von Leitfadeninterviews. Vivian Sommer und Mandy Töppel stellen im anschließenden vierten Beitrag die Methode des Go-Alongs als „Spielart der sogenannten Walking-with-Interviews“ (Sommer, Töppel in diesem Buch, 200) vor und beziehen ihre Erkenntnisse auf den Einsatz der Methode in der qualitativen Raumforschung. Im fünften und letzten Beitrag des Kapitels reflektieren Janina Dobrusskin, Ilse Helbrecht, Anthony Miro Born und Carolin Genz zur Methode bildgestützter Interviews in der Raumforschung am Beispiel der Foto-Elizitation.
Kapitel III. Beobachten & Erleben fokussiert in fünf Beiträgen auf Methoden und methodologische Ansätze, die über das Beobachten und Erleben Erkenntnisse generieren. Im ersten Beitrag schreiben Caroline Genz und Aylin Yildirim Tschoepe zur ethnografischen Erforschung von Räumen und Raumpraktiken, kennzeichnen methodische und methodologische Besonderheiten sowie Anwendungsfelder und Potenziale und diskutieren die teilnehmende Beobachtung als zentrale Methode. Hubert Knoblauch und René Tuma befassen sich im zweiten Beitrag mit der Rolle des Raums in der Videografie und der videogestützten Interaktionsanalyse und wenden sich den methodologischen und methodischen Aspekten der Videografie im Kontext der Raumforschung ebenso zu wie den Herausforderungen bspw. in der Erfassung sogenannter „synthetischer Räume“ (Knoblauch, Truma in diesem Buch, 247). Der dritte Beitrag des Kapitels wurde von Michael Wetzels verfasst, der sich der Methode der fokussierten Ethnografie und deren Eignung zur Erforschung von Raum widmet und dies anhand des professionalisierten Fussballs exemplarisch verdeutlicht. Eric Lettkemann setzt sich im vierten Beitrag mit den Herausforderungen der Erfassung hybrider (digital-analoger) Räume auseinander und führt mit der Webnografie 2.0 ein Verfahren an, welches verschiedene Methoden so kombiniert, dass die Nutzung und Wahrnehmung hybrider Räume erforscht werden kann. Im fünften Beitrag gibt Zuzana Taba
ková einen Überblick über Methoden und Werkzeuge der Ortsbegehung, geht auf die Synthese der Erkenntnisse im Rahmen einer Ortsanalyse ein und widmet sich abschließend dem Dilemma der Subjektivität in der Forschung.
Das Kapitel IV. Zeichnen & Visualisieren vereint sechs Beiträge. Im ersten diskutiert Angela Million Mental Maps und narrative Landkarten zur Erforschung von Raumwissen, – wahrnehmung und Relevanzzuschreibungen. Felix Bentlin schreibt im zweiten Beitrag zur „Städtebaulichen Schichtenanalyse als Instrument der Disziplin des Städtebaus und erläutert deren Relevanz für planerische Eingriffe und raumwissenschaftliche Weiterentwicklungen“ (Bentlin in diesem Buch, 324). Daran anknüpfend verfolgen Dagmar Pelger, Emily Kelling und Jörg Stollmann im dritten Beitrag das Ziel, das multiskalare Mapping „als entwurfsbasiertes Werkzeug für die Analyse urbaner Räume und Lebensformen interdisziplinär anwendbar zu machen.“ (Pelger et al. in diesen Buch, 327). Auch Julia Fülling, Linda Hering und Elmar Kulke widmen sich im vierten Beitrag der Methode des Mappings und zeigen am Beispiel einer Einzelhandelskartierung einen Vorschlag für ein raumsensibles Mixed-Method-Design auf, welches parallel mit den Methoden Kartierung und Foto-Dokumentation arbeitet. Im fünften Beitrag geht Stefanie Bürkle auf bildbasierte künstlerische Methoden und deren Bedeutung in Bildender Kunst und Raumforschung ein und erläutert deren Anwendung am Beispiel eigener künstlerischer Forschung zu Migration und Räumen sowie der Identität von Architektur im Kontexte türkischer Remigration. Severine Marguin, Dagmar Pelger und Jörg Stollmann besprechen im sechsten Beitrag die Methode des Mappings als Möglichkeit der Synthese, Integration und raumbezogenen Darstellung heterogener Daten im Anlehnung an das Werkzeug des Joint Displays.
Kapitel V. Lesen & Rezipieren bildet das Abschluss des Handbuchs. Lesen und Rezipieren werden hier als methodische und methodologische Zugänge zur Raumforschung besprochen. Jannis Hergesell kennzeichnet im ersten Beitrag die Methodologie historisch-prozessorientierter Analyse von Raum als Desiderat in der Raumforschung und stellt darauf Bezug nehmend deren Kerndimensionen dar und erläutert die Periodisierung als ein Verfahren historisch-prozessorientierter Analyse aus der Geschichtswissenschaft. Im zweiten Beitrag stellen Ignacio Castillo Ulloa und Jona Schwerer die qualitative Meta-Analyse als ein synthetisierendes Verfahren vor, erläutern wie es das Verfahren ermöglicht, auch große Mengen an Datenmaterial zu untersuchen und welches Potenzial sich für die interdisziplinäre Raumforschung ergibt. Daran anschließend wenden sich Vivien Sommer und Kamil Bembnista im dritten Beitrag der methodologischen Verknüpfung von Diskurs und Raum zu, stellen ihr multimodales Forschungsprogramm vor und verdeutlichen die multimodale Analyse mit empirischen Beispielen aus ihrer Forschungspraxis. Im abschließenden vierten Beitrag widmen sich Daniela Stoltenberg, Barbara Pfetsch und Annie Waldherr der Geolokalisierung digitaler Daten, geben einen Überblick über verschiedene Verfahren der automatisierten Geocodierung und erläutern deren Anwendung sowie Vor- und Nachteile anhand eigener Fallbeispiele.
Im Anschluss an die inhaltlichen Kapitel werden alle Autor:innen alphabetisch genannt und mit Blick auf ihre aktuelle(n) Tätigkeit(en) sowie Forschungsschwerpunkte disziplinär verortet.
Diskussion
Die Herausgeber:innen formulieren den Anspruch, ein interdisziplinäres, an der Forschungspraxis orientiertes Handbuch zur qualitativen Erforschung von Räumen zu publizieren und lösen dieses Vorhaben in Gänze ein. Im Handbuch werden etablierte Methoden ebenso wie innovative methodische und methodologische Überlegungen praxisnah diskutiert und erläutert und mit den grundlegenden und vielfältigen Anliegen der Raumforschung verbunden. Die Gliederung der Kapitel entlang der verschiedenen Zugänge zur Generierung von Erkenntnissen über Raum und damit die Abkehr von der traditionellen Dreiteilung (Erhebung, Auswertung, Ergebnispräsentation), der viele Methodenhandbücher folgen, lässt sich mit Blick in die einzelnen Beiträge absolut nachvollziehen. Dieses Vorgehen spiegelt einerseits die Komplexität des Erforschens von Raum wieder und weist andererseits auf die Verwobenheit einzelner Forschungsschritte hin.
Beeindruckend am vorliegenden Handbuch ist nicht nur die quantitative Vielzahl an Beiträgen, sondern auch die qualitative Pluralität der methodologischen und methodischen Zugänge und die Interdisziplinarität, die sich in der Zusammenarbeit der Autor:innenteams ebenso ausdrückt wie in den Forschungsbeispielen und den jeweils angewandten Methoden. Positiv fällt in diesem Zusammenhang das Kenntlichmachen der disziplinären Verortung der Beitragsautor:innen in der Einleitung des Handbuchs auf. So ist es den Lesenden von Beginn an möglich, nachzuvollziehen, wer aus welcher Perspektive zu den jeweiligen Methoden und Zugängen spricht. So wird Transparenz möglich, die sich auch als Anspruch an Forschung in einzelnen Beiträgen des Handbuchs wiederfindet (siehe bspw. Huning oder Stoltenberg et al. in diesem Buch). Doch auch andere Herausforderungen von (qualitativer) Forschung werden angeführt und kritisch besprochen, so bspw. die „spezifische Positionalität der BetrachterInnen“ (Tabaková in diesem Buch, 288) oder „die Herstellung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“ (Ulloa, Schwerer in diesem Buch, 424).
Bezüglich ihrer Zugänglichkeit für Leser:innen unterscheiden sich die Beiträge und es lassen sich sowohl Beiträge finden, die als vergleichsweise voraussetzungsreich gekennzeichnet werden können als auch jene, die einen barriereärmeren Zugang ermöglichen. Daher eignet sich das Handbuch aus meiner Perspektive für eine heterogene Leser:innenschaft bzw. bietet Anknüpfungspunkte für jede:n, der/die sich forschend dem Konstrukt Raum nähert und nähern möchte. Es eignet sich zur Vertiefung und Erweiterung der eigenen Ideen und Arbeitsweisen ebenso wie für einen Einstieg und Überblick. Zumal programmatisch viele der Autor:innen mit konkreten Forschungsbeispielen arbeiten, um das bessere Nachvollziehen und Verstehen der besprochenen Methoden zu ermöglichen.
Fazit
Das Handbuch gibt einen fundierten und tiefgehenden Einblick in den aktuellen Methodendiskurs der qualitativen Raumforschung und ist durch seine Ausgewogenheit von methodologisch-theoretischer Tiefe und Praxisnähe für eine breite Leser:innenschaft konzipiert und für alle Personen mit Interesse an qualitativen Forschungszugängen empfehlenswert.
Rezension von
Mandy Hauser
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Förderpädagogik/ Kompetenzbereich Geistige Entwicklung der Universität Leipzig
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Zitiervorschlag
Mandy Hauser. Rezension vom 03.04.2023 zu:
Anna Juliane Heinrich, Séverine Marguin, Million Angela, Stollmann Jörg (Hrsg.): Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung. transcript
(Bielefeld) 2021.
ISBN 978-3-8252-5582-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28417.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
Urheberrecht
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