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Riccardo Bonfranchi, Eliane Perret: Heilpädagogik im Dialog

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 04.10.2022

Cover Riccardo Bonfranchi, Eliane Perret: Heilpädagogik im Dialog ISBN 978-3-7639-6580-9

Riccardo Bonfranchi, Eliane Perret: Heilpädagogik im Dialog. Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse. wbv (Bielefeld) 2021. ISBN 978-3-7639-6580-9. 29,90 EUR.
Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen.

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Thema

Die Publikation verfügt über 33 Themen, welche die Autorin und der Autor „für die heutige Diskussion um Pädagogik und insbesondere Heilpädagogik“ (S. 9 f.) für relevant halten. Bonfranchi und Perret führen einen – zum Teil – kontroversen Dialog hierüber. Beide tun dies aus ihrer Fachlichkeit. Während Bonfranchi v.a. das Heilpädagogische im Blick hat, fließen bei Perret dazu noch entwicklungs- oder verhaltenspsychologische Aspekte in ihre Argumentation mit ein.

Das Gespräch der beiden Autoren legt den Fokus auf Menschen mit geistiger Behinderung, schwerster geistiger Behinderung, Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeit. Zu Sinnes- und Körperbehinderten äußern sich die beiden nicht.

AutorInnen

Riccardo Bonfranchi (Jahrgang 1950) war Schulleiter einer Sonderschule, „an der ausschließlich Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung gefördert werden. Ein Spezialgebiet von ihm ist zum einen Ethik und zum anderen die Pädagogik von schwerst- und mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen“ (S. 9).

Eliane Perret war ebenfalls Schulleiterin einer Sonderschule. Ihre Spezialgebiete sind Alfred Adlers Individualpsychologie, sowie die Lern- und Verhaltensauffälligenpädagogik.

Entstehungshintergrund

Zu Beginn haben Bonfranchi und Perret sich über mögliche Themen ausgetauscht, die in der Publikation behandelt werden sollen. O.g. Spezialthemen kamen in diesem Prozess zur Sprache. Beide Autoren haben zu jedem Thema einen Beitrag geschrieben, der dann von dem jeweils anderen Autor kommentiert wurde

Aufbau

Besprochen werden:

  1. Menschenbilder – was sind das für Bilder?
  2. Unterliegt die Schule einem sozialen Wandel?
  3. Beziehung und Bildung – beißt sich das?
  4. Was verstehst du unter Erziehung?
  5. Welche Werte und Normen sind in „Erziehung“ drin?
  6. Heißt es: „Fordern und Fördern“ oder „Fördern und Fordern“?
  7. Wodurch ist ein guter Theorie-Praxis-Bezug gekennzeichnet?
  8. Meine Vorbilder – deine Vorbilder
  9. Ist die Heilpädagogik eine Profession?
  10. Gibt es in der Heilpädagogik ethische Fragestellungen?
  11. Was sagt uns Fachleuten der Heilpädagogik die Neurowissenschaft?
  12. Die ICF – eine Modeerscheinung oder Hilfe im heilpädagogischen Alltag?
  13. Worauf richtet die Diagnose ihren Blick?
  14. ADHS, POS, MCD – was ist es nun?
  15. Wer ist verhaltensauffällig?
  16. Was macht eine gute Methodik des Lernens aus?
  17. Woran orientiert sich die Kompetenzorientierung?
  18. Ist utilitaristisches Gedankengut grundsätzlich des Teufels?
  19. Man spricht von New Public Management und meint was damit?
  20. Wer übernimmt die Verantwortung in der Heilpädagogik?
  21. Warum hatten Heilpädagogische Sonderschulen – anders als die Regelschulen – von Beginn an eine Leitung?
  22. Ist die Integration von Kindern mit Behinderung in die Regelschule sinnvoll?
  23. Resilienz und Vulnerabilität: zwei Seiten derselben Medaille?
  24. Sprache – eine Brücke zum Du
  25. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Individualpsychologie und Heilpädagogik?
  26. Kreativität in der Schule – ein Widerspruch?
  27. Kann man jemand anderen motivieren?
  28. Ist die Klassengemeinschaft eine Gemeinschaft?
  29. Haben Lehrende und Lernende eine Beziehung zueinander?
  30. Braucht es Disziplin und Strafe überhaupt?
  31. Gab es Gewalt und Mobbing in der Schule früher nicht?
  32. Stehen Familie und Schule miteinander in Verbindung?
  33. Werden Eltern durch die Behinderung ihrer Kinder auch behindert?

Inhalt

In dem Dialog kommen bei beiden Autoren Gesichtspunkte zum Vorschein, welche die gesamte Publikation durchziehen. Hier einige Schlaglichter:

Für ein gutes Lernen benötigen Kinder ein persönliches Gegenüber und einen gleichermaßen strukturierten Unterricht, wie Perret feststellt. Lernen und Bildung ist gegenwärtig als ein Beziehungsgeschehen zu verstehen. Dies betrifft auch das Fördern und Fordern. Beides „ist immer eingebettet in Beziehungsabläufe“ (S. 49). „Gerade in der Heilpädagogik ist eine gelingende Beziehung zwischen dem Kind oder Jugendlichen und seinen Lehrpersonen das ausschlaggebende Moment, das eine positive Entwicklung möglich macht“ (S. 211), wie Vorgenannte erfahren hat. Da Kinder mit Behinderung auf diesem Feld oftmals unter Bedingungen der Isolation aufwachsen, ist „bei unseren Schülerinnen und Schülern […] diesbezüglich oft viel aufzuholen“ (S. 211).

Der kritische Blick auf die Integration, bzw. dass was wir heute Inklusion nennen, zeigt sich in der Aussage, dass „in vielen Fällen […] die heilpädagogische Schule eindeutig die richtige Bildungsinstitution“ (S. 61) ist. Für die Heilpädagogik ist, mit Bezug zu Alfred Adlers individualpsychologischer Sicht, die Bedeutung der Lebensgeschichte und die Beziehung des heilpädagogisch Praktizierenden zum Kind ein wesentliches Kriterium für die Integration.

Kritisch betrachtet wird von Eliane Perret die Digitalisierung des Unterrichts. Mit dem Blended Learning kann keine heilpädagogische Förderung durchgeführt werden. Hier haben wir es mit einem Rückgriff auf längst vergangene Zeiten zu tun. Gleiches trifft für das selbstregulierte Lernen zu. Mit Bezug auf Jürgen Oelkers wird auf die Methode der individual instruction, die 1904 von Frederic Lister Burk und Mary Ward entwickelt wurde, hingewiesen. „Selbstorganisiertes Lernen ohne Echo der Erwachsenen und oft auch ohne Korrekturen […] führt […] bei der Mehrzahl der Kinder zu wenig Erfolg“ (S. 125).

Die Autorin hebt das Labelling durch Diagnosen hervor. Diagnosen, wie ADHS oder ADS, „werden durch Fragebogen, Tests und Beobachtungen erhoben. Eine biologische Ursache kann bisher nicht nachgewiesen werden“ (S. 54). Die Diagnosen erfolgen rein subjektiv.

Weil es in der Heilpädagogik immer um den einzelnen Menschen geht, gibt es für Perret auch nicht ,das ADHS-Kind'. „Es gibt ähnliche beobachtbare Kriterien, die im einzelnen Fall vielleicht ganz unterschiedlich bedingt sind“ (S. 77). Erklärbar ist Alles aber nur über die Gesamtpersönlichkeit des Kindes.

In der ICF(Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) erkennt Perret die Verwendung eines biologistischen Wissenschaftsbegriffs. „Die Neurowissenschaften sind wichtiger geworden als die Psychologie und Pädagogik“ (S. 91). Und: „Die ICF basiert auf einem Wissenschaftsbegriff, der im Gegensatz zur Heilpädagogik steht, wie sie von Hanselmann, Moor, Kobi und anderen konzipiert wurde“ (S. 95).

Für Bonfranchi ist ein positives Lehrer-Schüler-Verhältnis das Wichtigste. „Ohne eine tragfähige Beziehung zu einer Lehrperson“ (S. 29) geht es nicht. In einer zahlenmäßig großen Klasse wird lernschwächeren Kindern eine stabile Bindung zu einer Vertrauenslehrperson erschwert. Die modernen Schulen sind beziehungsverhindernd und behindertenfeindlich. Der Autor steht aus diesem Grund der Integration sehr negativ gegenüber, denn „die an vielen Orten durchgeführte, durchgeboxte Integration von lernschwächeren Schülern und Schülerinnen in die Regelschule erhöht ihre Lernschwierigkeiten ungemein“ (S. 30). Mehr noch: Hinter dem Ganzen steckt eine gesellschaftliche Absicht, denn „Lernbehinderte und verhaltensauffällige Kinder sollen gar nicht ihren Bedürfnissen gemäß gefördert werden. Denn man hat sie schon aufgegeben“ (S. 30). Eine förderliche Lehrer-Schüler-Beziehung ist gegeben, wenn die lehrende Person authentisch, warmherzig und somit sympathisch ist.

Für Bonfranchi ist es ein großer Fehler, wenn Kinder mit Behinderung die allgemeine Schule besuchen. Hierfür hat er im 22. Kapitel 20 Thesen angeführt. Am Ende schreibt er: „Die heutige Integrations-, zugespitzt Inklusions’bewegung‘ trivialisiert und bagatellisiert die jeweilige Behinderung des Individuums. Sie muss als eine Form der Würdeverletzung dieser Personen angesehen werden“ (S. 166).

Auf die Coronapandemie blickend führt Riccardo Bonfranchi die nachteilige Wirkung des Homeschoolings auf. Dieses Werkzeug war bei geistig- und mehrfachbehinderten Kindern nicht durchführbar. „Hier fielen das Fordern und Fördern vollständig aus“ (S. 52). Später weist er darauf hin, „dass lernschwächere Schüler und Schülerinnen bei Sozialformen wie Wochenplan oder Atelier-Unterricht die geringsten Lernerfolge erzielen“ (S. 121).

Für Bonfranchi sind in der Heilpädagogik die naturwissenschaftlich orientierten Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität unbrauchbar. Sie erfassen nicht das, worum es in der Heilpädagogik geht. Es geht um die heilpädagogisch Arbeitenden, die von ihrer Persönlichkeit her dazu in der Lage sein müssen. Nach Lenzen, ein bereits verstorbener Professor für Heilpädagogik der Universität Köln, handelt es sich um eine Konviktion, d.h. dass „die Heilpädagogin ‚quasi-identisch und innig-gemeinsam‘ sich mit dem Kind in eine zeitlich begrenzte Begegnung einlassen kann“ (S. 75).

Diskussion

Bonfranchis und Perrets Kritik zur Integration – und letztlich zur Inklusion – imponiert mir, weil Derartiges in der scientific community erfahrungsgemäß nicht sanktionslos geäußert werden darf. Wenn Menschen mit einer Körperbehinderung, wie sie beim Rezensenten vorliegt, einem Inklusionsforscher gegenüber sagen, dass sie ohne Sonderbeschulung das Abitur, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht bestanden hätten, dann wird das mit Nichtachtung und Diskussionsunwürdigkeit bestraft. Aus Sicht der Inklusionsforschung ist hier etwas schiefgelaufen. Aus der Inklusionsforschung ist dieser Mensch mit Körperbehinderung so lange zu verbannen, bis sich die Sichtweise zur Inklusionsbefürwortung komplett gewandelt hat. Inklusionskritiker werden so mundtot gemacht, auch wenn sie als Betroffene aus eigener Erfahrung argumentieren.

Auf Seite 68 führt Bonfranchi aus, dass er nie verstanden hat, warum von den Ressourcen des Kindes auszugehen ist. Hierzu schreibt er: „Wir diagnostizieren ‚unsere‘ Kinder teilweise sinnvoll, sehr oft unsinnig und sollen dann von dem ausgehen, was sie eh schon können?“ Das ist ein interessanter Aspekt. Als Schüler der Jahrgangsstufe 12 der – damals so bezeichneten – Rheinischen Schule für Körperbehinderte (Sonderschule im Bildungsbereich der Sekundarstufe I und der gymnasialen Oberstufe,) in Köln (heute trägt sie den Namen Anna-Freud-Schule und führt in der gymnasialen Oberstufe die Inklusion in ihr System durch), habe ich einen Aufsatz zu Defizit- vs. Kompetenz-/​Ressourcenorientierung von Hans Grewel gelesen (1988). Für mich war damals klar, dass beim Menschen mit Behinderung die Kompetenzen im Vordergrund stehen. Hieran soll Letztgenannter wachsen. Bis zu einem gewissen Punkt mag das auch so gehen. Was aber ist, wenn die letzte Sprosse auf der Leiter erklommen ist. Rien ne va plus! Dann geht nichts mehr. Sollen wir dann wieder unten anfangen oder nicht doch besser an dem, was noch nicht gelingt, arbeiten?

Die letzte Frage, der sich Bonfranchi und Perret widmen, erscheint mir eine ganz wesentliche Frage zu sein: Werden Eltern durch die Behinderung ihrer Kinder auch behindert? Mit der Behinderung eines Sohns oder einer Tochter stellt sich, mit Eliane Perret gesprochen, für die gesamte Familie eine große Aufgabe. Bonfranchi spitzt das Ganze zu, indem er behauptet, dass die Geburt eines Kindes mit einer Behinderung „NICHT die Geburt eines Kindes, sondern eines Schicksals“ (S. 241) ist. Für ihn stellt sich die Frage, „ob die Familien, im Klartext eben oft die Mütter, durch die Schädigung, die ihr Kind erlitten hat, selbst auch behindert sind, […] nicht“ (S. 241 ff.), denn „sie sind es, und das sehr oft nicht wenig“ (ebd.). Diese Frage kann gegenwärtig auch nur positiv beantwortet werden. Selbst mit einer Behinderung lebend, die mit 12 Jahren nach einem schweren hirntraumatischen Ereignis erworben wurde, stellt z.B. die Antragsflut für sinnvolle therapeutische Maßnahmen oder Hilfsmittel eine nicht zu unterschätzende Behinderung dar, die von der unerfahrenen Sachbearbeitung dann negativ beschieden wird, was dann in Widerspruchs- und schließlich langwierigen Klageverfahren vor dem Sozialgericht mündet.

Das Buch befasst sich nacheinander mit wesentlichen heilpädagogischen Aspekten. Zur Sprache kommen Dinge, die in der Heilpädagogik sonst nicht angesprochen werden, vielleicht auch nicht angesprochen werden dürfen, weil sie den Themensteller ins heilpädagogische Abseitsdrängen. So dürfte die Frage nach Disziplin und Strafe in der gängigen heilpädagogischen Literatur nicht zu finden sein. Stellt sich die Frage nach Bestrafung oder Disziplinierung von Kindern mit Behinderung überhaupt? Ist hier nicht jegliches unerwünschte Verhalten im kindlichen Alter über die Behinderung erklärbar und erst im Erwachsenenalter, obwohl sich die Behinderung bis dahin vielleicht noch verstärkt hat, auf das Härteste zu sanktionieren?

Fazit

Es ist ein Vergnügen den beiden Protagonisten bei ihrem Gespräch zuzuhören. Es macht Spaß das Buch zu lesen. Man kommt, so die Erfahrung des Rezensenten, nicht so leicht davon los. Es eignet sich gut für die Diskussion in heilpädagogischen Seminaren.

Literatur

Grewel, Hans: Defizitäre Lebenserfahrungen als Herausforderung an eine religiöse Didaktik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 39(1988)433-442.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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ISSN 2190-9245