Meike Baader, Eva Breitenbach: Bildung, Erziehung und Wissen der Frauenbewegungen
Rezensiert von Prof. Dr. Christa Paulini, 20.09.2023

Meike Baader, Eva Breitenbach: Bildung, Erziehung und Wissen der Frauenbewegungen. Eine Bilanz. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 258 Seiten. ISBN 978-3-17-036322-9. 26,00 EUR.
Thema
Das Buch befasst sich mit der Frage, welche Impulse für Erziehung, Bildung, Sozialisation und Sorge von den beiden Frauenbewegungen ausgegangen sind, explizit oder als implizite Anregungen. Wie haben Erziehungswissenschaft und Pädagogik die Impulse aufgenommen und was ist in diesem Prozess aus ihnen geworden? Wie haben sich Inhalte und Intentionen verändert und was ist dabei verloren gegangen? Unter dieser Fragestellung werden in vierzehn Kapiteln pädagogische Themenfelder und pädagogisch-politische Praxen der Frauenbewegungen – der „ersten“ Ende des 19. Jahrhunderts und der „zweiten“ seit den 1970er Jahren – vorgestellt und diskutiert.
Autorinnen und Entstehungshintergrund
Meike Sophia Baader
Nach dem Studium der Germanistik und Erziehungswissenschaften in Heidelberg, promovierte sie 1994 zum Thema „Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit“ an der Universität Heidelberg. Anschließend habilitierte sie mit dem Thema „Transformationen des Religiösen. Religiöse Dimensionen von Reformpädagogik 1870-1950“ an der Universität Potsdam. Ihre wichtigsten Publikationen betreffen einerseits die Ideen zu Kinder und Kindheit, greifen aber auch die aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen wie beispielsweise der Protest der 1968-Generation die Pädagogik bewegte sowie die Thematik Erziehung, Bildung, Geschlecht und sexualisierte Gewalt auf. Sie ist seit April 2005 Professorin für „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ an der Universität Hildesheim. Ihre Tätigkeitsbereiche an der Universität Hildesheim sind vielfältig. Sie reichen von den Aufgaben als Vizepräsidentin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs (seit Mai 2017) über die Vorstandstätigkeit im Zentrum für Geschlechterforschung, Sprecherin des Kompetenzzentrums Frühe Kindheit Niedersachsen bis zum Vorsitz der Forschungskommission.
Eva Breitenbach
Nach und bereits während des Studiums der Diplompädagogin arbeitete Eva Breitenbach in einem autonomen Frauenhaus. Sie promovierte zum Thema „Mütter missbrauchter Mädchen.“ Die Promotion wurde durch ein Stipendium der Universität Osnabrück unterstützt. Anschließend folgte die Arbeit als Assistentin an der Uni Osnabrück im Bereich Allgemeine Pädagogik/​Frauenforschung bei Carol Hagemann-White. Sie habilitierte über „Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz“ Sowohl die Promotion als auch die Habilitation sind empirische Arbeiten. Nach einer Zeit von Vertretungen an unterschiedlichen Hochschulen war Eva Breitenbach von 2007 bis 2023 Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Elementarpädagogik an der Ev. Hochschule RWL in Bochum. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind
- Geschlechterforschung,
- Kindheits- und Jugendforschung und
- Rekonstruktive Sozialforschung.
Ihre Veröffentlichungen umfassen die Thematik Kitas als heilsame Orte, Pädagogische Arbeit mit traumatisierten Kindern, Männer in Kindestageseinrichtungen ebenso wie Veröffentlichungen zur rekonstruktiven Forschung (beispielsweise zur dokumentarischen Interpretation von biografischen Interviews und narrativen Episoden aus dem pädagogischen Alltag). Es finden sich aber ebenso Artikel zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der rekonstruktiven Forschung und Artikel zur Bedeutung von Mädchenfreundschaften allgemein.
Barbara Rendtorff
Barbara Rendtorff hat nach dem Studium der Pädagogik, Soziologie und Geschichte promoviert. Danach habilitierte sie sich an der Universität Osnabrück im Fach Allgemeine Pädagogik. Sie lehrte als Vertretungs- und Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten und war von 2008 bis 2018 Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Sie hatte gleichzeitig auch die wissenschaftliche Leitung des Zentrums für Geschlechterstudien/​Gender Studies inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind:
- Theorien von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen
- Tradierung von Geschlechterbildern im Kontext des Aufwachsens
- Geschlechteraspekte in pädagogischen Theorien und Institutionen
Derzeit lehrt sie als Seniorprofessorin an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Ihre Veröffentlichungen sind zahlreich. Die aufgeführten Monographien beschäftigen sich u.a. mit der Thematik Bildung, Erziehung, Wissen aber auch Bildung, Geschlecht, Gesellschaft, Erziehung und Bildung, Erziehung und Geschlecht, Gewalt, Sexualität – Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in der Erziehung und Bildung,
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich thematisch in drei Hauptkapitel: Einführung, pädagogische Themenfelder der Frauenbewegungen sowie politisch-pädagogische Praxen der Theoriebildung.
In der Einführung geben die Autorinnen den Leser*innen einen Überblick über ihren Ausgangspunkt, sie stellen den gewählten Zugang genauer dar, und gehen näher auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der ersten und zweiten Frauenbewegung ein. Sie möchten die Impulse der ersten und zweiten Frauenbewegung für Fragen von Bildung, Erziehung, Sozialisation und Sorge in ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzeigen“ (S. 13) und dies unter der Perspektive „die dem Begriff der Geschlechterverhältnisse“ folgt diskutieren (ebenda). Damit wollen sie hervorheben, dass die Geschlechterthematik in komplexen Relationalitäten zu sehen ist und die Kategorie Geschlecht immer in Beziehung zu anderen Differenzkategorien steht. Sie schreiben: „Damit schließen wir grundsätzlich an die Perspektive der Intersektionalität an, die die Kreuzungen von verschiedenen Differenzaspekten fokussiert.“ (S. 16).
Unter der Überschrift „Pädagogische Themenfelder der Frauenbewegungen“ werden thematisch acht Kapitel bearbeitet.
Im zweiten Kapitel greifen die Autorinnen die Thematik Bildung auf. Die Frauengruppen des Vormärz hatten sehr deutlich die Vision, dass eine bessere Bildung für Frauen die notwendige Grundlage für eine gesellschaftliche Teilhabe war. In den 1970er Jahren stellte sich die Ausgangssituation ganz anders dar, da vorherige Bildungsreformen (Picht/​Dahrendorf) Wege für Mädchen in höhere Bildungsinstitutionen bereits geebnet hatten. Trotzdem lag der Mädchenanteil in dieser Zeit bei ca. 22,5 % und „frauenbewegte“ Frauen kritisierten den „heimlichen Lehrplan“ der geschlechterbezogenen Inhalte.
Im dritten Kapitel werden die Begriffe Sozialisation und Erziehung geklärt und die Unterschiede zwischen ersten und zweiten Frauenbewegung aufgezeigt.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Mutterschaft, Mütterlichkeit und öffentliche Kleinkindererziehung. Die Autorinnen stellen fest, dass „Mutterschaft und Mütterlichkeit“ für beide Frauenbewegungen wichtige Themen waren. Sei es das Konzept „geistige Mütterlichkeit“ in der ersten Frauenbewegung oder in der zweiten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren die Kritik Frauen auf die Mutterschaft zu reduzieren.
Daran schließt sich das Kapitel über Mädchen und Mädchenarbeit an. Im Kontext der ersten Frauenbewegung wurden als Mädchen oft junge Frauen bezeichnet, die bereits an der Schwelle zum Erwachsenenleben standen. In der zweiten Frauenbewegung bedeutet Mädchenarbeit u.a. die Etablierung eines eigenständigen und unabhängigen Bereichs für Mädchen.
Das sechste Kapitel greift mit der Überschrift Alltagsarbeit – Hausarbeit – Sorge und sich sorgen u.a. die Verteilung von Sorgearbeit auf. Hier geht es um die Zuständigkeit von Frauen für Alltagsarbeit und Sorge für Kinder. Diese wurde von Vertreterinnen der ersten Frauenbewegung nicht in Frage gestellt. In der zweiten Frauenbewegung wurde intensiv die Themen Lohn für Hausarbeit, Hausfrauensyndrom und doppelte Vergesellschaftung diskutiert.
Auch bei der Thematisierung von Machtverhältnisse, Gewalt, sexuelle Gewalt gibt es Unterschiede. In der ersten Frauenbewegung wird das Geschlechterverhältnis überwiegend als strukturelles gesellschaftliches Machtverhältnis diskutiert. Gleichzeit gibt es Initiativen wie der von Helene Stöcker gegründete Bund für Mutterschutz, der für eine gleichberechtigte und freie Sexualität eintritt. In der zweiten Frauenbewegung wird in Anlehnung an Galtung der Gewaltbegriff erweitert. Die Gewalt im Geschlechterverhältnis einschließlich sexueller Gewalt (Vergewaltigung) gegen Frauen und Mädchen (sexueller Missbrauch) wird thematisiert wird und Frauen- und Mädchenhäuser werden als Schutzräume geschaffen.
Im achten Kapitel ist Sexualität Thema. Die erste Frauenbewegung wollten Sexualität selbstbestimmter zu machen, den Zwang zur Eheschließung zurückzuweisen und innerhalb der Ehe gleichberechtigte Verhältnisse schaffen. In der zweiten Frauenbewegung ist die Ausgangslage eine andere, da sich die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein von Frauen bereits einen Raum geschaffen haben.
Die nächsten sechs Kapitel sind unter der Überschrift Politisch-pädagogische Praxen und Theoriebildung eingeordnet.
Das neunte Kapitel beschäftigt sich mit Selbstbestimmung, Selbstermächtigung, Emanzipation und Bildung. Für die Autorinnen ist klar, dass Selbstermächtigung ein zentraler Aspekt von Bildung ist.
Das zehnte Kapitel greift die Thematik Selbsthilfe, Selbstorganisation und Solidarität auf. Die Autorinnen diskutieren die Begriffe Emanzipation, Selbstbestimmung und beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Bildung. Hierher gehören u.a. auch die Geschichte von Frauenbuchläden als Bildungsräume sowie die Rolle von Frauen-Bildungsprojekte.
Im elften Kapitel geht es Wertschätzung unter Frauen, die oft durch die sogenannte „symbolische Ordnung“ in Mitleidenschaft gezogen wird. Symbolische Ordnung bedeutet die Existenz v on Abwertungen und Ausschlüssen von Frauen.
Die Diskussion um Differenz und Differenzen wird im zwölften Kapitel bearbeitet. In der ersten Frauenbewegung wurden Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht grundlegend in Frage gestellt. In der zweiten Frauenbewegung war der Begriff der Differenz keineswegs beliebt. In den Veröffentlichungen wurden eher die Themen Geschlechterhierarchie, Geschlechterverhältnisse aufgegriffen.
Im dreizehnten Kapitel stehen Forschung, Wissensproduktion und Theoriebildung im Vordergrund
In der ersten Frauenbewegung gab es maßgebliche Theoriezeitschriften der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen. Eine wichtige Stelle der Wissensproduktion war die von Alice Salomon gegründete Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit die unter der Fragestellung „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ empirischen Untersuchungen durchführte. In der zweiten Frauenbewegung setzte die Frauenforschung in den 1970er Jahren ein. Es wurde heftig die Frage diskutiert: „wie und wo wäre Wissenschaft heute, wenn Frauen bis jetzt nicht von der Wissensproduktion ausgeschlossen gewesen wären“. Es folgt der Blick auf die Universität als Institution, auf die Institutionalisierung der Geschlechterforschung sowie das Verhältnis von Theoriebildung, Geschlechterforschung und Erziehungswissenschaft.
Abschließend geht es im vierzehnten Kapitel um Ambivalenzen und Aktualitäten. Ziel der Frauenbewegungen ist es Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entwickeln, um das Leben von Frauen selbstbestimmter und gerechter zu gestalten. Leider hat die Erziehungswissenschaft als Disziplin bisher zu oft „feministische Impulse oder Impulse aus dem Feminismus“ verschlissen, entschärft und in einer Weise abgeschwächt, das die Geschlechterdimension herausfällt oder marginalisiert wird.
Insgesamt besteht die Gefahr, dass älteres Wissen verloren geht. Auch gegen diese Verluste im kollektiven Gedächtnis wollten die Autorinnen mit diesem Buch ein Zeichen setzten, denn das Erreichte ist stets fragil d.h. die Errungenschaften müssen verteidigt werden.
Zielgruppen
Das Buch ist interessant für alle Bevölkerungsgruppen, denn es zeigt durch den Vergleich zwischen erster und zweiter Frauenbewegung ganz deutlich die Gemeinsamkeiten, aber auch die gesellschaftlichen Veränderungen. Meines Erachtens gehört es in jedes Bücherregal. Natürlich gilt meine Empfehlung ganz besonders für Studentinnen und Studenten egal welcher Fachrichtungen. Dozentinnen und Dozentin, Lehrerinnen und Lehrer sollten dieses Buch kennen, denn es vermittelt in einer sehr komprimierten Form Informationen zu den einzelnen Stichpunkten. Alle diese Berufsgruppen sind potentielle AnsprechpartnerInnen, die viel über die gesellschaftlichen Veränderungen angestoßen durch die erste und auch zweite Frauenbewegung der letzten einhundertfünfzig Jahre erfahren können und die dies auch wissen sollten. Das Buch bietet Ihnen die Möglichkeit stärker einzutauchen in die angestoßenen und noch mehr über weiterwirkenden Veränderungen hinsichtlich Frauen- und Männerrolle, Bildung, sexuelle Gewalt, Selbsthilfe etc. zu erfahren. Es ist zu wünschen, dass die Themen dieses Buches eine weite Verbreitung finden und sich diese nicht nur auf den akademischen Bereich beschränkt. Dieses Buch kann faktisch wie ein Nachschlagwerk behandelt werden, um sich nochmals über die letzten einhundertsechzig Jahre und deren Veränderungen angefangen von Bildung, Mutterschaft und alle im Buch angesprochenen Themen zu informieren.
Diskussion
Die Autorinnen zeigen u.a. im vierzehnten Kapitel die Gefahr auf, dass Wissen verloren gehen kann und die erreichten gesellschaftlichen Veränderungen sich als fragil erweisen und verschwinden bzw. ersetzt werden. In der deutschen Geschichte zeigt allein der Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, wie Regeln und Rollen im Vergleich zur Weimarer Zeit verändert wurden und wie Wissen und Errungenschaften gesellschaftlicher Veränderungen aus der ersten Frauenbewegung negiert und bekämpft wurden und so zum Verschwinden gebracht wurden. Eine Veröffentlichung, die wie das vorliegende Buch genauer auf die gesellschaftlichen Veränderungen eingeht, kann sich diesen Trend des Vergessens, entgegenstellen und zur Tradierung der Veränderungen beitragen.
Fazit
Es handelt sich um ein Buch, dass für viele Zielgruppen geeignet ist. Die Thematisierung der verschiedenen Fragestellungen in je einem Kapitel gibt den Leserinnen die Möglichkeit, sich auch gezielt nur mit einem oder zwei Themen auseinanderzusetzen. Die Option, sich mit den gesamten Themen auseinanderzusetzen, ist für jeden vorhanden und ich kann nur empfehlen, sie zu nutzen. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen wird erleichtert durch die Literaturangaben, die jedes Kapitel abschließen.
Rezension von
Prof. Dr. Christa Paulini
HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit
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