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Heinrich Greving: Standards zur Teilhabe von Menschen

Rezensiert von Tamara Glasl, 22.07.2022

Cover Heinrich Greving: Standards zur Teilhabe von Menschen ISBN 978-3-17-039520-6

Heinrich Greving: Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungs­bedarf. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2021. 121 Seiten. ISBN 978-3-17-039520-6. 32,00 EUR.
Reihe: Praxis Heilpädagogik.

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Thema

Das Buch „Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf“ widmet sich den Leitbegriffen der Teilhabe, der Selbstbestimmung, der Personenzentrierung und der Sozialraumorientierung. Dabei gehen die Autor*innen intensiv auf die Besonderheiten und Herausforderungen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ein. Das Buch gibt Praktiker*innen konkrete Hilfsmittel zur Hand und verbindet so die wissenschaftlichen Debatten mit den Herausforderungen der Praxis. Auch die wichtigsten rechtlichen Grundlagen werden thematisiert. Es handelt sich dabei um kurze und prägnante Einführungen in die wichtigsten Paragrafen. Auf insgesamt 121 Seiten wird ein sehr umfassendes Bild vom Leben mit komplexem Unterstützungsbedarf gezeichnet. Auf Basis des dadurch geschaffenen Verständnisses leiten die Autor*innen Standards ab, die Fachkräfte, Politik und Gesellschaft in die Verantwortung zur Schaffung und Weiterentwicklung von Teilhabe ziehen.

Herausgebende

Herausgegeben wurde das Buch vom DHG (Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft e.V.). Seit der Gründung 1991 setzt sich die Gesellschaft für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf ein. Die Standards des Buches wurden vom Vorstand der Gesellschaft erstellt. Hierfür gab es 13 Unterstützer*innen aus Wissenschaft und Praxis, die an den Standards mitwirkten. Alle Mitwirkenden haben in Ihrer beruflichen Tätigkeit oder ihren Lehraufträgen Berührungspunkte zu Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf. Das Buch begegnet einem sehr komplexen Thema mit einem hohen Spektrum an verschiedenen praktischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die verschiedenen Autor*innen bieten einen breiten Erfahrungsschatz aus vielen unterschiedlichen Lebensbereichen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und hohem Unterstützungsbedarf zusammentragen. Die fachlichen Hintergründe der einzelnen Beteiligten werden transparent kommuniziert.

Entstehungshintergrund

Das Buch basiert auf den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG). Im Vorwort beschreibt Prof. Dr. Iris Beck, dass durch das Inkrafttreten des BTHG erneut eine Reform-Dynamik entstanden ist. Vor diesem Hintergrund setzt das Buch seinen Fokus auf die Belange von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf.

Aufbau

Der Aufbau des Buches folgt einem sehr klaren System. Es beginnt mit einem Vorwort und einer Einleitung (Kapitel 1), die den Anlass und den Hintergrund des Buches verdeutlichen. Gefolgt von einer Diskussion der Leitbegriffe (Kapitel 2). Alle Leser*innen starten somit den Hauptteil mit demselben Verständnis von Teilhabe, Selbstbestimmung, Personenzentrierung und Sozialraumorientierung. Der Hauptteil (Kapitel 3 bis 7) widmet sich in jedem Kapitel einem konkreten Thema der Teilhabe und gibt am Ende des jeweiligen Kapitels Handlungsempfehlungen bzw. setzt Standards, an denen sich Praktiker*innen orientieren können. Dabei ist das Vorgehen immer dasselbe. Das jeweilige Kapitel beschreibt zunächst die fachlichen Herausforderungen, anschließend geht es auf rechtliche Aspekte ein und legt dann fachliche Standards fest. Das letzte Kapitel (Kapitel 8) befasst sich mit der Lebensqualität der Klient*innen als Zielperspektive. Hierbei wird der Schwerpunkt, der sich durch das ganze Buch zieht, die Belange von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf abschließend vertieft und die Erkenntnisse des Hauptteils (Kapitel 3 bis 7) zusammengetragen.

Inhalt

Das Vorwort von Pro. Dr. Iris Beck schafft bereits eine erste Basis zum Verständnis der folgenden Kapitel. Sie definiert ihre Auffassung von Standards und beschreibt, weshalb diese für die Arbeit mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf von großem Stellenwert sind.

Das erste Kapitel, die Einführung, bildet das Bindeglied zwischen dem Vorwort und der Diskussion der Begrifflichkeiten im zweiten Kapitel. Die Autor*innen legen hier die Zielsetzung und den Aufbau des Buches fest und beschreiben die Zielgruppe. Mit einem gemeinsamen Verständnis von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf starten die Leser*innen ins zweite Kapitel.

Hier werden die Leitbegriffe vorgestellt. Definiert und diskutiert werden die Begriffe Teilhabe, Selbstbestimmung, Personenzentrierung und Sozialraumorientierung.

Das dritte Kapitel „Teilhabe und Assistenz“ thematisiert die Beziehung zwischen Menschen mit Behinderung und den jeweiligen Assistent*innen. Das Kapitel betont wiederholt den Stellenwert von Kommunikation und Beziehungsgestaltung als Basis einer professionellen Zusammenarbeit. Sowohl persönliche Eignung als auch gute Qualifikation der Assistent*innen sind von entscheidender Rolle.

Das anschließende Kapitel „Teilhabe und Pflege“ beschreibt die Unterschiede zwischen Eingliederungshilfe und Pflege. Der Leser oder die Leserin erhält hier Einblick in das Zusammenspiel aus Leistungen der Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflegeversicherung. Ziel des Kapitels ist es, die Fachkraft zu befähigen ein individuelles und umfängliches Netz aus Leistungen für Klient*innen aufbauen zu können. Basis hierfür stellt das Bio-psycho-soziale Modell der WHO (ICF), dar. An diesem orientieren sich auch spätere Kapitel.

Das fünfte Kapitel „Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement“ befasst sich mit dem Gesamtplanverfahren und beschreibt die Rolle der Fachkraft und weiterer Unterstützer*innen in diesem Prozess. Im Zentrum der Planung steht die Person mit seinen und ihren Wünschen, Plänen und auch Schwierigkeiten.

Während die drei vorherigen Kapitel vor allem das Individuum betrachteten, nimmt das nächste Kapitel „Teilhabe im Sozialraum“ das Umfeld und die Gesellschaft in den Fokus. Die Autor*innen gehen dabei auf das SONI-Modell ein und legen einen Schwerpunkt auf das Ehrenamt als Brücke zwischen Menschen mit Unterstützungsbedarf und Sozialraum.

Das anschließende Kapitel „Teilhabe am Arbeitsleben“ beschreibt die aktuellen Strukturen, innerhalb derer Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten können bzw. innerhalb derer ihr Tag strukturiert wird. Der Text verknüpft Teilhabe am Arbeitsleben mit Recht auf lebenslanger Bildung.

Am Ende wird die „Zielperspektive Lebensqualität“ diskutiert. Hier wird das Konzept der Lebensqualität mit seinen Kerndimensionen vorgestellt. Die einzelnen Dimensionen erstrecken sich auf die unterschiedlichen Bereiche der Teilhabe und fassen so den vorweggegangen Hauptteil prägnant zusammen.

Diskussion

Das Buch basiert auf wissenschaftlichen und praktischen Wissensbeständen aus unterschiedlichsten Disziplinen und Professionen. Das breit aufgestellte Spektrum aus Erfahrungen und Erkenntnisse der Autor*innen zeigt sich im Buch deutlich und ist sicherlich der Hauptgrund für die gelungene Brücke zwischen wissenschaftlichem Diskurs und praktisch anwendbaren Handlungsempfehlungen. Auch die unterschiedlichen Professionen und Ausbildungsrichtungen der Beitragenden sind merklich ein Gewinn für das Buch. Die breite Aufstellung an Autor*innen wird der Komplexität des Themas gerecht.

Das Buch koppelt sich bei der Betrachtung von Beeinträchtigung von jeglichem Leistungsgedanken ab und schafft so auf sensible Weise Platz für einen Gewinn an Lebensqualität, der über die Belange von Menschen mit Behinderung hinausgeht.

Der Text zeigt ein tiefgreifendes Verständnis für Praktiker*innen. So kritisiert es das System und die politischen Vorgaben und betont die Hindernisse, die dadurch entstehen und deren Auswirkungen auf die Praxis (vgl. S. 26).

Es wird eine neue Perspektive geschaffen: Weg vom Wunsch der Unterstützer*innen, das Beste für ihre Klient*innen zu wollen und hin zum Wunsch und Wahlrecht der betroffenen Menschen selbst. Auch unter der Konsequenz, dass es für Außenstehende nicht die beste Entscheidung darstellt (vgl. S. 35).

Die Autor*innen finden Möglichkeiten zur gewinnbringenden Zusammenarbeit von gutausgebildeten und professionellen Fachkräften und engagierten ehrenamtlichen Mitarbeitenden und zeigen so, dass Ehrenamt und Ausbildung nicht in Konkurrenz stehen müssen, sondern zielstrebig gemeinsam arbeiten können. Es wird eine Welt der Unterstützung konstruiert, in der jeder seinen Platz hat und jede Fähigkeit seine Berechtigung.

Das Buch „Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf“ schafft ein tiefgreifendes Verständnis davon, was Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf brauchen (könnten), um ihr Recht auf Teilhabe in allen Bereichen wahrnehmen zu können. Dies erreicht es ohne erhobenen Zeigefinder, sondern mit konkreten Handlungsempfehlungen und Konzepten, die Fachkräfte realistischerweise anwenden können. Es schafft ein inneres Verständnis für Bedürfnisse und Wünsche und gibt Anregungen zum Wechsel der Perspektive. Das Buch ist kurzgehalten und begegnet einem solch komplexen Thema trotzdem mit dem nötigen Ausmaß an Inhalt. Es ist nicht nur für Praktiker*innen aus dem entsprechenden Arbeitsfeld lesenswert, sondern eignet sich auch für Studierende während ihrer Ausbildung. Wenn der geforderte Perspektivwechsel nicht nur innerhalb des Unterstützungssystems, sondern gesamtgesellschaftlich gelingen würde, wäre das ein Gewinn für alle Bürger*innen. Denn „Teilhabe heißt nicht, alles zu können, was die anderen können, sondern am Leben teilzunehmen. Dies ist immer Möglichkeit und nicht Pflicht“ (S. 99).

Fazit

Im Buch setzten sich die Autor*innen mit den vielen Facetten der Teilhabe von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf auseinander. Sie tun dies mit einem hohen Maß an Respekt und Verständnis für die Personen selbst, das private Umfeld, die Fachkräfte und die Gesellschaft. Entstanden ist ein sehr empfehlenswertes Buch, das über die Grenzen der Eingliederungshilfe hinausblickt.

Rezension von
Tamara Glasl
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Es gibt 9 Rezensionen von Tamara Glasl.

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ISSN 2190-9245