Thomas Piketty: Ökonomie der Ungleichheit
Rezensiert von Christopher Grobys, 06.09.2022

Thomas Piketty: Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung. Verlag C.H. Beck (München) 2020. 3. Auflage. 144 Seiten. ISBN 978-3-406-75001-4. 9,95 EUR.
Thema
Kernthema des Buches ist es, in die wirtschaftlichen Zusammenhänge des Phänomens der Ungleichheit einzuführen. Der Autor zeigt dabei nicht nur, wie diese Ungleichheit entsteht und wie sie empirisch erfassbar wird, sondern geht zugleich der Frage nach, wie durch Umverteilung eine gerechtere und effizientere Wirtschaft möglich sein könnte.
Zum Autor
Thomas Piktty ist Pariser Professor an der Pariser École d’Économie. Darüber hinaus ist er Autor des Weltbestsellers Das Kapital im 21. Jahrhundert (2016) und Kapital und Ideologie (2020).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst insgesamt vier Kapitel. Im ersten Kapitel geht Piketty der Frage nach, welches Ausmaß die ökonomische Ungleichheit hat und wie sich diese in der historischen Retrospektive entwickelte. Um dies zu beantworten, setzt er sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Gegenstand auseinander. Zu Beginn zeigt er, dass sich die Haushaltseinkommen aus verschiedenen Einkommensarten zusammensetzen (Löhne; Einkommen aus Selbstständigkeit; Renten; Transferleistungen und Vermögenseinkommen) und fundiert dies empirisch anhand der französischen Haushalte im Jahr 2000. Diese teilt dafür nach ihrem Einkommen in Dezile und Perzentile ein. Piketty will anhand dieser Eingruppierungen sichtbar machen, wie sich die einzelnen Haushaltseinkommen durchschnittlich zusammensetzen (vgl. S. 13). Anhand dieser Einteilung kann er für Frankreich im Jahr 2000 aufzeigen, dass die Lohneinkommen steigen, je größer das insgesamte Haushaltseinkommen der Niveaus ist. Während beispielsweise in D1 der Lohn durchschnittlich nur 18 Prozent des Haushaltseinkommens betrage und wiederum 80 Prozent aus Sozialtransfers bestehe, steigt der Anteil der Löhne bis kurz vor dem reichsten 5 Prozent der Haushaltseinkommen an, um anschließend wieder gering zu fallen (vgl. S. 13 f.).
Anschließend entschlüsselt Piketty wie die Löhne und Gehälter in den einzelnen Dezilen verteilt sind. Dazu beschreibt er die Lohnungleichheit von Vollbeschäftigten im Jahr 2000 in Frankreich. Methodisch nutzt er hierfür das sogenannte Interdezilverhältnis P90/P10 „[…] das heißt das Verhältnis der Untergrenze des zehnten Dezils zur Obergrenze des ersten Dezils“ (S. 15). Piketty präferiert dieses Instrument im Gegensatz zu beispielsweise dem Gini-Koeffzienten und die Theil- und Atkinson-Indizes, weil es einfacher und anschaulicher sei und für verschiedene Länder relativ verlässliche Zahlen verfügbar seien (vgl. S. 16). Er stellt als Ergebnis dieser Analyse fest:
„Die bestbezahlten 10 % in Frankreich verdienen durchschnittlich 4,5-mal mehr als die am schlechtesten bezahlten 10 %“ (S. 15).
Daran geht Piketty der Frage nach, in welchem Verhältnis die Lohnungleichheit zur Ungleichheit der Haushaltseinkommen steht? Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Ungleichheit der Haushaltseinkommen größer sei als die Lohnungleichheit (vgl. S. 17). Dies führt er auf verschiedene Faktoren zurück (wie zum Beispiel das Einkommen aus selbstständiger Arbeit und vor allem daraus, dass Vermögen ungleicher verteilt sind als die Löhne).
„Aber der Hauptgrund, aus dem Einkommensungleichheit stets deutlich größer als Lohnungleichheit zu sein scheint, ist ein ganz anderer: Die meisten Haushalte mit niedrigem Einkommen leben von kleinere Altersrenten und bestehen häufig nur aus einer Person, während Haushalte mit hohem Einkommen im allgemeinen Paare sind, häufig mit zwei Gehältern und Kindern“ (S. 18), hebt Piketty deutlich hervor.
Im Anschluss untersucht Piketty Ungleichheiten im historischen und geografischen Vergleich und kommt zu folgendem Ergebnis: die Ungleichheit in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts sei ungefähr zwei- bis drei-mal geringer gewesen als Ende des 20. Jahrhunderts. Außerdem habe sich die Ungleichheit zwischen armen und reichen Ländern ähnlich entwickelt, wodurch beide Formen der Ungleichheit miteinander in Beziehung gesetzt werden können (vgl. S. 22). Zum Abschluss des ersten Kapitels vergleicht Piketty noch theoretische Positionen mit aktuellen empirischen Ergebnissen. Er bezieht sich dabei größtenteils auf die sogenannte Kuznet-Kurve. Diese ging davon aus, dass sich Einkommens- und Lohnungleichheit überall mit dem Fortschreiten der kapitalistischen Entwicklung in einer umgekehrten U-Kurve darstelle (vgl. S. 23). Piketty wendet sich gegen diese ökonomische Gesetzmäßigkeit und führt die Zäsuren der beiden Weltkriege und die Fiskalrevolution ab 1914 ins Feld, wodurch eine Konzentration der Vermögen und der Kapitaleinkommen wie auf dem Vorkriegsniveau nicht wieder realisiert werden konnten (vgl. S. 24). Die Kuznet-Kurve sei daher nicht das Ende der Geschichte und eine ökonomische Gesetzmäßigkeit, sondern das Resultat einer bestimmten und umkehrbaren geschichtlichen Entwicklung (vgl. S. 25). Gegen ihre Annahme spreche nach ihm auch die empirische Tatsache, dass sich ab den 1970ern feststellen ließe, dass die Ungleichheit wieder anfing weiter zu wachsen. Hierbei stellt Piketty außerdem fest, dass in den Ländern, wo die Einkommensungleichheit gewachsen sei, auch die Lohnungleichheit zugenommen habe.
Piketty verweist, wenn auch mit Vorsicht, auf die Kausalitäten zwischen steigenden Lohnungleichheiten und steigenden Einkommensungleichheiten sowie die entscheidenden Rolle der Fiskal- und Sozialpolitik. Letztere spiele eine maßgebliche Rolle, um beispielsweise wachsende Lohnungleichheit mit weniger wachsenden Einkommensungleichheit zu erklären (siehe Kanada und USA im Vergleich) (vgl. S. 27 f.). Zu guter Letzt macht Piketty auf einen weiteren relevanten Aspekt in puncto Ungleichheit deutlich: Er konstatiert, dass es eine falsche Annahme sei, die Entwicklung der Ungleichheit in einem Land umfassend damit beschreiben zu wollen, dass die Einkommens- und Lohnunterschiede zwischen den reichsten und ärmsten 10 Prozent sich kaum verändert hätten. Er führt hierfür die Relevanz der Sozialtransfers ins Feld und macht deutlich, dass sich ohne diesen die Einkommensungleichheit weitaus differenzierter entwickelt hätte (vgl. S. 28).
Im zweiten Kapitel widmet sich Piketty der aktuellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit sowie ihrer historischen Genese. Dabei beschäftigt ihn auch die Frage, was mögliche Umverteilungsinstrumente sein könnten, um dieser Ungleichheit entgegenzuwirken? Zu Beginn des Kapitels zeigt er, wie man die Anteile vom Gesamteinkommen der Unternehmen ermitteln kann, die sich in Kapital- und Arbeitseinkommen aufteilen (vgl. 32 ff.). Dafür befasst er sich mit der Substituierbarkeit (Ersetzbarkeit) von Kapital und Arbeit und legt dar, dass die beiden Pole (Kapital und Arbeit) einander in gewissen Grenzen (und unter Berücksichtigung der Preise) ersetzbar (substituierbar) sein können. Damit verbunden wäre unweigerlich die Frage nach der möglichen Um – und Verteilung beider Positionen. Daran anknüpfend begründet Piketty ausführlich, welche Vorteile eine fiskalische Umverteilung vor einer direkten hätte (vgl. 36 ff.). Sein Hauptargument ist dabei, dass die Forderung nach einer direkten Erhöhungen der Löhne, zur Folge haben könne, dass Unternehmen in der Produktion weniger Arbeit und mehr Kapital einsetzen könnten, was sich wiederum negativ für die Beschäftigten auswirke (S. 36.). Stattdessen schlägt Piketty folgendes vor:
„Entscheidend ist nun, dass dies bei der fiskalischen Umverteilung nicht der Fall wäre. Hätte man die Unternehmensgewinne oder die von den Unternehmen an die kapitalistischen Haushalte ausgeschütteten Kapitaleinkünfte besteuert, hätte sich durch Fiskaltransfers oder Steuersenkungen für jeden Arbeiter die gleiche Umverteilung wie durch die Lohnerhöhungen finanzieren lassen. Zugleich wäre aber der von den Unternehmen gezahlte Preis für Arbeit nicht gestiegen und damit jene Substitution von Arbeit durch Kapital mit ihren verheerenden Folgen für die Arbeit vermieden worden“ (S. 37).
Diese Präferenz der fiskalischen Umverteilung macht Piketty jedoch gleichzeitig noch abhängig von anderen Faktoren wie der Substituierungselastizität zwischen Kapital und Arbeit sowie der Elastizität des Kapitalangebots. Aus diesem Grund lehnt er auch nicht per se eine direkte Umverteilung ab, sondern plädiert stattdessen für eine konkrete Analyse des sozioökonomischen Kontextes um die passenden Umverteilungsinstrumente effektiv wählen zu können (vgl. S. 39 ff.).
Im Anschluss betrachtet Piketty konkreter, wie sich die Wertschöpfung der Unternehmen zwischen Kapital und Arbeit in Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten gestalten. Er stellt fest, dass diese über einen Zeitraum von 70 Jahren (1920 bis 1995) grundsätzlich konstant geblieben seien. Und zwar, teile sich die Wertschöpfung aller dieser Nationen in einem Gewinn-Lohn-Verhältnis von 1-zu-3. Aus dieser 1/3-2/3-Aufteilung zieht Piketty zwei Lehren (vgl. S. 52 ff.).
- Die erste lautet, „[…] dass der Ursprung des beträchtlichen Kaufkraftanstiegs seitens der Arbeitnehmer im 20. Jahrhundert nicht in der Kapital-Arbeits-Aufteilung liegt“ (S. 52).
- Die zweite Lehre, die Piketty resümiert ist, dass die „[…] Sozialabgaben nicht aus Kapitaleinkommen gezahlt werden“ (S. 54). Dies sei deshalb eine fundamentale Einsicht, weil dadurch die Idee das Arbeiter:innen und Kapitalist:innen gemeinsam für die Sozialausgaben aufkommen, ad absurdum geführt sei. Stattdessen läge der mehr als überwiegende Teil bei den Arbeitseinkommen.
Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Piketty des Weiteren mit der Dynamik der Kapitalverteilung und verlässt dafür die makroökonomische Analyse, um die individuelle Einkommensverteilung genauer unter die Lupe zu nehmen. Zuerst befasst er sich dafür mit der Theorie des vollkommenen Kreditmarktes und der damit verbundenen Konvergenzthese. Letztere besagt, dass Sparer:innen und Anlageberater:innen um die profitabelsten Investitionen in Unternehmen konkurrieren, die eine möglichst hohe Rendite in Aussicht stellen.
„In einem vollkommenen Kreditmarkt müsste die anfängliche Ungleichverteilung des Kapitals sich schließlich auflösen, weil in ihm Kapital investiert würde, wann immer sich eine gewinnversprechende Investitionsmöglichkeit auftut“ (S. 64.).
Dadurch hätte das ungleiche Startkapital auf Dauer keinen Bestand und es würde zu einer langfristigen Konvergenz kommen. Empirisch zeigt Piketty, dass dieser vollkommene Kreditmarkt so nicht existiere. Dies hänge auch mit anderen Faktoren wie dem Anfangsbestand an Humankapital und die Integration der Nation in den globalen Markt zusammen (vgl. S. 66 ff.). Er betrachtet den Kapitalmarkt stattdessen als hochgradig unvollkommen und verortet diese Schwäche in seiner Marktsteuerung. Kredite würden nämlich nur bei einer hohen Wahrscheinlichkeit des Rückflusses und einer finanziellen Absicherungen beim Scheitern ermöglicht werden. Dieses angeblich effiziente Prinzip der Allokation auch für die Gesellschaft sei hochgradig ineffizient. „Das Gesamteinkommen ließe sich erhöhen, würde Kapital so umverteilt, dass alle rentablen Investitionen auch getätigt werden können“ (S. 70). Aus diesem Grund plädiert Piketty nicht nur aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit für Umverteilungsmaßnahmen, sondern auch aus welchen der ökonomischer Effizienz. Zum Abschluss des Kapitels verweist er noch darauf, dass die klassische linke Forderung nach der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln diese Herausforderungen nicht einfach lösen könne aufgrund einer fehlenden Alternative des preisvermitteltenden Anreiz- und Allokationsmechanismus. Im Kontrast dazu zeigt Piketty beispielhaft wie eine fiskalische Umverteilung solche notwendigen Investitionen ermöglichen könnte. Abschließend schlägt der Autor eine flat tax auf Kapital vor, um der Kapitalkonzentration entgegenzuwirken. „Eine solche Steuer müsste in einem möglichst umfassenden geografischen Maßstab auf alle Kapitaleinkünfte angewandt werden, um den negativen Auswirkungen des Steuerwettbewerbs zu begegnen“ (S. 75), konstatiert Piketty.
Mit dem weitverbreiteten Argument, dass sich in den kapitaldominierten Gesellschaften lediglich eine ökonomisch-vermittelte Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit beständig reproduziere und dem gegenüber ein Block relativ homogener Arbeitseinkommen stehe, widerlegt Piketty im dritten Kapitel. Er zeigt darin zum Einen, wie es zur Ungleichheit der Arbeitseinkommen komme und diskutiert wieder die Umverteilungsinstrumente, welche zur Aufhebung dieser Ungleichheit beitragen könnten. Um die Ursachen für die bestehende Ungleichheit der Arbeitseinkommen zu erklären, setzt er sich intensiv mit der Theorie des Humankapitals auseinander. Zuerst nimmt er dafür an, dass die Verteilung des Humankapitals als gegeben und unveränderlich sei und geht denn beiden Kernfragen des Kapitels theoretisch und empirisch nach (vgl. S 75 ff.). Piketty kommt zu dem Ergebnis, dass mit der Theorie des Humankapitals zwar in einem nicht zu unterschätzenden Umfang die Ungleichheit der Arbeitseinkommen erklärt werden könne, jedoch für eine umfassende Begründung nicht ausreiche (vgl. S. 84). Anschließend diskutiert er, was es für die Umverteilungsinstrumente bedeuten müsste, wenn diese Ungleichheit aus der ungleichen Verteilung von Humankapital resultieren würde und man nicht in der Lage wäre, diese ursprüngliche Verteilung ursächlich zu verändern. Auch hierbei versucht Piketty zu zeigen, dass die fiskalische Umverteilung der direkten in vielen Fällen überlegen wäre, da „[…] sie anders als die direkte Umverteilung erlaubt, den vom Unternehmen gezahlten und den vom Arbeitnehmer erhaltenden Preis zu entkopplen“ (S. 86). Dies belegt er anschließend empirisch. Piketty stellt jedoch gleichzeitig fest, dass die fiskalische Umverteilung, nichts an den Ursachen der Ungleichverteilung von Humankapital hätten. „Die zentrale Frage lautet daher, wie die Ungleichheit von Humankapital entsteht und wie es sich umverteilen lässt“ (S. 89). Hierbei räumt er zu Beginn mit verschiedenen liberalen Argumenten der Humankapitaltheoretiker:innen auf und erklärt anhand – unter anderem auch soziologischer – Erkenntnisse nachvollziehbar, dass verschiedene soziale und ökonomische Aspekte Einfluss auf die ungleiche Verteilung von Humankapital haben. Zum Abschluss des dritten Kapitels setzt sich Piketty genau mit diesen weiteren Ursachen von Lohnungleichheit auseinander und bewertet diese im Hinblick auf mögliche Umverteilungen. Hierfür nimmt er auch das gewerkschaftliche Instrument der direkten Umverteilung in den Blick und attestiert auch diesem ein Effizienzdefizit.
„Wie wir gesehen haben, ist jede Umverteilung durch Beeinflussung der Preise für Arbeit und Humankapital ineffizient, sobald es auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Substitutionsmöglichkeiten zwischen Kapital und Arbeit und zwischen verschiedenen Arten von Arbeit gibt“ (S. 102).
Jedoch ist Piketty nicht grundsätzlich gegen die Praxis der Gewerkschaften. Er erkennt ihre essentielle Funktion in kapitaldominierten Gesellschaften und die direkte Umverteilung als ihr Umverteilungsinstrument an, gerade wenn eine fiskalische Umverteilung nicht ausreichend politisch induziert werde (S. 104). Er diskutiert außerdem in diesem Kapitel, unter welchen Bedingungen ein gesetzlicher Mindestlohn ein sinnvolles politisches Werkzeug sein könne (vgl. S. 106 ff.), die Theorie des Effizienzlohns, welche Rolle die Vorstellung von gerechten Löhnen spielen (vgl. S. 110 f.) sowie weitere Faktoren, welche Lohnungleichheiten erklären können (S. 111 ff.).
Im vierten und letzten Kapitel des Buches führt Piketty eine analytische Vertiefung der bisher angeschnittenen Umverteilungsinstrumente durch. Konkret umfassen diese die reine und die effiziente Umverteilung. Er beginnt mit der fiskalischen Umverteilung von Arbeitseinkommen als eine Form einer Reinen. Hierfür befasst sich Piketty zuerst mit der Frage, wie sich die Umverteilung der heutigen Staaten messen ließe und kommt zu dem Resultat, dass sich dafür der effektive Durchschnittsabgabensatz und der effektive Grenzabgabensatz eigne (vgl. S 114 ff.). Nach der Bewertung aktueller empirischen Daten dieser Parameter stellt er folgendes fest:
„Das gegenwärtige Verfahren führt zu keiner signifikanten monetären Umverteilung zwischen Erwerbstätigen. Ihre Besteuerung ist insgesamt proportional, und die Transfers sind insgesamt geringfügig, sodass die Einkommensunterschiede zwischen verfügbaren Einkommen von Erwerbstätigen sehr nah an den Unterschieden zwischen den Löhnen liegen, die von den Unternehmen gezahlt werden“ (S. 17 f.).
Darüber hinaus stellt Piketty bei der Bewertung der effektiven Grenzabgabensätze fest, dass sich aus den empirischen Daten eine U-Kurve ergebe, wonach die höchsten und die niedrigsten Einkommen die höchsten Grenzabgabensätze in Prozent zahlen. „Tatsächlich sind es die niedrigsten Löhne, die von den höchsten effektiven Grenzabgabensätzen belastet werden“ (S. 119), konstatiert er. Diese empirische fundierte U-Kurve sei nach Piketty ein Hauptcharakteristikum aktueller fiskalischer Umverteilung. Nachdem er sich in einem nächsten Schritt mit dem Argument einer vermeintlichen Anreizminderung von Leistungen durch hohe Steuerabgaben auseinandersetzt und feststellt, dass eine Verminderung durch Umverteilung eher die niedrigen anstatt die hohen Einkommensniveaus belaste (vgl. S. 120 ff.), plädiert Piketty dafür die Abgaben für die unteren Einkommensniveaus zu senken und auf die hohen und mittleren Einkommen umzulagern. Er schlussfolgert: „[…] so könnte man einen umfänglichen Transfer zugunsten derer finanzieren, die keine Arbeit finden. Das würde die Lage der am stärksten Benachteiligten verbessern und in diesem Sinne die Umverteilung gerechter machen“ (S. 124).
Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept des Bürgergelds und der Feststellung, dass die gleichen Effekte auch mit den bestehenden Steuerinstrumenten realisiert werden könnten, kommt Piketty zum Gegenstand der effizienten Umverteilung. Diese Form der Umverteilung umfasse nach ihm beispielsweise Ausbildungsprogramme und Bildungspolitik, Sozialversicherungen und keynesianische Nachfragepolitik (vgl. S. 129). Erstere beiden Aspekte vernachlässigt er in diesem letzten Abschnitt aufgrund der Thematisierung in Kapitel 2 und 3. Der Fokus liegt deshalb auf einer kritischen Analyse den Sozialversicherungen und der keynianischen Nachfragepolitik in puncto Umverteilung. Hier resümiert er, dass beides relevante Teilaspekte für eine gerechtere Wirtschaft beinhalten könnte, jedoch ausschließlich für sich genommen, verschiedene Defizite aufwiesen.
Diskussion
Pikettys Plädoyer über Umverteilungsmaßnahmen die ökonomisch-vermittelte Ungleichheit aufzuheben – oder besser zu verringern – stellt aufgrund der damit verbundenen globalen Problemlagen fast schon eine notwendige Kampfschrift für alle dar, die sich mit Gegenstand einerseits empirisch fundiert auseinandersetzen möchten und andererseits, nach Fluchtpunkten suchen, wie man dieser Entwicklung nachhaltig entgegenwirken kann. Seine dezidierte Auseinandersetzungen mit verschiedenen Umverteilungsmechanismen und deren Anwendungskontext ist in der Einführung sinnvoll verargumentiert und räumt sowohl mit liberalen Mythen auf als auch, und das muss kritisiert werden, mit klassischen linken Forderungen. Piketty bewegt sich in seiner Darstellung mit beiden Füßen feststehend auf dem Boden der Neoklassik stehend. Die Kapitaldominanz und das Privateigentum an Produktionsmitteln wird von ihm grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Das hat positive als auch negative Effekte bei der Lektüre. Ein wesentlichen Vorteil dieser Vorgehensweise ist es, in der Analyse und dem Ausblick nicht den Realitätsbezug zu verlieren und sich mit Forderungen einer derzeit nicht greifbaren grundsätzlichen Transformation der Produktionweise zufrieden zu geben. Die Ungleichheit am Eigentum an den Produktionsmitteln bleibt in diesem Buch von Piketty leider unberührt. Zugleich begrenzt dieser Fokus auch mögliche weitreichende Forderungen, welche in der aktuellen Phase einer anhaltenden vom Klimawandel induzierten Transformation nötiger den je wären (vgl. Dörre 2021: 88 ff.). Pikettys Forderungen nach einer modifizierten fiskalischen Umverteilung beinhalten zwar wichtige aktuelle Forderungen, die gerade in einer historischen Phase eines neuen Staatsinterventionsmus an Bedeutung gewinnen (vgl. Solty 2020). Zugleich wirkt seine argumentative Darstellung wie eine Fetischisierung der fiskalischen Umverteilung als Allheilmittel für die problematischen Funktionslogiken der Kapitaldominanz.
Daran anknüpfend wirkt seine Bewertung von sozialen Auseinandersetzungen um das gesellschaftliche Mehrprodukt fast schon nebensächlich und klassenblind. Zwar unterstreicht er bei Fragen der Umverteilung die Klassenpositionen der Subjekte, gleichzeitig geringschätzt er jedoch nahezu klassenpolitische Organisationen wie die Gewerkschaften und ihrem Instrument der direkten Umverteilung. Unklar bleibt bei seinem Kernargument für die Überlegenheit der fiskalischen gegenüber der direkten Umverteilung auch, warum die Unternehmen bei einer Mehrbelastung ihrer Gewinne und ihrer ausgeschütteten Einkommen durch Steuern, nicht trotzdem diese Mehrausgaben durch eine Substituierung von Arbeit zu Kapitel komprimieren sollten? Zwar behauptet Piketty, dass durch die fiskalische Umverteilung der Preis der Arbeit der Selbe bliebe und damit der Allokationsmechanismus bei der Nachfrage der Arbeit sich nicht verändere (vgl. S. 37), jedoch ist auch hierbei ein Ersetzen der „verlorenen“ Einkommen oder Gewinne durch die Substitution der Arbeitskraft ein denkbares Szenario, um die selben Profite zu generieren. Vielleicht liegt diese Leerstelle auch daran, dass, wie auch in anderen Werken Pikettys, die Kategorie des Profits und seine Realisierung als Triebkraft kapitalidominierter Gesellschaften nicht zu seinem konzeptionellen Fundus gehören (vgl. Goldberg 2019). Es wundert daher auch nicht, dass er die Macht der Akteure (Gewerkschaften; Arbeitgeberverbände etc.) nur fast schon eine nebensächliche Rolle einnehmen und der Mechanismus von Angebot und Nachfrage, ganz im neoklassischen Sinne, als Treiber der Ökonomie bestimmt wird. Den einzigen Akteur den er dabei noch direkt mit einbezieht ist der Staat.
Es ist schade, dass die im aktuellen Diskurs um Ungleichheit wieder populäre Frage nach der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln (vgl. Nuss 2020: 214 ff.) eine solch marginale Position in seinem Buch einnimmt. Pikettys Argument für den Markt und das Preissystem kreisen um die effiziente Allokationsfunktion. Dabei existieren verschiedene hochaktuelle Perspektiven die von einer Aktualisierung von demokratisch-planwirtschaftlicher Modellen bis zu einer Kombination von Plan- und Marktwirtschaft mit verschiedenen Gewichtungen reichen (vgl. Fraser 2020, vgl. Dörre 2021: 178 ff.). Der Verweis auf das allgemeine Scheitern der Planwirtschaft seitens Piketty (vgl. S. 45 f.) wirkt daher tautologisch und entspricht leider nicht den aktuellen wissenschaftlichen Diskursen.
Zugleich bleibt er nicht bei ausschließlich realpolitischen Forderungen stehen. Seine Forderung nach einer flat tax (vgl. S. 75) zeigt stattdessen einen Ausblick mit realpolitischen Gehalt und doch scheint deren Umsetzung nicht in greifbarer Nähe. Eine Kombination von realpolitischen Schritten und einer nachhaltigen Veränderung der Eigentumsverhältnisse wären an dieser Stelle aus der Perspektive des Verfassers der vorliegenden Rezension wünschenswerter gewesen. Zu guter Letzt muss ebenfalls kritisch angemerkt werden, dass der Einbezug der gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels in Pikettys Buch eine völlige Leerstelle darstellen. Es ist begrüßenswert und wichtig, dass er auch andere soziale Phänomene, wie zum Beispiel Diskriminierung in seine Analyse mit einfließen lässt, ein Kernproblem der globalen Gesellschaft bleibt jedoch der Klimawandel, welcher ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die attestierte Ungleichheit hat (vgl. Wissen 2022: 225). Eine reine Betrachtung des Gegenstands der Ungleichheit muss, wie Piketty zeigt, nicht mit den Wachstumgsparadigma der kapitaldominierten Wirtschaftsverhältnisse brechen. Bindet man nun allerdings noch die Klimakrise aktiv in diese Analyse mit ein, so wird der ökonomische Modus Operandi des Wachstums zur globalen Herausforderung. Fragen der Ungleichheit müssen deshalb zwangsläufig, will man nachhaltige soziale und ökologische Perspektiven formulieren, beides – Klimakrise und soziale Ungleichheit – zusammen denken (vgl. Dörre 2021: 72 ff.). Eine solchen Leistung erfüllt die Einführung von Piketty jedoch leider nicht.
Fazit
Die kleine Einführung von Piketty ist, trotz seiner neoklassischen Einflugschneise insgesamt eine interessante und lesenswerte Lektüre. Gerade auch für jene, die sich noch nicht tiefergehender mit wirtschaftstheoretischen Debatten, Konzepten und Forschungsständen befasst haben. Dass ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass Piketty es schafft, einen so komplexen Gegenstand einer Leser:innenschaft, in einem solch kleinen Buch verständlich aufzuarbeiten. Daher bietet sich das Buch auch als Grundlagenwerk für den Einstieg in solche Fahrwässer an.
Wie schon in der Diskussion deutlich hervorgehoben, ist es schade, dass Piketty argumentativ ausschließlich auf dem Terrain einer marktvermittelten Wirtschaftsweise von unabhängig voneinander produzierenden Privatarbeiten verharrt und dabei weitreichendere Transformationsperspektiven kategorisch ausschließt. Nichtsdestotrotz deutet er auch in dieser Einführung verschiedene wichtige Richtungen an, die für realpolitische Reformen in der Gegenwart von Bedeutung sein können, wie zum Beispiel die flat tax oder sein Plädoyer für eine fiskalische Umverteilung. Dieser Ausblick muss ebenfalls epistemologisch gewürdigt werden, denn Piketty verbleibt damit in seinem Buch nicht nur bei strikten Seins-Aussagen, sondern zeigt eindrucksvoll, wie eine soziale und gerechtere Wirtschaft ansatzweise möglich wäre. Damit steht die Lektüre im weitesten Sinne auf den erkenntnistheoretischen Schultern einer kritischen Theorie, die es sich nicht nur zum Anspruch macht Soziales zu erklären, sondern auch zu verändern.
Literatur
Dörre, K. (2021): Die Utopie des Sozialismus. Kompass einer Nachhaltigkeitsrevolution. Berlin: Matthes & Seitz.
Fraser, N. (2020): Was heißt Sozialismus im 21. Jahrhundert? online verfügbar https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/​was-heisst-sozialismus-im-21-jahrhundert/; zuletzt aufgerufen a 13.08.2022., J.
Goldberg, J. (2019): Umverteilen reicht nicht. online verfügbar https://www.jungewelt.de/artikel/​368391.%C3 %B6konomie-umverteilen-reicht-nicht.html; zuletzt aufgerufen am 14.08.2022.
Nuss, S. (2020): “Geld oder Leben. Corona und die Verwundbarkeit der Eigentumslosen. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Jg. 50. H(2). S. 201–218.
Solty, I. (2020): Die Chancen der Corona-Krise. online verfügbar https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/​die-chancen-der-corona-krise/; zuletzt aufgerufen am 14.08.2022
Wissen, M. (2022): Systemische Externalitäten. Über die sozial-ökologischen Kosten der kapitalistischen Produktionsweise. In: Bruschi, V./Zeller, M. (Hrsg.): Das Klima des Kapitals. Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Ökonomiekritik. Berlin: Karl Dietz Verlag. S. 214–228.
Rezension von
Christopher Grobys
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Zitiervorschlag
Christopher Grobys. Rezension vom 06.09.2022 zu:
Thomas Piketty: Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung. Verlag C.H. Beck
(München) 2020. 3. Auflage.
ISBN 978-3-406-75001-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/28436.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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